EINLEITUNG
Akira Iriye
«Außerdem sollte ein Buch, wie jedes andere Werk, von seiner These zusammengehalten werden. Ein Buch, das aus den Essays verschiedener Autoren besteht, ist daher als Ganzes eher weniger interessant als das Buch eines Einzelnen.» Bertrand Russell hatte ohne jeden Zweifel recht, als er in seiner Autobiographie unmittelbar vor dem eingangs zitierten Satz schrieb: «Aber meiner Meinung nach kann ein Mensch ohne Tendenz keine interessante Geschichte schreiben – wenn es wirklich einen solchen Menschen gibt.» Als Historiker haben alle Beiträger dieses Bandes ihren Standpunkt oder ihre «Tendenz», wie der Philosoph es formuliert. Aber ich hoffe natürlich, ihre Standpunkte sind nicht so unterschiedlich, dass dies den Band weniger interessant macht, als wenn er von einer Hand geschrieben wäre. Tatsächlich wird der Leser schon bald merken, dass die Beiträger einiges gemeinsam haben. Erstens wollen sie alle einen frischen Blick auf die «Zeitgeschichte» werfen, also auf die Geschichte der vergangenen Jahrzehnte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Zweitens sind wir alle der Überzeugung, dass sich diese Geschichte – wie eigentlich die Geschichte jeder Epoche – nur im globalen Kontext und nicht im Rahmen eigenständiger National- oder Regional geschichten begreifen lässt.
Drittens, und das ist uns besonders wichtig, sind wir der Ansicht, dass diese Globalgeschichte aus zahlreichen Schichten oder Ebenen besteht, die sich normalerweise nicht überlappen, aber trotzdem miteinander verbunden sind. Da gibt es die Geschichte der Welt, die sich auf der Ebene einzelner Staaten abspielt, ob nun jeweils für sich oder im Kollektiv. Für die Zeit nach 1945 wurde diese Geschichte zumeist im Rahmen des Kalten Krieges betrachtet, doch wie die folgenden Kapitel zeigen, gab es viele andere nationale und internationale Entwicklungen, die in den Blick rücken müssen, wenn man die jüngste Geschichte wirklich verstehen will. Parallel zu dieser im Wesentlichen geopolitisch bestimmten Ebene entwickelten andere Bereiche ihre jeweils ganz eigene Dynamik. Da war zum einen die Öko nomie und zum anderen die Kultur, wo nationale Einheiten als Bezugsgrößen weniger wichtig waren als Waren, Kapital, Ideen sowie andere Produkte und Betätigungen in verschiedenen Teilen der Welt. All diese Ebenen überlappten sich gelegentlich und verschmolzen mitunter sogar miteinander, aber jede wies ihre eigene Geschichte, Chronologie und Agenda auf. Eine gänzlich andere Ebene stellte der natürliche Lebensraum dar, den die Menschen mit Tieren, Pflanzen, Wasser, Luft und anderen physischen Dingen teilten.
Keine dieser Ebenen beanspruchte dauerhaft eine privilegierte Stellung für sich. Es gab bestimmte Phasen, in denen dezidiert nationale Fragen oder die internationalen Beziehungen das Leben der Menschen bestimmten, während zu anderen Zeiten die Launen transnationaler wirtschaftlicher oder kultureller Faktoren ihr Dasein beeinflussten, wohingegen sich die menschliche Umwelt mit ihrer eigenen, für Menschen schwer vorhersehbaren Art auf alle menschlichen «Lebensfahrpläne» auswirkte. Geschichte ist die Gesamtheit und das Ergebnis all dieser Aktions- und Interaktionsebenen. Das erinnert an den amerikanischen Künstler Robert Motherwell (1915–1991), der von seinen Gemälden einmal sagte, sie würden aus Bewusstseinsschichten bestehen. Auch Historiker versuchen zu zeigen, dass es zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Vielzahl an Themen und Entwicklungen gab, und hoffen, dass sich der Leser dadurch bewusst wird, wie reichhaltig die menschliche Erfahrung – und die menschliche Interaktion mit dem physischen Universum – ist, ohne damit aber zu suggerieren, eine Ebene oder Bedeutung allein sei für das Leben der Menschen maßgeblich.
Das heißt freilich nicht, dass in den Kapiteln dieses Buches einfach nur verschiedene Themen ohne Schwerpunkt – sieht man vom übergreifenden Bezugsrahmen der Globalgeschichte einmal ab – präsentiert werden. Die Darstellung der Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg zeigt vielmehr eines ganz deutlich: ein bis dahin nicht gekanntes Maß an grenzüberschreitenden Interaktionen zwischen Menschen, ihren Gemeinschaften, Ideen und Gütern, mit der Folge, dass die Schicksale von Nationen, Zivilisationen, Individuen und der natürlichen Umwelt eng miteinander verknüpft waren, ob nun im politischen, ökonomischen, gesellschaftlichen oder kulturellen Bereich.
Wie Band 5 dieser Geschichte der Welt gezeigt hat, wurde die Welt zwischen 1870 und 1945 immer transnationaler, auch wenn die Nationen weiterhin machtvoll präsent waren. Diese Entwicklung setzte sich nach 1945 fort. Ein zentraler Unterschied zwischen diesen beiden Epochen globaler Transformation besteht freilich darin, dass in ersterem Zeitraum technische Innovationen und ökonomische Transaktionen zwar alle Winkel dieser Erde in engen Kontakt miteinander brachten, gleichzeitig aber die Welt in anderer Hinsicht noch nie so rigide geteilt war: in Kolonisatoren und Kolonialisierte, in Kapital und Arbeit, in Weiße und Farbige, in den Westen und in den Nicht-Westen, in «Zivilisierte» und «Unzivilisierte», schließlich in die «Großmächte» und die schwächeren Staaten. Oder anders gesagt: Die Transnationalisierung erfolgte in zweifacher Form, einmal in Richtung Einheit der Menschheit und einmal in Richtung Spaltung.
Im Gegensatz dazu hat sich die Welt seit 1945 in eine Reihe miteinander verknüpfter Beziehungen verwandelt, sodass die Kluft zwischen menschlicher Einheit und Spaltung – wenn auch niemals zur Gänze – überwunden wurde. War die globale Transformation früher vor allem durch die im Westen entwickelte moderne Technik und Ideologie vorangetrieben worden, so waren nunmehr im Wortsinne Millionen von Individuen und Menschengruppen an diesem Prozess beteiligt, in dessen Zuge viele der bestehenden Trennmauern niedergerissen wurden. Länder und Völker in nichtwestlichen Teilen der Welt haben aktiv Geschichte geschrieben und sich nicht einfach nur in eine westlich geprägte Welt eingefügt. In der Folge ist ein stärkeres «Menschheitsgefühl» entstanden, selbst wenn sich die Menschen ihrer Vielfalt deutlicher bewusst wurden. Ob die Menschheit unter diesen Umständen in der Lage ist, ihr Schicksal zu meistern, ein Schicksal, das heute eng mit der natürlichen Umwelt verbunden ist, wird die zentrale Frage des 21. Jahrhunderts sein.
Mit diesen und verwandten Themen befassen sich die folgenden Kapitel aus verschiedenen Perspektiven. Zunächst gibt Wilfried Loth einen Überblick über die internationale Politik nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Europa, doch auch die Entwicklungen in anderen Teilen der Welt werden gründlich analysiert. Der Übergang von der Allianz gegen die Achsenmächte, die den Krieg gewann, zur Gegnerschaft zwischen den USA und der UdSSR lässt sich auf einer Ebene als traditionelle geopolitische Geschichte der Rivalität zwischen Großmächten erzählen, doch wie der Autor zeigt, hatte der Kalte Krieg noch unzählige andere Dimensionen. Das hatte nicht zuletzt damit zu tun, dass viele Weltregionen, die bislang außerhalb des Großmachtdramas standen, ihre Unabhängigkeit erlangten und damit immer selbstbewusster auftraten. Anders gesagt: Weltpolitik wurde, was ihre Reichweite angeht, globaler denn je.
Die Schlüsselfrage jeder Darstellung des Kalten Krieges lautet natürlich, warum er «kalt» blieb und sich nicht zu einem dritten Weltkrieg entzündete. Wilfried Loth bietet in dieser Frage eine ganz neue Perspektive: Seiner Ansicht nach lief die Beziehung zwischen Washington und Moskau nicht von Anfang an zwangsläufig auf einen wechselseitigen Antagonismus hinaus, vielmehr führten eine Reihe von unglücklichen Aktionen, Missverständnissen und Fehleinschätzungen dazu, dass man die Weltpolitik in erster Linie unter dem Gesichtspunkt der bipolaren Auseinandersetzung betrachtete. Beiden Seiten kam es zudem aus innenpolitischen Gründen zupass, die Krise zu verschärfen. Ob militärische Aufrüstung, politische Einheit oder eine bestimmte Wirtschaftsstrategie – all das konnte im Namen nationaler Sicherheit vorangetrieben werden. Wie sich zeigte, gelang es dieser Bipolarität trotzdem ungleich besser, einen Krieg zu vermeiden, als den Großmächten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Andererseits kam es lokal zu gewaltsamen Zusammenstößen in Korea, Vietnam, Südasien, dem Nahen und Mittleren Osten sowie in Afrika, die letztlich genauso viele Menschenleben forderten wie der Zweite Weltkrieg. Loth analysiert jeden dieser Konflikte und geht dabei vor allem auch auf die jeweiligen Ursachen und Folgen ein.
Während der Kalte Krieg die Welt immer wieder spaltete, beförderten die ökonomischen Kräfte nach 1945 die gegenteilige Entwicklung. Der Frage, wie sich die globale wirtschaftliche Vernetzung entwickelte, geht Thomas W. Zeiler in Kapitel 2 nach. Er betont dabei vor allem die Rolle der USA, die in Handelsangelegenheiten, bei Investitionen und bei verwandten Transaktionen ein offenes, vernetztes System propagierten, was schließlich eine vollständige ökonomische Globalisierung zur Folge hatte. Diese Politik stand häufig, aber nicht immer im Zusammenhang mit der amerikanischen Strategie des Kalten Krieges, nämlich die relative...