Wolfram Pyta
Die Bundesliga hat viele Kinder
Der vorliegende Band vereinigt Beiträge einer Tagung, die vom Herausgeber im Oktober 2011 in Köln durchgeführt wurde. Der Herausgeber dankt der Fritz Thyssen Stiftung für die großzügig gewährte Gastfreundschaft in ihren Räumlichkeiten im Herzen der Domstadt wie für die Finanzierung der Tagung. Da die Entwicklung der Fußballbundesliga das Zentrum der Konferenz bildete, war es auch Ausdruck des Traditionsbewußtseins, diese Tagung in der Stadt des ersten Meisters der Bundesliga zu veranstalten.
Es war Absicht dieser Tagung und ist damit zugleich Absicht des daraus erwachsenen Sammelbandes, zum einen eine Forschungsbilanz zur Geschichte des Fußballs in Deutschland zu präsentieren und dies zum anderen zu verbinden mit dem Identifizieren besonders erkenntnisträchtiger Felder künftiger Forschung. Der Herausgeber konnte dabei zurückgreifen auf Leitfragen der Sportgeschichte, die in jüngsten Publikationen1 als heuristisch besonders ergiebig qualifiziert wurden; daher drängte es sich geradezu auf, deren Validität an einem sporthistorischen Gegenstand von besonderer Relevanz zu erproben: der Fußball-Bundesliga.
Retrospektiv erscheint die Entwicklung der 1963 ins Leben gegründeten bundesdeutschen Eliteklasse als einzigartige Erfolgsgeschichte. In der Tat hätte beim Anpfiff der ersten Begegnung zwischen Werder Bremen und Borussia Dortmund im August 1963 kaum einer der damals Beteiligten vorherzusagen gewagt, daß knapp 50 Jahre später die zeitnahe Übertragung der Bundesligabegegnungen im frei empfangbaren Fernsehen zur kulturellen Grundversorgung der Gebührenzahler gerechnet werden kann. Unzweifelhaft hat sich die Bundesliga von überschaubaren Anfängen zu einer kulturell wie ökonomisch gleichermaßen werthaltigen Marke etabliert. Diese Erfolgsgeschichte kann jedoch dazu verführen, über krisenhafte Entwicklungen hinwegzusehen; und daher widmen sich mehrere Beiträge des vorliegenden Bandes gezielt solchen Wegscheiden, an denen der Bundesligafußball nicht mehr unumstrittene Leitsportart war, sondern sich mit Imageverlust und stark rückläufigem Zuschauerinteresse herumzuschlagen hatte. Dies mag ein Beispiel verdeutlichen, das nicht zufällig die Zuschauerresonanz auf die Begegnungen zwischen Bayern München und Borussia Mönchengladbach herausgreift - waren diese beiden Clubs doch diejenigen Vereine, welche die Bundesliga in den 1970er Jahren dominierten und der Bundesliga den Stempel aufdrückten. Doch elf Jahre nach der letzten Meisterschaft der Elf vom Niederrhein lockte das am 12. März 1988 ausgetragene Duell dieser beiden Teams, das in den 1970er Jahren als clásico hätte gelten können, wenn dieser Begriff schon damals bekannt gewesen wäre, lediglich 18 000 Zuschauer in den weiten Rund des Münchner Olympiastadions, obgleich die Borussia als Tabellensechster in der Tabelle auf den vorderen Plätzen rangierte und der FC Bayern als aktueller Titelverteidiger die Saison mit einem zweiten Platz abschließen sollte. In den beiden Jahren darauf war das Olympiastadion bei den Begegnungen mit dem alten Rivalen mit 31 000 bzw. 20 000 Zuschauern auch nur spärlich gefüllt, obgleich die Bayern wieder einmal den Titel errangen.
Nicht nur hinsichtlich des Zuschauerverhaltens wäre ein Vergleich der Bundesliga mit der höchsten Spielklasse in den großen europäischen Fußballnationen England, Frankreich und Spanien reizvoll. Doch zu diesen Ligen existieren bislang keine historisch-systematischen, an archivalischem Quellenmaterial gehärteten Studien, die einen solchen Vergleich erlaubten. Der Beitrag des in Cambridge lehrenden Literaturwissenschaftlers und Historikers Christopher Young bietet aber immerhin vielversprechende Perspektiven für künftige Forschungen; seine Aussage, daß das bundesdeutsche Modell der Bundesliga eine Vielzahl struktureller Vorteile gegenüber den anderen Ligasystemen aufwies, verweist zugleich auf die politischen und gesellschaftlichen Faktoren, welche den Rahmen für die bundesdeutsche Eliteklasse schufen und damit deren Entwicklung maßgeblich bestimmten.
Damit ist zugleich ein Aspekt berührt, dessen Berücksichtigung heute zu den blanken Selbstverständlichkeiten der mittlerweile etablierten geschichtswissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Fußball zählt, aber in der gewissermaßen semiprofessionellen Phase einer stärker publizistisch ausgerichteten Fußballgeschichte kaum beherzigt wurde: die Einordnung der Fußballgeschichte in den Kontext übergreifender geschichtswissenschaftlicher Fragestellungen. Dabei leisten Politik-, Wirtschafts-, Sozial- wie Kulturgeschichte2 gleichermaßen unverzichtbare Dienste, um das heuristische Potential des fußballerischen Gegenstandes auszuschöpfen. Das sich daraus ergebende Anforderungsprofil an die Verfasser derartig konzipierter Studien mag ein Grund dafür sein, daß sich die Zahl entsprechender Monographien bislang in einem überschaubarem Rahmen hält. Doch seit der Entdeckung der Sportgeschichte im Allgemeinen und der Fußballgeschichte im Besonderen durch eine theoretisch geschulte Geschichtswissenschaft liegen einige maßstäbesetzende Studien vor, welche aus unterschiedlichen Blickwinkeln die Anfänge und die Etablierung des deutschen Fußballs in den Blick nehmen.3
Auch kann die Forschung auf einige wenige monographische Werke zurückgreifen, welche Vereine und fußballerische Großereignisse unter die Lupe nehmen. Auf Vereinsebene hat sich die geschichtswissenschaftliche Forschung bislang allerdings ausschließlich der Frage nach dem Verhalten prominenter Clubs während der NS-Zeit zugewandt. Daß Vereine wie Hertha BSC oder Schalke 04 derartige Studien initiierten, ohne in irgendeiner Weise Einfluß auf die Ergebnisse zu nehmen,4 ist zweifellos ein ermutigendes Signal, daß Aushängeschilder des deutschen Fußballs die Konfrontation auch mit dunklen Seiten der Vereinsgeschichte nicht scheuen. Bei diesem heiklen Thema der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit hat im Übrigen der Deutsche Fußball-Bund eine Schrittmacherrolle eingenommen, als er im Dezember 2001 eine dreijährige Forschungsarbeit über den DFB im NS-Staat an einen Allgemeinhistoriker vergab5; die daraus hervorgegangene Publikation setzte in vielerlei Hinsicht Maßstäbe, wie sich akademische Historiker solchen sensiblen Themen sine ira et studio annehmen sollten.
Doch fehlt es bislang an einer geschichtswissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Monographie über einen sportlich herausragenden deutschen Fußballverein, welche dessen komplette Historie untersucht und dabei nicht zuletzt auf die Zeit der Bundesliga eingeht. Dieses Versäumnis mag neben der in vielen Fällen defizitären Quellenlage auch dem Umstand geschuldet sein, daß bislang keine einzige Darstellung zur Geschichte der Bundesliga vorliegt, welche den oben erwähnten Kriterien Genüge tut. Daher könnte von der kurz vor dem Abschluß stehenden Publikation von Nils Havemann zur Geschichte der Bundesliga6 eine Signalwirkung ausgehen: Stellt diese Studie doch aller Voraussicht nach ein breites Kontextwissen bereit, auf welches künftige vereinsgeschichtliche Untersuchungen bei der Einordnung ihres Gegenstandes zurückgreifen könnten. Der Beitrag von Nils Havemann in dem vorliegenden Sammelband vermittelt einen Eindruck über erste Ergebnisse seiner Studie.
Sportliche Großereignisse haben sich in besonderer Weise als Motor für die Aufwärtsentwicklung des Sports in Deutschland erwiesen. Hier kann die Forschung auf zwei stilbildende Monographien Rekurs nehmen, welche zwei wichtige Wegscheiden in den Blick nehmen. Daß der Fußball in Deutschland durch den unverhofften Sieg bei der Weltmeisterschaft 1954 einen enormen Auftrieb erhielt, war lange Zeit eine scheinbar gesicherte Erkenntnis, die durch die Studie von Franz-Josef Brüggemeier7 einer differenzierteren Sichtweise Platz machte, welche die Flüchtigkeit der sozial- und kulturhistorischen Auswirkungen des Sieges von Bern beleuchtete. Wie vorbildlich Politik-, Sozial- und Kulturgeschichte miteinander verflochten werden können, um ein olympisches Großereignis – in diesem Fall die olympischen Sommerspiele in München im Jahre 1972 – facettenreich zu betrachten, haben die beiden in Großbritannien lehrenden Historiker Kay Schiller und Christopher Young vorgeführt8, die in dem vorliegenden Band mit eigenen Beiträgen vertreten sind. Der Aufsatz von Kay Schiller greift dabei zurück auf Erkenntnisse seines laufenden Forschungsprojekts zur Geschichte der Fußballweltmeisterschaft 1974, das verspricht, die erste geschichtswissenschaftlichen Maßstäben genügende Darstellung einer Fußballweltmeisterschaft zu werden.
Die vorstehenden Auswirkungen dürften verdeutlicht haben, daß die Bundesliga einen überaus reizvollen Untersuchungsgegenstand bildet, dem mit Hilfe des Instrumentariums theoretisch geschulter Sporthistoriker eine Fülle von Facetten abzugewinnen sind. Dabei steht außer Frage, daß bei einer solchen Exploration Ansätze und Erkenntnisse aus anderen qualitativ arbeitenden Wissenschaften einfließen sollten, deren Begriffe und Methoden die Geschichte der Bundesliga heuristisch zu erschließen vermögen. Insofern vereinigt der vorliegende Band Beiträge von Wissenschaftlern aus sechs verschiedenen Disziplinen, die sich dem Gegenstand von ihrer jeweiligen disziplinären Blickrichtung zuwenden, aber dabei stets eine historische Perspektive einnehmen.
Der Sportwissenschaftler Michael Krüger geht ein auf den großen Konkurrenten des Fußballs in Deutschland, das Turnen, und beleuchtet die dynamische Interaktionsgeschichte beider körperlicher Praxen vom...