2 Evidenzbasierte oder personbezogene Depressionsbehandlung – eine komplementäre Gegenüberstellung
Die heutige Psychiatrie und Psychotherapie sind darum bemüht, mit Gruppenvergleichen die Wirkung einer bestimmten therapeutischen Maßnahme zu überprüfen. Das ist im Falle der Pharmakotherapie methodisch insofern relativ einfach möglich, als ein Wirkstoff (Verum-Präparat) gegen ein Scheinpräparat (Placebo) oder gegen einen anderen Wirkstoff unter Verblindung des Patienten wie des Arztes, also doppelblind, verabreicht werden kann. Solche kontrollierten, doppelblinden Versuchsanordnungen sind bei psychotherapeutischen Vergleichsstudien nicht möglich. Hier wissen Patient und Arzt immer, welche Intervention zur Anwendung kommt. Infolgedessen wurde von pharmakotherapeutischer Seite manchmal argumentiert, dass Psychotherapien nicht in gleicher Weise mit Pharmakotherapien verglichen werden könnten, wie es möglich sei, eine medikamentöse Behandlung gegen eine andere doppelblind zu vergleichen.
Dem ist allerdings beizufügen, dass aufgrund von Nebenwirkungen und anderer Auswirkungen eines Medikaments die doppelte Verblindung von Patient und Arzt auch bei Medikamentenstudien nicht immer gegeben ist. So erhöht sich der Placeboeffekt, wenn sogenannte „aktive Placebos“ verwendet werden, die mit einem Nebenwirkungen erzeugenden Stoff wie Atropin angereichert sind. Ein Wirkungsunterschied zwischen Antidepressivum und Placebo ist dann schwieriger und manchmal überhaupt nicht nachzuweisen (Kirsch 2011).
2.1 Evidenzbasierte Medizin und ihre Grenzen
Die Aufwertung doppelblinder, randomisierter Studien hat in den letzten Jahrzehnten in der sog. „evidenzbasierten Medizin“ dazu geführt, den statistischen Befunden von Gruppenvergleichen eine höhere Aussagekraft zuzuschreiben als den Erfahrungswerten von Therapeut und Patient. Diese Haltung ist insofern verständlich, als die Selbstüberschätzung einzelner Psychiater und Psychotherapeuten zu Fehleinschätzungen bestimmter psychotherapeutischer Methoden geführt hat. Aber auch die evidenzbasierte Psychiatrie kann – wie die eminenz- oder prominenzbasierte – zu Fehleinschätzungen führen, wenn z. B. statistische Methoden zum Einsatz kommen, die zur Lösung komplexerer Problemstellungen ungeeignet oder ungenügend sind.
So hat sich etwa eingeschlichen, den Erfolg einer Behandlung an der Differenz des Mittelwertes verschiedener Therapiegruppen abzulesen. Im Falle der Depressionsbehandlung wurde etwa auf die mittlere Punktzahl im Beck-Depressionsfragebogen oder im Hamilton-Rating-Verfahren abgestellt. Demgemäß wurde einer Behandlung der Vorrang gegeben, die im Gruppenvergleich zu einer signifikanten Senkung der Depressionstiefe – gemessen am Durchschnittswert der genannten Verfahren – führen. Vielfach musste aber eine sehr große Zahl von Depressionskranken in die Vergleichsstudien eingeschlossen werden, um angesichts geringerer Differenzen überhaupt statistisch signifikante Unterschiede zu finden. Damit wurde aber die Aussagekraft solcher Studien für den einzelnen Kranken weiter eingeschränkt, umso mehr, als sich die Depressionsproblematik der untersuchten Menschen von Fall zu Fall unterscheidet.
Abb. 4: Durchschnittswerte (Kreise) und Streuung der Individualwerte (Dreiecke) gemäß Hamilton-Depressions-Interview (HAMD) bei 437 Patienten mit depressiver Episode im Verlauf einer 6-wöchigen Behandlung mit dem Antidepressivum Moclobemid (nach Stassen)
Je komplexer ein Problem ist und je stärker sich der Krankheitsverlauf (bzw. das Ansprechen auf eine Therapie) zwischen den einzelnen untersuchten Personen unterscheidet, desto irreführender sind Durchschnittswerte, die von einem „Durchschnittsdepressiven“ ausgehen (► Abb. 4). Gerade der Durchschnittsdepressive lässt sich aufgrund der Vielfalt von Depressionsproblemen in der Realität aber nicht finden.
Mit diesen Bemerkungen möchte ich die grundsätzliche Bedeutung statistischer Verfahren keineswegs in Frage stellen. Aber statistische Untersuchungen – selbst diejenigen von Metaanalysen – bedürfen ebenso der kritischen Bewertung wie die Erfahrung eines Einzelnen. Um Lösungen für komplexe Problemstellungen zu finden, reichen einfache statistische Verfahren allein in der Regel nicht aus. Die Komplexitätsreduktion solcher Verfahren ist zwar verführerisch, doch leider wenig rational. Besser scheint es, die einzelne Person mit ihren Bedürfnissen, Ressourcen und Schwierigkeiten vor Augen zu haben und dabei auch die Befunde statistischer Gruppenvergleiche zu berücksichtigen, ohne diese absolut zu setzen. Bei einem solchen Vorgehen ist so etwas wie Weisheit gefordert, wenn Weisheit „die Bewährung im Umgang mit Komplexität ist“ (Scobel 2011, S. 166). Therapeutische Kunst setzt zwar fachliche Kompetenz – auch das Wissen um statistische Verhältnisse – voraus, schließt aber vieles andere mit ein, etwa Einfühlungs- und Kommunikationsfähigkeit, persönliche Reife oder Lebenserfahrung und nicht zuletzt zwischenmenschliches Vertrauen und Akzeptanz des Hilfesuchenden.
Die folgenden drei Kapitel behandeln in grundsätzlicher Weise – mit Berücksichtigung von Gruppenvergleichen – die therapeutischen Möglichkeiten sowie deren Einschätzung bei bestimmten Symptomen und Krankheitsverläufen. In den weiteren Kapiteln gehe ich dann auf therapeutische Herausforderungen, die stärker personbezogen sind, vertieft ein.
2.2 Rückkehr zum Individuum
Nachdem längere Zeit die therapeutischen Leitlinien recht uniform bzw. wenig differenziert waren, wird heute wieder besser gesehen, dass sich depressive Menschen in ihrer Persönlichkeit, Biographie und Biologie unterscheiden. Das hat mit zwei Entwicklungen zu tun. Die eine wurde durch die kritische Analyse von Placebo-kontrollierten Antidepressiva-Studien (z. B. Khan et al. 2002, Kirsch et al. 2008) ausgelöst. Wenn nämlich nicht nur die von den Pharmafirmen publizierten Studienergebnisse, sondern möglichst alle eingeleiteten und durchgeführten Placebo kontrollierten Doppelblindstudien in Metaanalysen zusammengefasst werden, zeigt sich, dass bei leichten bis mittelschweren Depressionen zwischen Placebo- und Antidepressiva-Wirkung kaum ein statistisch relevanter Unterschied auszumachen ist. Untersuchungen an meiner früheren Klinik haben Analoges ergeben (Stassen et al. 2002). Aus solchen Studien mit negativem Ausgang kann aber nicht geschlossen werden, dass viele der mit Antidepressiva Behandelten mit einer leichten oder mittelschweren Depression davon nicht profitierten. Manche haben mehr, einige weniger und die meisten haben gleich viel profitiert, als wenn sie allein mit Placebo behandelt worden wären. (Das ist übrigens nicht wenig, weil über 30 % der mit Placebo behandelten Menschen eine Besserung erfahren.) Die kritischen Befunde von Kirsch et al. (2008) haben jedoch die früher überbewerteten Mittelwertvergleiche auch von kontrollierten Doppelblindstudien relativiert. Plötzlich wurde wieder vermehrt gesehen, dass die Streuung oder Varianz solcher Studienbefunde enorm ist (► Abb. 4) und ein einzelner Patient von den errechneten Mittelwerten stark abweichen kann oder sogar zu einer Subgruppe gehören kann, bei der das Medikament im Vergleich zu Placebo eher nachteilig ist.
So haben z. B. der Münchner Psychiater H. J. Möller und seine Arbeitsgruppe kürzlich knapp und präzis festgehalten: „Für die klinische Relevanz der Wirksamkeit von Antidepressiva sollten jedoch nicht nur Mittelwertsunterschiede einer Depressionsskala, sondern vielmehr auch die Beurteilung des Nutzens für den einzelnen Patienten im Fokus stehen“ (Damm et al. 2009, S. 515).
Diese Rückkehr des Individuums in den wissenschaftlichen Diskurs wird durch eine andere Entwicklung unterstützt, die zum Begriff der „personalisierten Medizin“ geführt hat. Es handelt sich dabei um die Beobachtung, dass das Ansprechen auf einzelne Medikamente stark von der individuellen genetischen Disposition abhängt. Dieser Zusammenhang von genetischer Ausstattung und pharmakologischer Wirkung wurde zunächst in der somatischen Medizin, vor allem in der Onkologie, beobachtet. So konnte bei bestimmten, aber bei weitem nicht bei allen Personen mit einer definierten Brustkrebsart ein Wachstumsfaktor bzw. dessen Rezeptor (HER2) ermittelt werden, der bei diesen Kranken gezielt mit einem Medikament gebremst werden kann (Hind et al. 2007). Die Behandlung mit diesem Pharmakon, das einen Wachstumsfaktor bzw. dessen Andockstelle hemmt, ist insofern individualisiert, als sie eben nicht bei allen Menschen mit einem Mammakarzinom möglich und auch sinnvoll ist. Deshalb setzt die individualisierte Therapie des Mammakarzinoms eine molekulare Diagnostik voraus, um gezielter behandeln zu können.
2.3 Missverständliche „personalisierte Medizin“
Grundsätzlich geht die „personalisierte Medizin“ von der Beobachtung aus, dass Patienten mit identischer Diagnose auf die Behandlung mit dem gleichen Medikament unterschiedlich ansprechen können. Während sich die Behandlung für einen Patienten als gut wirksam erweist, mag sie für einen anderen nicht die gewünschte Wirkung erzielen. Individuelle Merkmale, die teils mit der Krankheit zusammenhängen, teils unabhängig von ihr sind, beeinflussen die Wirkungsweise der Medikamente. Verordnet man nun aber allen Patienten mit derselben Diagnose die gleiche Therapie, so wird man diesem individuellen Unterschied nicht gerecht. Ganz generell kann die „personalisierte Medizin“ als ein Ansatz verstanden werden, der die vertiefte Kenntnis individueller Unterschiede der molekularen Grundlagen von Krankheiten nutzt,...