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Geschichte des Westens

Die Zeit der Weltkriege 1914-1945

AutorHeinrich August Winkler
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl1350 Seiten
ISBN9783406621864
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis22,99 EUR
Kriege, Krisen, Katastrophen - die Jahre zwischen 1914 und 1945 erscheinen manchen Zeitgenossen wie ein zweiter dreißigjähriger Krieg. Sie sind das «deutsche Kapitel» in der Geschichte des Westens und das schrecklichste Kapitel in der Geschichte der Menschheit. Heinrich August Winkler schildert mit meisterhafter Darstellungskunst die dramatischsten Jahrzehnte des 20.Jahrhunderts - vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs bis zur deutschen Kapitulation im Mai 1945 und den Atombomben von Hiroshima und Nagasaki drei Monate später. «Der zweite Band dieses epischen Werkes ist eine außergewöhnliche Tour de force - ein ebenso gewaltiges wie kenntnisreiches Panorama der westlichen Welt im Zeitalter ihrer größten Katastrophe.» Ian Kershaw «Eine ineinander verwobene Politikgeschichte der europäischen Großmächte und der Vereinigten Staaten. (...) Eine Darstellung, wie man sie klüger, genauer und umfassender kaum denken kann.» Ulrich Herbert, FAZ «Heinrich August Winkler ist mit dem zweiten Band seiner 'Geschichte des Westens' über die Zeit von 1914 bis 1945 eine große Erzählung gelungen.» Peer Steinbrück, Der Spiegel

Heinrich August Winkler, geb. 1938 in Königsberg, studierte Geschichte, Philosophie und öffentliches Recht in Tübingen, Münster und Heidelberg. Er habilitierte sich 1970 in Berlin an der Freien Universität und war zunächst dort, danach von 1972 bis 1991 Professor in Freiburg. Seit 1991 war er bis zu seiner Emeritierung Professor für Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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Leseprobe

1.
Die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts:
Der Erste Weltkrieg


Schlachten und Kriegsverbrechen:
Das militärische Geschehen 1914–1916


Kurz würde der Krieg sein und mit einem Sieg des eigenen Landes enden: In dieser Erwartung waren sich die Menschen einig, die im August 1914 in Berlin, Wien, Paris, London oder St. Petersburg den ins Feld ziehenden Soldaten zujubelten. Wenige Monate reichten aus, um in allen kriegführenden Ländern Ernüchterung einziehen zu lassen. Mit einer raschen Niederwerfung der Feinde konnte man seit Ende 1914 nicht mehr rechnen. Dieser Krieg hatte von Anfang an andere, größere Dimensionen als die europäischen Waffengänge der Vergangenheit, an denen viele der älteren Zeitgenossen selbst noch teilgenommen hatten.

Die Kriegsgegner der ersten vier Wochen waren auf der einen Seite die beiden Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn, auf der anderen die Tripelentente Rußland, Frankreich und Großbritannien sowie Serbien, Montenegro und Japan. Das neutrale Belgien wurde zum Kriegsgegner Deutschlands, weil es sich einem Berliner Ultimatum nicht gebeugt hatte, sondern sich dem Bruch des Völkerrechts widersetzte. Im Oktober 1914 trat die Türkei, im Oktober 1915 Bulgarien auf der Seite der Mittelmächte in den Krieg ein. Die Tripelentente wurde im Mai 1915 durch den Kriegseintritt Italiens verstärkt; 1916 folgten Portugal, Rumänien und Griechenland.

In den ersten Wochen des Krieges wühlte nichts die internationale Öffentlichkeit so sehr auf wie die deutschen Kriegsgreuel im neutralen Belgien. Die belgische Armee leistete unerwartet starken Widerstand gegen die deutschen Invasionstruppen; vereinzelt mögen sich auch nichtuniformierte Angehörige der Garde civique an den Kämpfen beteiligt haben. Beim deutschen Militär kam jedenfalls sogleich eine panikartige Angst vor «Franctireurs» auf, wie sie im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 in Erscheinung getreten waren. Die Antwort bestand in der Zerstörung privater und öffentlicher Gebäude, in Geiselnahmen und der wahllosen Exekution von Zivilisten, die fälschlich beschuldigt wurden, auf deutsche Soldaten geschossen zu haben. In Löwen wurden Ende August große Teile der mittelalterlichen Stadt, darunter die wertvolle Bibliothek der Katholischen Universität, niedergebrannt. Insgesamt kamen während der Massaker zwischen August und Oktober 1914 5521 belgische Zivilisten um. Ungezählt blieben die Vergewaltigungen belgischer Frauen und Mädchen durch deutsche Soldaten. Immer wieder behauptet, aber nicht bewiesen wurden Verstümmelungen wie das Abhacken von Kinderhänden: vermutlich ein Phantasieprodukt, dessen psychologische Ursprünge in der kolonialen Praxis im Kongo Leopolds II., des 1909 verstorbenen Königs der Belgier, lagen.

John Horne und Alan Kramer, die Autoren der bislang gründlichsten Untersuchung der deutschen Kriegsgreuel von 1914, nennen den Irrglauben der Deutschen, die Belgier führten einen «Volkskrieg» gegen sie, einen «außerordentlichen Fall von Autosuggestion, wie er in einem modernen Heer seinesgleichen sucht». Was es tatsächlich an Grausamkeiten von deutscher Seite gab, war so schrecklich, daß in Belgien, Frankreich und England auch das für wahr gehalten wurde, was wohl eher einer erregten Einbildung entsprang: die abgehackten Kinderhände, die, in den Worten von Horne und Kramer, zu einer «Allegorie auf die Invasion, den Feind und den Krieg» wurden. Das brutale Vorgehen der deutschen Truppen in Belgien und kurz darauf auch in Nordfrankreich wurde als typischer Ausdruck des preußischdeutschen Militarismus gedeutet: unvereinbar mit der auch vom Deutschen Reich unterzeichneten Haager Landkriegsordnung von 1907 und dem Anspruch der Deutschen, eine der führenden Kulturnationen der Welt zu sein. Fortan fiel es den alliierten Kriegspropagandisten leicht, die barbarischen Feinde als die Hunnen der Gegenwart und Kaiser Wilhelm II. als Wiedergeburt König Attilas darzustellen.

Gegen solche Angriffe versuchten sich Anfang Oktober 1914 93 bekannte deutsche Gelehrte, Künstler und Intellektuelle, unter ihnen der Zoologe und sozialdarwinistische Philosoph Ernst Haeckel, der Philosoph und Nobelpreisträger für Literatur Rudolf Eucken, der Chemiker Fritz Haber, der Immunologe und Nobelpreisträger für Medizin Paul Ehrlich, die Historiker Eduard Meyer und Karl Lamprecht, der Maler Max Liebermann und der Dichter Gerhart Hauptmann, mit ihrer Unterschrift unter einem amtlich inspirierten «Aufruf an die Kulturwelt» zu verteidigen. Darin stritten sie eine deutsche Kriegsschuld ebenso ab wie eine freventliche Verletzung der belgischen Neutralität; sie behaupteten, daß das Leben und das Eigentum keines belgischen Bürgers angetastet worden seien, außer wenn es die bitterste Notwehr geboten habe; sie leugneten das Zerstörungswerk deutscher Truppen in Löwen und verstiegen sich zu der Aussage: «Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden vertilgt worden.» Die Wirkung im feindlichen und im neutralen Ausland war verheerend: Die geistige Elite Deutschlands schien sich von eben jener «Kulturwelt» verabschiedet zu haben, an die sie in ihrem patriotischem Manifest appellierte.

Im September 1914 kam der deutsche Vormarsch in Nordfrankreich zum Stehen. Der tief pessimistisch gestimmte deutsche Generalstabschef Helmuth Graf von Moltke («der Jüngere») gab die Schlacht an der Marne ohne zwingenden Grund verloren, ordnete überstürzt den Rückzug an und wurde am 14. September durch den preußischen Kriegsminister Erich von Falkenhayn abgelöst. Der «Schlieffenplan» – das strategische Kalkül, nach einem Durchbruch in Belgien und Lothringen die französischen Streitkräfte rasch niederzuwerfen, um dann die Hauptmasse der deutschen Armeen in den Kampf gegen Rußland zu schicken – war damit gescheitert. Den Deutschen gelang es nicht, die wichtigsten Häfen am Ärmelkanal, darunter Dünkirchen und Boulogne-sur-Mer, einzunehmen, über die der Nachschub der britischen Expeditionary Force lief. Die Materialschlachten vom Herbst 1914, bei denen mal die eine, mal die andere Seite Erfolge verbuchte, verliefen äußerst verlustreich. Die Westfront zwischen Flandern und dem Oberelsaß erstarrte zum Stellungskrieg.

Im Osten erreichte Deutschland in den ersten Kriegsmonaten, was ihm im Westen im ganzen Krieg versagt blieb: einen militärischen Triumph über den Gegner. Ende August 1914 schlug die 8. Armee unter dem nominellen Kommando des reaktivierten Infanteriegenerals Paul von Hindenburg und dem tatsächlichen seines Stabschefs General Erich Ludendorff, der kurz zuvor Lüttich erobert hatte, bei Ortelsburg die nach Ostpreußen eingedrungene russische Narew-Armee. Benannt wurde die Schlacht freilich aus Gründen der historischen Symbolik nach dem nahe gelegenen kleinen Ort Tannenberg, wo 1410 Polen und Litauer das Heer des Deutschen Ritterordens vernichtet hatten.

Im September folgte der Sieg über die Njemen-Armee an den masurischen Seen. Die schwerste und endgültige Niederlage der Russen in Ostpreußen war die in der masurischen Winterschlacht vom Februar 1915. Auch an der polnischen Front konnten die dort eingesetzten deutschen und österreichischen Verbände im Herbst 1914 beträchtliche Geländegewinne erzielen. Im Frühjahr 1915 aber scheiterte ein Versuch der österreichisch-ungarischen Truppen, die Russen in den Karpaten zurückzudrängen. Die Donaumonarchie, die bereits 1914 1,2 Millionen Mann verloren hatte, büßte weitere 800.000 Mann ein: ein Schlag, von dem sich der wichtigste Verbündete Deutschlands bis zum Kriegsende nicht mehr erholen sollte.

Zusammen konnten die beiden Mittelmächte das Zarenreich dennoch weiterhin massiv bedrängen. Zwischen Mai und Oktober 1915 eroberten sie Litauen, Kurland und Russisch-Polen und vertrieben die Russen aus Galizien. Während ihres Rückzugs deportierte die russische Armee im vermeintlichen Interesse ihrer eigenen Sicherheit über 1,6 Millionen Litauer, Letten, Juden und Polen ins russische Hinterland – ein Vorspiel zu dem noch weit grausameren Schicksal, das das Zarenreich im Jahr 1916 turkmenischen und kirgisischen Nomaden bereitete, nachdem diese sich gegen die Einbeziehung der Muslime in die allgemeine Wehrpflicht aufgelehnt hatten: Etwa 500.000 von ihnen wurden ihrer Herden und ihrer sonstigen Habe beraubt und in die Berge oder Wüste vertrieben, wo sie elend umkamen. Seit dem Herbst 1915 entwickelte sich dann auch im Osten ein zäher Stellungskrieg, der im Sommer 1916 durch die «Brussilow-Offensive» der Russen unterbrochen wurde. Die Armee der Donaumonarchie erlitt in der Bukowina eine verheerende Niederlage. Der Frontenverlauf sollte sich von da an bis zur russischen Februarrevolution von 1917 nicht mehr wesentlich verändern.

Die militärische Lage erlaubte es den beiden Mittelmächten, am 5. November 1916 durch eine gemeinsame Erklärung von Kaiser Wilhelm II. und Kaiser Franz Joseph auf dem Gebiet von Russisch-Polen einen polnischen Staat, das «Königreich Polen», zu proklamieren. Die eigentliche Exekutive lag aber nicht bei dem neugebildeten polnischen Staatsrat in Warschau, sondern in den Händen des...

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