Kapitel 1
Die »Ukraine-Krise« 2014 und ihre Vorgeschichte
Gegenwärtig befindet sich der ukrainische Staat in der schwierigsten Situation seit Erlangung seiner Unabhängigkeit im Jahr 1991. Es ist sogar berechtigt zu konstatieren, dass die ukrainischen Länder, d. h. die Territorien der ehemaligen Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik (USSR), welche bis zum März 2014 die Ukraine bildeten, seit dem Zweiten Weltkrieg (vgl. Kapitel 13) keine größere Krise durchlebten. Und dies, obwohl die Jahre nach der Befreiung von den nationalsozialistischen Besatzern seit 1944 alles andere als leicht gewesen waren: Die weitläufigen Zerstörungen durch Kampfhandlungen, die rücksichtlose, auch wirtschaftliche Ausbeutung der sog. Kornkammer Europas und der gnadenlose Vernichtungskrieg, mit dem die Deutschen und ihre Verbündeten die ukrainischen Länder genauso überzogen wie die übrigen Territorien der UdSSR, derer sie Herr werden konnten, hatten eine unvorstellbare Schneise der Verwüstung geschlagen. Auf Bevölkerungstransfers großen Ausmaßes im Weltkrieg (so 1941, als sog. Russlanddeutsche auch auf dem Gebiet der USSR von den sowjetischen Behörden umgesiedelt wurden), den nationalsozialistischen Judenmord sowie die Verschleppung sowjetischer Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter für den Arbeitseinsatz im Deutschen Reich folgten großangelegte und brutal durchgeführte Deportationen seitens der sowjetischen Macht, die heutzutage als ethnische Säuberungen qualifiziert werden würden. Diese von Stalin angeordneten Maßnahmen betrafen beispielsweise die krimtatarischen Muslime (vgl. Kapitel 16) oder die Polen in den neu der UdSSR zugeschlagenen Gebieten in der Westukraine, die in der Zwischenkriegszeit zum polnischen Staat gehört hatten. Es folgten die schweren Jahre des Wiederaufbaus und der neuerlichen politischen Pressionen von 1948 bis zu Stalins Tod im Jahr 1953. In den nächsten Jahrzehnten durchlebte die ukrainische Sowjetrepublik im Wesentlichen alle Höhen und Tiefen, welche die UdSSR als Gesamtorganismus durchlief – die sog. Tauwetterperiode nach 1956 (vgl. Kapitel 14), die Erlangung eines gewissen gesamtgesellschaftlichen Wohlstandes, welcher den Krieg nicht vergessen machen konnte, aber die klaffendsten Wunden wenigstens etwas zu schließen vermochte. Es folgten die ›bleiernen‹ Jahre der späten Brežnev-Zeit, die auch für die ukrainischen Territorien eine Phase der politisch-gesellschaftlichen Stagnation darstellten. Einen gemeinschaftlichen Aufbruch bedeutender Teile der ukrainischen Bevölkerung wie der Sowjetunion insgesamt bewirkte erst eine Katastrophe, nämlich der Reaktorunfall von Čornobyl’ im April 1986 (vgl. Kapitel 15). In der Rückschau markierte dieser technische ›Größte Anzunehmende Unfall‹ (GAU) ein nicht gering zu schätzendes Ereignis, das den Zerfall des Vielvölkerstaates zumindest beschleunigte.
Die Ukraine, so viel mag deutlich geworden sein, war auch schon vor 2014 keinesfalls eine Insel der Seligen, sondern ein Gebiet in der Mitte Europas, welches historisch immer Durchzugs- und Interessengebiet auswärtiger Akteure gewesen ist. Dies ist ein Grund dafür, dass erst nach dem Zerfall der Sowjetunion eine unabhängige Ukraine entstehen konnte, der eine längere Lebensdauer beschert ist als deren Vorgängerprojekten. Trotz aller Widrigkeiten ist die Ukraine – von den drei baltischen Republiken einmal abgesehen – derjenige aus der Erbmasse der UdSSR hervorgegangene Staat, welcher in den Jahren seit 1991 am konsequentesten den Weg zur Demokratie zu beschreiten versuchte. Das zeigte sich nicht zuletzt in den Ereignissen im Dezember 2004, als das alte Regime nach gefälschten Präsidentenwahlen auf Druck großer Teile der Bevölkerung hinweggefegt wurde; dass dieser dann als Orange Revolution bezeichnete Umsturz keine Revolution gewesen ist, darauf wird noch zurückzukommen sein. In jedem Fall hatten sich Ansätze einer profunden zivilgesellschaftlichen Entwicklung gezeigt, denn ukrainische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger gleich welcher ethnischen Herkunft hatten ihr eigenes politisches »Personal« zu einem Politikwechsel gezwungen. Leider sollte dieses Personal in der Folge nicht immer die richtigen Weichenstellungen treffen. Unter anderem deswegen kam es zu der sog. Ukraine-Krise 2014, die eben auch – aber nicht nur – als eine Art Bürgerkrieg anzusehen ist. Doch der Reihe nach:
Am 21. November 2013 hatte der ukrainische Ministerpräsident Mykola Azarov die Aussetzung des bereits im Sommer 2012 paraphierten Assoziierungsabkommens zwischen der Europäischen Union und der Ukraine verkündet, das einige Tage später bei einem Treffen der EU-Regierungsspitzen mit dem seit 2010 amtierenden ukrainischen Präsidenten Viktor Janukovyč im litauischen Vilnius feierlich hätte unterzeichnet werden sollen. Der Präsident reiste zwar an und erklärte sein ungebrochenes Interesse daran, sein Land näher an die EU zu binden, verlangte aber eine Beteiligung der Russländischen Föderation an diesem Abstimmungsprozess, was Brüssel seinerseits ablehnte. Das politische Europa zeigte sich bass erstaunt über das Vorgehen Kievs, weil man im Assoziierungsabkommen für das osteuropäische Land auf längere Sicht nur Vorteile erkennen wollte, versprach es doch Freihandelselemente sowie eine wechselseitige Marktöffnung für Waren. Kurzfristig hätte es gleichwohl, dies war vielen Beobachtern durchaus klar, zu gewissen Problemen in der seit der Krise von 2008 ohnehin gebeutelten ukrainischen Wirtschaft führen können. Die von der EU geforderte Anpassung an die eigenen Gesetze und Normen war dennoch eine Kröte, die zu schlucken war. Die für die ukrainische Seite so wichtige Visumsfreiheit ihrer Staatsbürger bei Reisen in die EU war außerdem nicht Bestandteil der Vereinbarungen gewesen, obgleich man diese umgekehrt für EU-Bürger bereits 2005 eingeführt hatte. Immerhin: Wenn die Ukraine sich denn an europäische Standards angepasst hätte, sollte ihr dereinst der Status eines EU-Beitrittskandidaten zuerkannt werden; dies war insofern bemerkenswert, als die Möglichkeit einer ukrainischen Mitgliedschaft im exklusiven europäischen Klub lange Zeit für dessen politische Verantwortliche undenkbar gewesen war. Vielen europäischen Politikern (und vielen Bürgern der EU!) galt (und gilt) dieser Staat als ›zu wenig‹ europäisch, ungeachtet seiner geographischen Lage und seiner großen kulturellen Leistungen etwa auf dem Gebiet der Literatur, oder als wirtschaftlich zu rückständig, was allerdings bei der Integration anderer Länder Südosteuropas in die EU offenbar keine Rolle gespielt hatte. Mancher Europäer fürchtete zudem in Anbetracht der innerhalb der Union garantierten Arbeitnehmerfreizügigkeit den ungebremsten Zuzug ukrainischer Bürgerinnen und Bürger, was in vergleichbaren Fällen der Osterweiterung von 2004 aber durch entsprechende Regelungen gelöst worden war.
Besonders im deutschsprachigen Raum sprach und spricht sich eine meinungsstarke Gruppe zumeist nicht mehr aktiver Politiker wie die ehemaligen deutschen Bundeskanzler Helmut Schmidt, Helmut Kohl oder Gerhard Schröder demgegenüber für die – nach ihrer Auffassung – Wahrung legitimer russischer Interessen aus. Im veröffentlichten Diskurs werden die ehemaligen Kanzler zumeist euphemistisch als »Russlandversteher« bezeichnet; letztlich sind diese aber der Auffassung, dass die Anerkennung doch ebenfalls legitimer ukrainischer Interessen, über wirtschaftliche, politische oder militärische Bündnisse selbständig entscheiden zu können – seien es Mitgliedschaft in der Europäischen Union oder in der NATO –, irgendwie unangemessen sei. Unangemessen deshalb, da die freie Entscheidung eines unabhängigen Staates wie der Ukraine dann geringer zu veranschlagen sei als die Interessen der Russländischen Föderation. Dabei wird offenbar vergessen, dass sich die Sowjetunion im Dezember 1991 mit der Deklaration von Alma-Ata/Almaty aufgelöst hat.
Auch wenn die ›Argumente‹ der sog. Russlandversteher also problematisch erscheinen, unstrittig ist, dass die Russländische Föderation die Annäherung der Ukraine an die EU mit Misstrauen begleitete – und mit konkreter Politik zu verhindern trachtete: Seit Sommer 2013 behinderte die Russländische Föderation in erprobter Manier – wie etwa im Falle Georgiens im Vorfeld des russisch-georgischen August-Krieges von 2008 – die Einfuhr ukrainischer Waren, drohte mit Preiserhöhungen für russisches Erdgas oder der Einführung der Visumspflicht für ukrainische Staatsbürger. In Anbetracht ca. 300 000 bis 400 000 ukrainischer ›Gastarbeiter‹ in Russland und ungezählter grenzüberschreitender menschlicher Kontakte war das für Kiev ein bedrohliches Szenario. Hinter dieser Politik der Einschüchterung stand zum einen die nicht nur in Kreml-Kreisen, sondern bei der ganz überwiegenden Zahl der russischen Bevölkerung stark ausgeprägte Überzeugung, bei den Ukrainern handle es sich letztlich (wie auch bei der quantitativ sehr viel kleineren weißrussischen Nationalität) um einen integralen Bestandteil der ostslavischen Völkerfamilie (vgl. Kapitel 2). Zum anderen galt es, ganz pragmatisch vermeintlich vitale wirtschaftliche Interessen Russlands zu verteidigen: Das Regime Putin plante bekanntlich seit längerem, die Ukraine zum Beitritt in die Russisch-Weißrussische-Kazachische Zollunion zu bewegen. Der ukrainische Präsident Janukovyč, ohnehin mehr an Moskau als an Brüssel orientiert, hatte seinerseits offenbar lange geglaubt, die Ukraine könne zweigleisig fahren. Er wurde allerdings im Herbst 2013 u. a. vom Präsidenten der EU-Kommission, José Manuel Barroso, eines Besseren belehrt, was die schließlich erfolgte Verweigerung der...