Kapitel II.
Von dem, was Einer ist.
Daß dieses zu seinem Glücke viel mehr beiträgt, als was er hat, oder was er vorstellt, haben wir bereits im Allgemeinen erkannt. Immer kommt es darauf an, was Einer sei und demnach an sich selber habe: denn seine Individualität begleitet ihn stets und überall, und von ihr ist Alles tingirt, was er erlebt. In Allem und bei Allem genießt er zunächst nur sich selbst: Dies gilt schon von den physischen; wie vielmehr von den geistigen Genüssen. Daher ist das Englische to enjoy one’s self ein sehr treffender Ausdruck, mit welchem man z. B. sagt he enjoys himself at Paris, also nicht er genießt Paris, sondern er genießt sich in Paris. — Ist nun aber die Individualität von schlechter Beschaffenheit; so sind alle Genüsse wie köstliche Weine in einem mit Galle tingirten Munde. Demnach kommt, im Guten wie im Schlimmen, schwere Unglücksfälle bei Seite gesetzt, weniger darauf an, was Einem im Leben begegnet und widerfährt, als darauf, wie er es empfindet, also auf die Art und den Grad seiner Empfänglichkeit in jeder Hinsicht. Was Einer in sich ist und an sich selber hat, kurz die Persönlichkeit und deren Werth, ist das alleinige Unmittelbare zu seinem Glück und Wohlseyn. Alles Andere ist mittelbar; daher auch dessen Wirkung vereitelt werden kann, aber die der Persönlichkeit nie. Darum eben ist der auf persönliche Vorzüge gerichtete Neid der unversöhnlichste, wie er auch der am sorgfältigsten verhehlte ist. Ferner ist allein die Beschaffenheit des Bewußtseyns das Bleibende und Beharrende, und die Individualität wirkt fortdauernd, anhaltend, mehr oder minder in jedem Augenblick: alles Andere hingegen wirkt immer nur zu Zeiten, gelegentlich, vorübergehend, und ist zudem auch noch selbst dem Wechsel und Wandel unterworfen: daher sagt Aristoteles: η γαρ φυσις βεβαια, ου τα χρηματα (nam natura perennis est, non opes). Eth. End. VII, 2. Hierauf beruht es, daß wir ein ganz und gar von außen auf uns gekommenes Unglück mit mehr Fassung ertragen, als ein selbstverschuldetes: denn das Schicksal kann sich ändern; aber die eigene Beschaffenheit nimmer. Demnach also sind die subjektiven Güter, wie ein edler Charakter, ein fähiger Kopf, ein glückliches Temperament, ein heiterer Sinn und ein wohlbeschaffener, völlig gesunder Leib, also überhaupt mens sana in corpore sano, (Juvenal. Sat. X, 356) zu unserm Glücke die ersten und wichtigsten; weshalb wir auf die Beförderung und Erhaltung derselben viel mehr bedacht seyn sollten, als auf den Besitz äußerer Güter und äußerer Ehre.
Was nun aber, von jenen Allen, uns am unmittelbarsten beglückt, ist die Heiterkeit des Sinnes: denn diese gute Eigenschaft belohnt sich augenblicklich selbst. Wer eben fröhlich ist hat allemal Ursach es zu seyn: nämlich eben diese, daß er es ist. Nichts kann so sehr, wie diese Eigenschaft, jedes andere Gut vollkommen ersetzen; während sie selbst durch nichts zu ersetzen ist. Einer sei jung, schön, reich und geehrt; so frägt sich, wenn man sein Glück beurtheilen will, ob er dabei heiter sei: ist er hingegen heiter; so ist es einerlei, ob er jung oder alt, gerade oder pucklich, arm oder reich sei; er ist glücklich. In früher Jugend machte ich ein Mal ein altes Buch auf, und da stand: wer viel lacht ist glücklich, und wer viel weint ist unglücklich, — eine sehr einfältige Bemerkung, die ich aber, wegen ihrer einfachen Wahrheit doch nicht habe vergessen können, so sehr sie auch der Superlativ eines truism’s ist. Dieserwegen also sollen wir der Heiterkeit, wann immer sie sich einstellt, Thür und Thor öffnen: denn sie kommt nie zur unrechten Zeit; statt daß wir oft Bedenken tragen, ihr Eingang zu gestatten, indem wir erst wissen wollen, ob wir denn auch wohl in jeder Hinsicht Ursach haben, zufrieden zu seyn; oder auch, weil wir fürchten, in unsern ernsthaften Ueberlegungen und wichtigen Sorgen dadurch gestört zu werden: allein was wir durch diese bessern ist sehr ungewiß; hingegen ist Heiterkeit unmittelbarer Gewinn. Sie allein ist gleichsam die baare Münze des Glückes und nicht, wie alles Andere, bloß der Bankzettel; weil nur sie unmittelbar in der Gegenwart beglückt; weshalb sie das höchste Gut ist für Wesen, deren Wirklichkeit die Form einer untheilbaren Gegenwart zwischen zwei unendlichen Zeiten hat. Demnach sollten wir die Erwerbung und Beförderung dieses Gutes jedem andern Trachten vorsetzen. Nun ist gewiß, daß zur Heiterkeit nichts weniger beiträgt, als Reichthum, und nichts mehr, als Gesundheit: in den niedrigen, arbeitenden, zumal das Land bestellenden Klassen, sind die heitern und zufriedenen Gesichter; in den reichen und vornehmen die verdrießlichen zu Hause. Folglich sollten wir vor Allem bestrebt seyn, uns den hohen Grad vollkommener Gesundheit zu erhalten, als dessen Blüthe die Heiterkeit sich einstellt. Die Mittel hiezu sind bekanntlich Vermeidung aller Excesse und Ausschweifungen, aller heftigen und unangenehmen Gemüthsbewegungen, auch aller zu großen oder zu anhaltenden Geistesanstrengung, täglich zwei Stunden rascher Bewegung in freier Luft, viel kaltes Baden und ähnliche diätetische Maaßregeln. Ohne tägliche gehörige Bewegung kann man nicht gesund bleiben: alle Lebensprocesse erfordern, um gehörig vollzogen zu werden, Bewegung sowohl der Theile, darin sie vorgehn, als des Ganzen. Daher sagt Aristoteles mit Recht: ο βιος εν τη κινησει εστι. Das Leben besteht in der Bewegung und hat sein Wesen in ihr. Im ganzen Innern des Organismus herrscht unaufhörliche, rasche Bewegung: das Herz, in seiner komplicirten doppelten Systole und Diastole, schlägt heftig und unermüdlich; mit 28 seiner Schläge hat es die gesammte Blutmasse durch den ganzen großen und kleinen Kreislauf hindurch getrieben; die Lunge pumpt ohne Unterlaß wie eine Dampfmaschine; die Gedärme winden sich stets im motus peristalticus; alle Drüsen saugen und secerniren beständig, selbst das Gehirn hat eine doppelte Bewegung mit jedem Pulsschlag und jedem Athemzug. Wenn nun hiebei, wie es bei der ganz und gar sitzenden Lebensweise unzähliger Menschen der Fall ist, die äußere Bewegung so gut wie ganz fehlt, so entsteht ein schreiendes und verderbliches Mißverhältniß zwischen der äußern Ruhe und dem innern Tumult. Denn sogar will die beständige innere Bewegung durch die äußere etwas unterstützt seyn; jenes Mißverhältniß aber wird dem analog, wenn, in Folge irgend eines Affekts, es in unserm Innern kocht, wir aber nach Außen nichts davon sehen lassen dürfen. Sogar die Bäume bedürfen, um zu gedeihen, der Bewegung durch den Wind. Dabei gilt eine Regel, die sich am kürzesten lateinisch ausdrücken läßt: omnis motus, quo celerior, eo magis motus. — Wie sehr unser Glück von der Heiterkeit der Stimmung und diese vom Gesundheitszustande abhängt, lehrt die Vergleichung des Eindrucks, den die nämlichen äußern Verhältnisse, oder Vorfälle, am gesunden und rüstigen Tage auf uns machen, mit dem, welchen sie hervorbringen, wann Kränklichkeit uns verdrießlich und ängstlich gestimmt hat. Nicht was die Dinge objektiv und wirklich sind, sondern was sie für uns, in unsrer Auffassung, sind, macht uns glücklich oder unglücklich: Dies eben besagt Epiktets ταρασσει τους ανθρωπουσ ου τα πραγματα, αλλα τα περι των πραγματων δογματα (commovent homines non res, sed de rebus opiniones). Ueberhaupt aber beruhen 9/10 unsers Glückes allein auf der Gesundheit.
Mit ihr wird Alles eine Quelle des Genusses: hingegen ist ohne sie kein äußeres Gut, welcher Art es auch sei, genießbar, und selbst die übrigen subjektiven Güter, die Eigenschaften des Geistes, Gemüthes, Temperaments, werden durch Kränklichkeit herabgestimmt und sehr verkümmert. Demnach geschieht es nicht ohne Grund, daß man, vor allen Dingen, sich gegenseitig nach dem Gesundheitszustande befrägt und einander sich wohlzubefinden wünscht: denn wirklich ist Dieses bei Weitem die Hauptsache zum menschlichen Glück. Hieraus aber folgt, daß die größte aller Thorheiten ist, seine Gesundheit aufzuopfern, für was es auch sei, für Erwerb, für Beförderung, für Gelehrsamkeit, für Ruhm, geschweige für Wollust und flüchtige Genüsse: vielmehr soll man ihr Alles nachsetzen.
So viel nun aber auch zu der, für unser Glück so wesentlichen Heiterkeit die Gesundheit beiträgt, so hängt jene doch nicht von dieser allein ab: denn auch bei vollkommener Gesundheit kann ein melancholisches Temperament und eine vorherrschend trübe Stimmung bestehn. Der letzte Grund davon liegt ohne Zweifel in der ursprünglichen und daher unabänderlichen Beschaffenheit des Organismus, und zwar zumeist in dem mehr oder minder normalen Verhältniß der Sensibilität zur Irritabilität und Reproduktionskraft. Abnormes Uebergewicht der Sensibilität wird Ungleichheit der Stimmung, periodische übermäßige Heiterkeit und vorwaltende Melancholie herbeiführen. Weil nun auch das Genie durch ein Uebermaaß der Nervenkraft, also der Sensibilität, bedingt ist; so hat Aristoteles ganz richtig bemerkt, daß alle ausgezeichnete und überlegene Menschen melancholisch seien: παντες οσοι περιττοι γεγονασιν ανδρες, η κατα φιλοσοφιαν, η πολιτικην, η ποιησιν, η τεχνας, φαινονται μελαγχολικοι οντες (Probl. 30, 1). Ohne Zweifel ist dieses die Stelle, welche Cicero im Auge hatte, bei seinem oft angeführten Bericht: Aristoteles ait, omnes ingeniosos...