1. Eine Stadt mit vielen Gesichtern
Eine unvergleichliche Lage
Istanbuls unvergleichliche Lage hat viele Generationen seiner Bewohner und ungezählte Besucher durch alle Jahrhunderte entzückt. Die Silhouette der mit ihrer Ostspitze (Sarayburnu) in den Bosporus ragenden Halbinsel (heute gerne «Historische Altstadt» genannt), nach römischem Vorbild angeblich auf sieben Hügel verteilt, wurde immer wieder gezeichnet, gemalt und fotografiert. Galata auf der anderen Seite des Goldenen Horns hatte seit dem 14. Jahrhundert mit seinem Genueserturm einen markanten Mittelpunkt. Innerhalb der Altstadt sind die Höhenunterschiede gering, erlauben und erlaubten aber von vielen Punkten prachtvolle Ausblicke. Mitte des 16. Jahrhundert versetzte sich Pierre Gilles (siehe S. 57) in die Lage des Großherrn: «Wenn er in den Gärten oder Gebäuden [des Serails] lustwandelt, erblickt er vor sich den Bosporus und seine beiden begrünten Ufer und die Wälder der Landgüter vor der Stadt. Rechts sieht er das ausgedehnte Feld von Chalcedon [Kadıköy], das mit seinen eigenen Gärten bepflanzt ist; er sieht die Propontis [das Marmarameer] mit ihren zahlreichen Inseln und die bewaldeten Berge von Asien. Wenn er in die Ferne schaut, erblickt er den stets schneebedeckten asiatischen Olympos [Uludağ], aus der Nähe sieht er vor sich den namhaftesten Teil seiner eigenen Stadt, den Tempel der Sophia und das Hippodrom. Wirft er seinen Blick nach links, sieht er die sechs [übrigen] Hügel der Stadt und noch weiter weg die unermesslichen, ausgedehnten Ebenen von Thrakien.»
Pierre Gilles war der erste westliche Autor, der von sieben Hügeln als geografischem Bezugsrahmen für die Beschreibung der Stadt sprach. Tatsächlich lassen sich sechs Erhebungen auf dem Rücken zwischen der Akropolis bzw. dem Topkapı-Serail und dem Edirnekapı mit der Mihrimâh-Moschee ausmachen. Der siebte Hügel ist der durch den Lykosbach getrennte Xerolophos («Trockener Hügel») im Südwesten beim Arkadius-Forum/Avrettaşı. Der zweite Hügel mit dem Konstantin-Forum war Mittelpunkt der antiken und byzantinischen Stadt, der dritte Hügel wurde mit dem Forum des Theodosius (Beyazıt-Platz) ausgestaltet. Auf dem höchsten Stadthügel wurde das Mausoleum bzw. die Apostelkirche Konstantins des Großen angelegt.
Der 262 Meter hohe Çamlıca auf der asiatischen Seite ist ein idealer Aussichtsberg, um ein noch größeres Panorama zu betrachten, das von den Prinzeninseln im Süden bis zur 1973 fertig gestellten ersten Bosporusbrücke reicht. Von hier aus ist die ganze Skyline mit den Wolkenkratzern zu erkennen, die inzwischen viele nördliche Stadtteile beherrschen. Im Osten des Gebiets von Groß-Istanbul erheben sich, vielfach vom Siedlungsbrei erfasst, am Rande des Industriegürtels der Alem Dağı (442 Meter) und der Aydos Dağı (537 Meter), kleine Berge, die noch im frühen 20. Jahrhundert beliebte Jagdgebiete waren. Die 100 bis 150 Meter hohen Hangzonen des 31,7 Kilometer langen und bei Büyükdere bis zu 3,3 Kilometer breiten Bosporus waren Voraussetzung für die Entstehung einer Kulturlandschaft, die in den osmanischen Jahrhunderten aus isolierten Fischerdörfern die Kulisse eines Canale Grande hat werden lassen. Eine Satellitenkarte zeigt eindrucksvoll den Gegensatz zwischen den dicht besiedelten Wohn- und Industriegebieten, die nur zögerlich entflochten werden, und den Schutzwaldzonen mit seinen Trinkwasserreservoirs im Norden beider Stadthälften.
Durch die Lage Istanbuls am Rand des subtropischen Marmarabeckens treffen sich mediterrane und pontische Einflüsse. Dieses «Sonderklima» beschert der Stadt manchmal reichliche Sommerniederschläge, doch können auch ausgedehnte Trockenperioden auftreten. Die durchschnittlichen Jahresniederschlagswerte von 691,4 Millimeter liegen deutlich höher als etwa die von Ankara (367,0 Millimeter). Für den Wasserbedarf einer großen Stadt reichten diese Niederschlagsmengen freilich ohne den Bau von Fernwasserleitungen zu keiner Zeit aus.
Die mittlere Jahrestemperatur beträgt 13,7 °C, wobei die Mittelwerte im Januar bei 5° und im Juli bei 24 °C liegen. Die Temperatur des Meeres erreicht im Jahresdurchschnitt 14,9 °C und steigt in den Sommermonaten Mai bis September etwas über 20 °C. Mehrfach berichten die Chronisten in byzantinischer (zwischen dem 8. und 13. Jahrhundert) und osmanischer Zeit (1621, 1751, 1849) vom Zufrieren des Goldenen Horns und des Bosporus. Der Bosporus war aber schon wegen seiner starken Strömung kaum je ganz mit Eis bedeckt. Wahrscheinlich handelt es sich in den Berichten (z.B. aus den Jahren 764 und 928) eher um dichtes Treibeis aus dem Schwarzen Meer. Katastrophale Schneefälle werden selten erwähnt. Seit dem Beginn meteorologischer Aufzeichnungen (ca. 1850) werden im Durchschnitt zwischen 3 und 11 Schneetage im Jahr gezählt. Immer wieder ist zudem von Starkregen mit oft verheerenden Folgen für die Häuser in Hanglagen oder an überbauten Bachläufen (zuletzt im September 2009) die Rede.
Das Goldene Horn, das ursprünglich etwa die doppelte Länge hatte, kennt kaum Strömungen, da es vor Nord- und Südwinden gleichermaßen durch die Hügel der Stadt geschützt ist. Die Wind- und Strömungsverhältnisse in den Dardanellen erschwerten hingegen die Einfahrt der Segelschiffe ins Marmarameer auch im Sommer. Vor dem Aufkommen größerer Wasserfahrzeuge im späten 13. Jahrhundert herrschte in den Häfen Winterruhe. Obwohl sich kontinentale Kaltluft vom Balkan im Winter unangenehm bemerkbar macht, gedeihen in der Stadt Olivenbäume; der Name der Teilstadt Zeytinburnu («Olivenkap») erinnert daran. Ebenso eignet sich die Stadt für den Weinbau, über den es einige Berichte aus byzantinischer Zeit gibt.
Die Istanbuler Bevölkerung hatte ein feines Gespür für den Jahresablauf der Witterung und die wechselnden Windrichtungen. Die alten Namen für den vorherrschenden Nordostwind (boreas aus griech. poyraz) und den im Sommer aus Nordwesten wehenden Landwind (meltem aus roman. maltempo?) sind noch heute geläufig. Das Auftreten bestimmter Fischsorten (lüfer, «Blaubarsch») im Bosporus in den Teşrinler (den Monaten Oktober und November) und das Erblühen des Judasbaums (erguvan) im April sind feste Daten in einem Jahreskalender, der unabhängig von vielen konkurrierenden religiösen und säkularen Zeitrechnungen den Rhythmus der Istanbuler in allen Epochen bestimmte.
In byzantinischer und osmanischer Zeit war der saisonale Wechsel zwischen Sommer- und Winterresidenz fester Bestandteil des höfischen Lebens. Die Kaiser und Sultane hatten ausgedehnte Parks als Rückzugsorte. Alexius III. (1195–1203) besaß einen von den Kreuzfahrern staunend betrachteten Palast in Chalcedon gegenüber von Konstantinopel. Sultan Süleymân I. (1520–1566) ließ ebenfalls auf der asiatischen Seite das Kavak Sarayı bauen, das mit seinen Pavillons und Türmen ein verkleinertes Ebenbild des Topkapı-Serails war.
Das ursprüngliche Relief Istanbuls wurde und wird durch Bauwerke auf Substruktionen (Hippodrom, Foren, Moscheen, moderne Straßenbauten) stark verändert. Auch die Küstenlinien erfuhren durch die Anlage von Häfen und durch ihre zum Teil künstliche Wiederauffüllung eine mehrfache Verschiebung. Die ins Goldene Horn mündenden Wasserläufe von Alibey und Kağıthane sind kaum mehr zu erkennen. Der Lykosbach/Yenibahçe als einziger innerstädtischer «Fluss» war bis Anfang des 20. Jahrhunderts noch oberhalb der Fenari İsa Camii (Lips-Kloster) auf Karten eingetragen, heute läuft er durch den Kulturschutt unsichtbar auf den ehemaligen Theodosius-Hafen am Marmarameer zu.
Zu den von den Historikern und Geographen immer wieder hervorgehobenen «Gunstfaktoren» Istanbuls gehört vor allem die Lage an der Landbrücke zwischen Südosteuropa und Kleinasien, die hier von wichtigen nord-südlichen Schifffahrtsrouten gekreuzt wird. Strategische Vorteile waren damit nicht unbedingt verbunden, ist doch sowohl das thrakische als auch das bithynische Vorland auf beiden Seiten des Bosporus weithin flach und trocken und konnte von feindlichen Heeren verhältnismäßig rasch besetzt werden. Zudem machte das Fehlen von leicht nutzbaren Grund- und Oberflächenwasservorkommen den aufwendigen Bau und Unterhalt von Fernwasserleitungen und Zisternen erforderlich. Darüber hinaus wurde die ost-westlich verlaufende nordanatolische Erdbebennaht für Istanbul viele Dutzende Male zum Verhängnis. Beim Marmara-Erdbeben von 1999, dessen Epizentren bis zu 120 Kilometer vom Westen Istanbuls entfernt lagen, wurde noch der Stadtteil Avcılar erfasst. 978 Menschen fanden dort in unsicheren Wohnblöcken den Tod. Der nur eingeschränkt kontrollierbare Verkehr auf dem vielfach gewundenen Bosporus, der an seiner engsten Stelle bei Rumeli Hisarı nur 350 Meter breit ist, bildet eine latente Gefährdung der Anrainer.
Die geographische Lage aber ist es auch, welche die Megacity mit knapp 12 Millionen registrierten Einwohnern im Jahr 2008 trotz aller negativer Folgen für einen großen Teil der...