§. 5. Aristoteles
Als Grundcharakter des Aristoteles ließe sich angeben der allergrößte Scharfsinn, verbunden mit Umsicht, Beobachtungsgabe, Vielseitigkeit und Mangel an Tiefsinn. Seine Weltansicht ist flach, wenn auch scharfsinnig durchgearbeitet. Der Tiefsinn findet seinen Stoff in uns selbst; der Scharfsinn muß ihn von außen erhalten, um Data zu haben. Nun aber waren zu jener Zeit die empirischen Data theils ärmlich, theils sogar falsch. Daher ist heut zu Tage das Studium des Aristoteles nicht sehr belohnend, während das des Platon es im höchsten Grade bleibt. Der gerügte Mangel an Tiefsinn beim Aristoteles wird natürlich am sichtbarsten in der Metaphysik, als wo der bloße Scharfsinn nicht, wie wohl anderwärts, ausreicht; daher er dann in dieser am allerwenigsten befriedigt. Seine Metaphysik ist größtentheils ein Hin-und Her-Reden über die Philosopheme seiner Vorgänger, die er von seinem Standpunkt aus, meistens nach vereinzelten Aussprüchen derselben, kritisirt und widerlegt, ohne eigentlich in ihren Sinn einzugehen, vielmehr wie Einer, der von außen die Fenster einschlägt. Eigene Dogmen stellt er wenige, oder keine, wenigstens nicht im Zusammenhange, auf. Daß wir seiner Polemik einen großen Theil unsrer Kenntniß der älteren Philosopheme verdanken ist ein zufälliges Verdienst. Den Platon feindet er am meisten gerade hier an, wo dieser so ganz an seinem Platz ist. Die Ideen desselben kommen ihm, wie etwas, das er nicht verdauen kann, immer wieder in den Mund: er ist entschlossen, sie nicht gelten zu lassen. — Scharfsinn reicht in den Erfahrungswissenschaften aus: daher hat Aristoteles eine vorwaltend empirische Richtung. Da nun aber, seit jener Zeit, die Empirie solche Fortschritte gemacht hat, daß sie zu ihrem damaligen Zustande sich verhält wie das männliche Alter zu den Kinderjahren; so können die Erfahrungswissenschaften heut zu Tage direkte nicht sehr durch sein Studium gefördert werden, wohl aber indirekte, durch die Methode und das eigentlich Wissenschaftliche, was ihn charakterisirt und durch ihn in die Welt gesetzt wurde. In der Zoologie jedoch ist er auch noch jetzt, wenigstens im Einzelnen, von direktem Nutzen. Ueberhaupt nun aber giebt seine empirische Richtung ihm den Hang, stets in die Breite zu gehn; wodurch er von dem Gedankenfaden, den er aufgenommen, so leicht und so oft seitwärts abspringt, daß er fast unfähig ist, irgend einen Gedankengang auf die Länge und bis ans Ende zu verfolgen: nun aber besteht gerade hierin das tiefe Denken. Er hingegen jagt überall die Probleme auf, berührt sie jedoch nur und geht, ohne sie zu lösen, oder auch nur gründlich zu diskutiren, sofort zu etwas Anderm über. Daher denkt sein Leser so oft jetzt wird’s kommen; aber es kommt nichts: und daher scheint, wann er ein Problem angeregt hat und auf eine kurze Strecke es verfolgt, so häufig die Wahrheit ihm auf der Zunge zu schweben; aber plötzlich ist er bei etwas Anderem und läßt uns im Zweifel stecken. Denn er kann nichts festhalten, sondern springt von Dem, was er vorhat, zu etwas Anderm, das ihm eben einfällt, über, wie ein Kind ein Spielzeug fallen läßt, um ein anderes, welches es eben ansichtig wird, zu ergreifen: Dies ist die schwache Seite seines Geistes: es ist die Lebhaftigkeit der Oberflächlichkeit. Hieraus erklärt es sich, daß, obwohl Aristoteles ein höchst systematischer Kopf war, da von ihm die Sonderung und Klassifikation der Wissenschaften ausgegangen sind, es dennoch seinem Vortrage durchgängig an systematischer Anordnung fehlt und wir den methodischen Fortschritt, ja die Trennung des ungleichartigen und Zusammenstellung des Gleichartigen darin vermissen. Er handelt die Dinge ab, wie sie ihm einfallen, ohne sie vorher durchdacht und sich ein deutliches Schema entworfen zu haben: er denkt mit der Feder in der Hand, was zwar eine große Erleichterung für den Schriftsteller, aber eine grosse Beschwerde für den Leser ist. Daher das Planlose und Ungenügende seiner Darstellung; daher kommt er hundert Mal auf das Selbe zu reden, weil ihm Fremdartiges dazwischen gelaufen war; daher kann er nicht bei einer Sache bleiben, sondern geht vom Hundertsten ins Tausendste; daher führt er, wie oben beschrieben, den auf die Lösung der angeregten Probleme gespannten Leser bei der Nase herum; daher fängt er, nachdem er einer Sache mehrere Seiten gewidmet hat, seine Untersuchung derselben plötzlich von vorne an mit λαβωμεν ουν αλλην αρχην της σκεφεως, und Das sechs Mal in einer Schrift; daher paßt auf so viele Exordien seiner Bücher und Kapitel das quid feret hic tanto dignum promissor hiatu; daher, mit Einem Wort, ist er so oft konfus und ungenügend. Ausnahmsweise hat er es freilich anders gehalten; wie denn z. B. die drei Bücher Rhetorik durchweg ein Muster wissenschaftlicher Methode sind, ja, eine architektonische Symmetrie zeigen, die das Vorbild der Kantischen gewesen seyn mag.
Der radikale Gegensatz des Aristoteles, wie in der Denkungsart, so auch in der Darstellung, ist Platon. Dieser hält seinen Hauptgedanken fest, wie mit eiserner Hand, verfolgt den Faden desselben, werde er auch noch so dünn, in alle Verzweigungen, durch die Irrgänge der längsten Gespräche, und findet ihn wieder nach allen Episoden. Man sieht daran, daß er seine Sache, ehe er an’s Schreiben ging, reiflich und ganz durchdacht, und zu ihrer Darstellung eine künstliche Anordnung entworfen hatte. Daher ist jeder Dialog ein planvolles Kunstwerk, dessen sämmtliche Theile wohlberechneten, oft absichtlich auf eine Weile sich verbergenden Zusammenhang haben und dessen häufige Episoden von selbst und oft unerwartet zurückleiten auf den, durch sie nunmehr aufgehellten Hauptgedanken. Platon wußte stets, im ganzen Sinne des Worts, was er wollte und beabsichtigte; wenn er gleich meistens die Probleme nicht zu einer entschiedenen Lösung führt, sondern es bei der gründlichen Diskussion derselben bewenden läßt. Es darf uns daher nicht so sehr wundern, wenn, wie einige Berichte, besonders im Aelian (var. hist. III, 19. IV, 9 etc.), angeben, zwischen dem Platon und dem Aristoteles sich bedeutende persönliche Disharmonie gezeigt hat, auch wohl Platon hin und wieder etwas geringschätzend vom Aristoteles geredet haben mag, dessen Herumflankiren, Irrlichterliren und Abspringen eben mit seiner Polymathie verwandt, dem Platon aber ganz antipathisch ist. Schillers Gedicht Breite und Tiefe kann auch auf den Gegensatz zwischen Aristoteles und Platon angewandt werden.
Trotz dieser empirischen Geistesrichtung war dennoch Aristoteles kein konsequenter und methodischer Empiriker; daher er vom wahren Vater des Empirismus, dem Bako von Verulam, gestürzt und ausgetrieben werden mußte. Wer recht eigentlich verstehn will, in welchem Sinn und warum dieser der Gegner und Ueberwinder des Aristoteles und seiner Methode ist, der lese die Bücher des Aristoteles de generatione et corruptione. Da findet er so recht das Räsonniren a priori über die Natur, welches ihre Vorgänge aus bloßen Begriffen verstehn und erklären will: ein besonders grelles Beispiel liefert L. II. c. 4, als wo eine Chemie a priori konstruirt wird. Dagegen trat Bako auf, mit dem Rath, nicht das Abstrakte, sondern das Anschauliche, die Erfahrung, zur Quelle der Erkenntniß der Natur zu machen. Der glänzende Erfolg desselben ist der gegenwärtige hohe Stand der Naturwissenschaften, von welchem aus wir mitleidig lächelnd auf diese Aristotelischen Quälereien herabsehn. In der besagten Hinsicht ist es sehr merkwürdig, daß die eben erwähnten Bücher des Aristoteles sogar den Ursprung der Scholastik ganz deutlich erkennen lassen, ja, die spitzfindige, wortkramende Methode dieser schon darin anzutreffen ist. — Zu demselben Zweck sind auch die Bücher de coelo sehr brauchbar und daher lesenswerth. Gleich die ersten Kapitel sind ein rechtes Muster der Methode aus bloßen Begriffen das Wesen der Natur erkennen und bestimmen zu wollen, und das Mißlingen liegt hier zu Tage. Da wird uns Kap. 8 aus bloßen Begriffen und locis communibus bewiesen, daß es nicht mehrere Welten gebe, und Kap. 12, eben so über den Lauf der Gestirne spekulirt. Es ist ein konsequentes Vernünfteln aus falschen Begriffen, eine ganz eigene Natur-Dialektik, welche es unternimmt, aus gewissen allgemeinen Grundsätzen, die das Vernünftige und Schickliche ausdrücken sollen, a priori zu entscheiden, wie die Natur seyn und verfahren müsse. Indem wir nun einen so großen, ja stupenden Kopf, wie bei dem Allen Aristoteles doch ist, so tief in Irrthümern dieser Art verstrickt sehn, die ihre Gültigkeit bis noch vor ein Paar hundert Jahren behauptet haben, wird uns zuvörderst deutlich, wie sehr viel die Menschheit dem Kopernikus, Kepler, Galiläi, Bako, Robert Hook und Newton verdankt. Im Kap. 7 und 8 des zweiten Buches legt Aristoteles uns seine ganze absurde Anordnung des Himmels dar: die Sterne stecken fest auf der sich drehenden Hohlkugel, Sonne und Planeten auf ähnlichen näheren: die Reibung beim Drehen verursacht Licht und Wärme: die Erde steht ausdrücklich still. Das Alles möchte hingehn, wenn vorher nichts Besseres dagewesen wäre: aber wenn er selbst uns, Kap. 13, die ganz richtigen Ansichten der Pythagoreer über Gestalt, Lage und Bewegung der Erde vorführt, um sie zu verwerfen; so muß dies unsre Indignation erregen. Sie wird steigen, wenn wir aus seiner häufigen Polemik gegen Empedokles, Herakleitos und Demokritos sehn, wie alle diese sehr viel richtigere Einsichten in die Natur gehabt, auch die Erfahrung besser beachtet haben, als der seichte Schwätzer, den wir hier vor uns haben. Empedokles hatte sogar schon eine durch den Umschwung entstehende und der Schwere entgegenwirkende Tangentialkraft gelehrt...