451. Rethinking Functionalism
Wie positioniert sich die qualitative Sozialforschung epistemologisch und sozialtheoretisch innerhalb der Soziologie, vor allem innerhalb einer Soziologie, die sich mit ihren internen Unterscheidungen bestens eingerichtet zu haben scheint? Man könnte eine hübsche Kreuztabelle anfertigen, um diese Lieblingsunterscheidungen zu systematisieren, etwa das Begriffspaar qualitative vs. quantitative Sozialforschung mit dem Begriffspaar Empirie und Theorie kreuzen. Man bekäme vier Felder, die durchaus trennscharf wären, ohne dass man ihnen bei genauerem Hinsehen wirklich glauben könnte.
Letztlich bildete ein solches virtuelles Vierfelderschema nur eine Konvention ab, die es innerhalb der Soziologie ermöglicht, zu zeitfestem, stabilem Unterscheidungsgebrauch zu kommen und Bezeichnungen als eine Seite einer Form ausdrücken zu können. Was wäre die qualitative Sozialforschung ohne die quantitative, was eine Theorie ohne ihre andere Seite, die Empirie? Es gibt zum Beispiel keine philosophische Theorie, weil es keine philosophische Empirie gibt. Es gibt zwar den Unterschied zwischen praktischer und theoretischer Philosophie, aber auch darin bildet sich letztlich nur eine Arbeitsteilung ab, die in der bürgerlichen Gesellschaft als Entkoppelung von Wahrheits- und Richtigkeitsfragen ihren historischen Ursprung hat.
Soziologie als Praxis
Es sollte bereits hier deutlich geworden sein, dass es sich bei der internen Formgebung unseres Faches keineswegs um etwas handelt, das sich irgendwie durch den Gegenstand des Faches ergäbe, auch wird nicht einmal der strengste Hempel-Oppenheimer behaupten, wir lebten in einer Welt, die selbst dem deduktiv-nomologischen Charakter des Experimentalmodells der wissenschaftlichen Erklärung subordiniert sei.?[1] Die internen Unterscheidungen 46der Soziologie sind kontingent, das heißt sie sind weder zufällig noch notwendig so entstanden, wie sie sich nun zeigen. Sie sind nicht das ganz Andere ihres Gegenstandes, sondern selbst soziale Praxis, Operationen des gleichen Typs wie ihr Anderes, Strukturbildungen, wie sie überall dort anfallen, wo soziologische Beobachter etwas beobachten, was sie ihrem Gegenstandsbereich zugehörig erachten (vgl. dazu Nassehi 2008b, S. 179 ff.).
Die Frage der Gegenstandskonstitution der Soziologie stellt sich radikaler, wenn man zugleich mit im Auge hat, dass diese Frage selbst ebenso potenzieller Teil des Gegenstandes ist, und wenn man sich zugleich darüber im Klaren ist, dass diese Frage als wissenschaftliche Frage gestellt wird und in Praktiken wie etwa auf einer Tagung oder im textförmigen Nachgang auf eine Tagung auch nur als wissenschaftliche Frage gestellt werden kann (vgl. dazu Bourdieu 1998b) – selbst wenn man ihre Wissenschaftlichkeit in Abrede stellt, was ja wiederum den Rekurs auf Wissenschaft voraussetzte. Und dass die oben erwähnte interne Differenzierung unseres Faches tatsächlich eine wirkmächtige Praktik ist, eine operative Form, wird spätestens dann deutlich, wenn man die Bedingungen der Stabilisierung nicht nur in den internen Plausibilitäten ihrer Unterscheidbarkeit sucht. Dass diese logisch paradox gebaut ist, lässt sich leicht einsehen, denn die Bedingungen der Unterscheidung werden allein durch ihren Gebrauch gestiftet und sind mithin selbsttragend – wie jeder Unterscheidungsbrauch. Sinnfälliger wird die stabilisierende Funktion dieses internen Unterscheidungsgebrauchs dadurch, dass auch die organisierte Praxis universitärer Stellenbeschreibungen und -zuweisungen, der Zuweisung von Forschungsmitteln, nicht zuletzt der Selbstmobilisierung von Reputationsauditorien (etwa durch Sektionsbildung in wissenschaftlichen Gesellschaften, durch Stile von Zeitschriften und Spezialisierung von Verlagen) sich exakt dieses Unterscheidungsgebrauchs bedient und so Lehrstühle und Professuren für Theorien oder Methoden, für Qualitatives oder Quantitatives einrichtet und auch Studiengänge an dieser Tribalisierung engführt. Und selbst wenn man das aufsprengen wollte und nun alles anders zu machen gedenkt, wird man feststellen, dass einen die etablierten Praktiken nicht mit entsprechenden Mentalitäten versorgen können. Wissenschaftliche Subjekte, das gilt auch für soziologische Subjekte, sind keine Beobachter von außen, sondern exakt durch jene Praktiken erzeugt, 47in denen sie sich etablieren können (vgl. Engler 2001). Dass soziale Praktiken jene Adressen selbst erzeugen, denen sie Handlungen oder sonstige soziale Ereignisse zurechnen, ist eine die Soziologie ebenso konstituierende Selbstverständlichkeit wie offensichtlich immer noch eine merkwürdige Provokation. So werden also nicht nur die forschenden Subjekte von der Soziologie erzeugt, sondern vor allem die beforschten Subjekt-Objekte. Und selbst wenn manche Soziologie ihrer eigenen historisch-praktischen Genese nicht wirklich gewahr wird, so trägt sie diese in Form ihrer begrifflichen Formen geradezu wie eine Monstranz vor sich her, weil alles, was irgendwie als Theorie anschlussfähig wird, sich empirischen Anschauungen verdankt, die eben Anschauungen sind und nicht das Angeschaute.
So spricht etwa nichts gegen eine Historisierung des Modells des homo oeconomicus, dessen utilitaristische Selbstbeschreibung als Modell ja durchaus einen empirischen Sinn hat – zumindest so weit er empirisch einen solchen Sinn hat. Man beachte die Tautologie des Arguments. So scheint auch der homo sociologicus als normengeleiteter Akteur durchaus das Ergebnis einer Praxis der bürgerlichen Gesellschaft zu sein, in der sich historisch jener Sozialtyp entwickelt hat, den man nicht über äußeren Zwang seine Rollenerwartungen erfüllen lässt, sondern durch die subtile Transformation des Sollens in ein Wollen. Diese Hegelsche Figur der Unterwerfung des Besonderen unter ein Allgemeines als Freiheitsgeste war gewissermaßen die theoretische Startrampe für jene Denkungsart, die den soziologischen Mainstream normativer Integration bis heute beseelt – wenn auch mit weniger messianischen Energien als jener preußische Polizey-Philosoph, der im Staat als höchster gesellschaftlicher Allgemeinheit noch einen wirklichen Gott walten sah (vgl. dazu Nassehi 2006b, S. 69 ff.). Die bürgerliche Umformung des Sollens in ein Wollen lässt sich gar noch in der kritischen Wendung der Rollentheorie Ralf Dahrendorfs finden, der neben der Durkheimschen Diagnose der Gesellschaft als Zwangsmechanismus zugleich noch jenes Residuum des bürgerlichen Individuums vorfindet, dem der Zwang wenigstens rudimentär deutlich gewahr wird und der sein Wollen-Sollen dann durchs Leiden am Zwangscharakter des Wollens aufhebt (vgl. Dahrendorf 1974). Niklas Luhmann hatte wohl auch das im Blick, als er modernen Individuen später eine Exklusionsindividualität verpasste und dabei vergaß, 48wie sehr Individuen exakt das Gegenteil sind: Inklusionsindividualitäten, Subjekte, die durch jene Praktiken zu Subjekten werden, als die die Praktiken sie ansprechen – auch im sogenannten Exklusionsbereich bürgerlicher Selbsterkenntnis (vgl. Nassehi 2002b). Aber gerade darin ist der praktische Sinn einer solchen Figur zu sehen: in der Selbstbeschreibung bürgerlicher Individuen, man sagt: Subjekte, deren entscheidendes Bezugsproblem darin besteht, sich in einer Welt zu bewegen, in der sie aus Gründen der sozialen Ordnungsbildung jene Subjekte sein wollen, die sie aus guten empirischen Gründen nicht sein können, deren Zurechnungspraxis aber exakt jene Form der Selbstkontinuierung bürgerlicher sozialer Praxis annimmt, die die Antinomie von Wollen und Sollen verdeckt. Sie wollen wirklich – und das sollte man als Datum betrachten, als empirisches Datum wohlgemerkt.
Für Soziologen müsste es eigentlich eine Banalität sein: Die soziologische Nomenklatur ist selbst Teil eines historischen Prozesses, Teil einer Praxis, die offensichtlich Probleme löst, die nur sie hat – vielleicht wird hier schon deutlich, wie die Argumentation sich langsam dem funktionalistischen Gespenst nähert. Aber wie gesagt: langsam. Das empirische Datum des bürgerlichen Subjekts als Auskunft gebender, sich einer Vernunft unterwerfender Zurechnungsadresse schreit geradezu nach verstehender Soziologie, nach einer Soziologie, die an sich selbst beobachtet, was der Alltag stets tut: auslegen. Es war Alfred Schütz, der mit als Erster eindringlich betonte, dass die wissenschaftliche Einstellung auch nur eine Einstellung sei, mit eigenen Relevanzen und Typisierungsformen, mit eigenen epistemologischen Restriktionen und Konstruktionsleistungen (vgl. Schütz 1971a, S. 281 ff.). Und vielleicht ist die mit der Institutionentheorie angereicherte Perspektive von Peter Berger und Thomas Luckmann für die Praxis qualitativer Sozialforschung gerade deshalb so attraktiv, weil sie mit einem erheblichen Vertrauensvorschuss in die Konstruktionsleistungen von Alltagshandelnden arbeitet und damit tatsächlich jene für die Soziologie so konstitutive Intuition bedient, auch dem Subalternen in einer asymmetrisch gebauten Welt zur Sprache zu verhelfen. Die radikale Kritik am parsonianischen Mainstream – zumindest an der strukturfunktionalistischen Phase der Theoriebildung – bestand ja unter anderem darin, dass alles, was geschah, stets und immer wieder nur im Hinblick auf die gesamtgesellschaftliche Funktionalität 49beziehungsweise Dysfunktionalität abgescannt wurde – während die Probleme des Alltags nicht als solche auftauchten. Mit dem interpretativen Paradigma wurde gewissermaßen das strukturfunktionale Paradigma kleingearbeitet – auf die Augenhöhe des...