Das persische Heer im Jahre 490 schlagen wir auf Grund der vorher dargelegten Verhältnisse auf etwa ebensoviel an wie die Athener, eher etwas weniger, also auf 4000 bis 6000 Krieger, darunter 500 bis 800 Reiter; daneben noch, ähnlich wie bei den Griechen, eine große Zahl Ungewappneter. Dieser Ansatz mag zunächst willkürlich erscheinen; man muß sich aber klarmachen, daß die Größe des einen Heeres immer auch auf die Größe des anderen einen gewissen Rückschluß zuläßt, sobald man von der Qualität der beiderseitigen Krieger eine Vorstellung hat, und der Gang der Ereignisse wird uns bald noch mehr an die Hand geben. Das persische Heer kam auf einer großen Flotte über das Ägäische Meer, nahm und zerstörte zunächst das Städtchen Eretria auf Euböa und setzte dann nach Attika über. Die Athener hatten noch keine Flotte, die der persischen gewachsen gewesen wäre, sie konnten also dem Angriff nur zu Lande begegnen.
Die Aufgabe der persischen Feldherren Datis und Arthaphernes war, zunächst an irgend einem Punkt der athenischen Küste das Heer ans Land zu bringen und dann die Stadt Athen selber anzugreifen und zu erobern; zeigt sich ein athenisches Heer in freiem Felde, so mußte dieses erst geschlagen und vertrieben werden.
Unter Führung des Hippias, des früheren Herrschers in Athen, der zwanzig Jahre vorher vertrieben worden war, wählten die Perser die Ebene von Marathon als Landungsstelle. Sie ist etwa vier Meilen von Athen entfernt und war unbewacht, da die Athener nicht wissen konnten, wo die Perser landen würden. War das athenische Heer bereits versammelt, so stand es jedenfalls in oder bei Athen. Auch wenn die Athener einen sehr sorgsamen Wachdienst hatten und der Beginn der Ausschiffung sofort nach der Stadt signalisiert wurde, so mußten doch wenigstens acht Stunden vergehen, ehe das Heer bei Marathon angelangt, aufmarschiert und zum Angriff bereit war. In dieser Zeit konnte auch das persische Heer schlachtbereit sein. Überdies war die marathonische Ebene rings von Bergen umgeben und hatte nur wenig Zugänge, die die Perser leicht mit den erst ausgeschifften Bognern besetzen konnten, um dadurch den Eintritt der Athener in die Ebene noch weiter aufzuhalten.
In Athen soll man in Zweifel gewesen sein, ob man dem Feinde draußen eine Schlacht liefern oder es auf die Belagerung ankommen lassen solle. Die größere Ansicht, daß man die Schlacht wagen wolle, siegte. Man schickte nach Sparta und bat um ein Hilfskorps.
Der Oberbefehl wurde dem Miltiades anvertraut, einem Mann aus reichem patrizischen Geschlechte, der, wie die venetianischen Nobili im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert, als athenischer Bürger ein Fürstentum außerhalb im Barbarenlande, auf dem thracischen Chersonnes inne gehabt und dort die Perser kennen gelernt hatte. Er war sogar Untertan des persischen Königs gewesen und hatte sich vor ihm nach Athen flüchten müssen.
Wir wissen, worin die Überlegenheit der Perser bestand. Kam es zur Schlacht auf freiem Felde, so war kein Zweifel, daß die persischen Reiter, auf die Flügel gestellt, die athenische Phalanx in beiden Flanken angriffen, während die Bogner sie in der Front mit Pfeilen überschütteten. Wegen des Flankenangriffs unfähig, eine geordnete Attacke gegen die Bogner zu machen, hätte die Phalanx, fast ohne zum wirklichen Kampfe zu gelangen, der feindlichen Waffen-Kombination erliegen müssen. Diese taktische Schwäche der einseitigen athenischen Heeresmacht auszugleichen, war die Aufgabe der athenischen Führung. Studiert man das Gelände von Marathon und vergleicht damit die erhaltenen Nachrichten, so kann man mit Sicherheit erkennen, auf welche Weise es dem Miltiades gelungen ist, diese Aufgabe zu erfüllen.
Cornelius Nepos, der aus Ephorus geschöpft hat, erzählt uns in seinem Leben des Miltiades, die Athener hätten sich am Fuße der Berge auf einem engen Platz aufgestellt, wo sie Bäume gefällt hätten, damit sie sowohl durch die Berge wie durch die Bäume vor einer Umgehung durch die feindliche Reiterei gedeckt würden.34
Diese Schilderung entspricht so sehr den Verhältnissen, daß wir etwas Ähnliches vermuten müßten, selbst wenn es nicht positiv überliefert wäre. Auch die Stelle in der kleinen marathonischen Ebene, die der Angabe des Nepos-Ephorus am besten entspricht, kann ein kriegsgeschichtlich geübtes Auge ohne Schwierigkeit von einer Spezialkarte ablesen: es ist der Eingang eines kleinen Seitentals, heut Vrana genannt. Dieses Tal ist 150 Meter vom Eingang etwa 1000 Meter breit. Das ist für eine Hoplitenphalanx von etwa 6000 Mann zu breit; der Raum wurde ja aber durch den Verhack weiter eingeengt. Ein für Infanterie gangbarer Pfad führt von Athen über die Berge direkt in dieses Tal. Zu der Hauptstraße, der einzigen, die in die marathonische Ebene führt, bildet das Vranatal eine Flankenstellung, so daß das feindliche Heer nicht gegen Athen marschieren konnte, ohne das athenische vorher aus dem Vranatal vertrieben zu haben.
Herodot erzählt uns, daß die Athener sich mit einem Anlauf von acht Stadien (4800 Fuß = 1500 Meter) auf den Feind gestürzt hätten. Ein solcher Lauf ist eine physische Unmöglichkeit; ein schwer ausgerüsteter Heereshaufe kann allerhöchstens vier- bis fünfhundert Fuß (120-150 Meter) im Laufschritt zurücklegen, ohne die Kräfte völlig zu erschöpfen und in Unordnung zu geraten. Einzelne Kunstläufer und Naturvölker sind allerdings imstande, sehr große Strecken selbst belastet im Lauf zurückzulegen, aber die Athener bei Marathon waren kein Naturvolk mehr, sondern ein bürgerlich-bäuerlicher Landsturm. Nach dem preußischen Reglement darf mit Gepäck nicht länger als zwei Minuten = 330 bis 350 Meter gelaufen werden. Das athenische Heer bestand aber nicht einmal aus Truppen, die im Training stehen, nicht aus den Jünglingen, die in den Gymnasien turnten, sondern aus dem Massenaufgebot der Bürger, Bauern, Köhler, Fischer bis zu 45 oder 50 Jahren, und eine geschlossene Masse läuft viel schwerer, als ein Einzelner. Wenn ein neuerer Historiker den Ausdruck gebraucht, die Athener seien »angeblich« 8 Stadien gelaufen, so ist das soviel, als wenn er einer Quelle nacherzählte, sie seien an einem Tage »angeblich« 60 Meilen marschiert. Wenn ein Anderer meint, die ungeheure Erregung der Schlacht mache ganz andere Anspannung der Nerven und Muskeln möglich als die alltägliche Übung des Exerzierplatzes, so ist das richtig, macht aber immer noch nicht den Lauf einer Phalanx von einer Fünftelmeile möglich.
Ein Gefecht aus der neueren Kriegsgeschichte mag uns das lehren. Im dänischen Kriege 1864 wurde ein weit vorgeschobenes preußisches Detachement unter dem Hauptmann von Schlutterbach bei Lundby in Jütland von überlegener dänischer Infanterie angegriffen (3. Juli). Die Preußen nahmen eine Defensivstellung ein. Auf 400 Schritt Entfernung setzten sich die Dänen unter lautem Hurraruf in Laufschritt. »Aber«, heißt es in der Erzählung35, »eine Truppe kann nicht 400 Schritt weit in der heftigen Bewegung bleiben, die unwillkürlich zu vollem Rennen sich entwickelt, wo man mit dem Feinde handgemein zu werden denkt. Der Atem geht aus, und nach 100 Schritten muß die Kompagnie halten. Es sind ihr die peinlichsten Minuten, bis sie sich wieder in Bewegung setzen kann.«
»Der fabelhafte Lauf sollte niemand quälen: Artemis hat ihnen die Kraft zu den bohdromia gegeben und erhält zum Danke das Ziegenopfer«, hat ein Philolog erklärt und warnt davor, aus Unverstand und Mißgunst abzustreiten, daß das schlichte Vertrauen auf Gott und die eigene Tüchtigkeit wider alle Voraussicht menschlicher Kleingläubigkeit den Sieg gegeben habe. Auch diese Weltanschauung hat ihr Recht; namentlich im Mittelalter, in den Heiligenleben und Kreuzzugserzählungen ist die Welt und so auch der Krieg der Wunder voll, und man möchte auch die romantische Art, Geschichte zu erzählen, ungern entbehren. Aber wer die Geschichte der Kriegskunst kritisch erforschen will, der erflehe für sich selber den Beistand des heiligen Georg oder, wenn er will, auch der göttlichen Artemis und des Apollo, aus seiner Untersuchung aber muß er sie verbannen. Dieser Laufschritt ist der entscheidende Punkt für das historische Verständnis der Schlacht, auf der die griechische Freiheit und damit alle moderne Kultur beruht. Durch die »8 Stadien« muß notwendig zunächst der Platz der Schlacht und damit auch der taktische Verlauf und die Ursache von Sieg und Niederlage bestimmt werden. Wir dürfen uns daher glücklich schätzen, hier einen Punkt zu haben, über den eine einfache sachliche Prüfung uns unabhängig von allen zweifelhaften Zeugnissen und unzuverlässigen Erzählern volle Gewißheit zu geben vermag. Die sachliche Prüfung aber ergibt, daß weder eine griechische Phalanx noch eine andere geordnete Schlachtlinie jemals 11/2 Kilometer gelaufen ist, noch hat laufen können.36 Herodots Angabe beruht auf irgend einem Mißverständnis, und dieses Mißverständnis bleibt uns nicht einmal ein Rätsel, sondern wird sehr bald erklärt sein.
Mitten in der marathonischen Ebene erhebt sich ein künstlicher Hügel, der »Soros«, der durch neuerliche Nachgrabungen als das Grab...