Einleitung
Jeder junge Mann“, schrieb Ernest Hemingway, „hält sich für unsterblich.“ Dasselbe lässt sich von jeder jungen Frau sagen. Doch welche Vorstellungen und Gedanken wir uns auch über das Leben machen, eine Tatsache können wir nicht verleugnen, an ihr kommt niemand vorbei: Wir werden alle älter. Das gilt für jedes Land und jedes Volk auf der Welt, aber jede Kultur geht mit dieser Realität ganz unterschiedlich um.
Für viele von uns ist Altern in der heutigen industrialisierten Welt mit Sorge und Angst verbunden. Wir fürchten uns davor. Die meisten älteren Menschen, denen wir begegnen, sind in zunehmendem Maße senil, gebrechlich und unglücklich. Und so graut es uns eher vor jedem Geburtstag, als dass wir uns darauf freuen, alt zu werden. Wir betrachten unsere späten Jahre nicht als eine Zeit der Ernte, des Wachstums und der Reife, wir fürchten uns vor einer Verschlechterung unseres Gesundheitszustandes mit so negativen Auswirkungen, dass ein langes Leben eher wie ein Fluch als wie ein Segen erscheint.
Denken wir an das Alter, dann haben wir oft Bilder von Hinfälligkeit und Verzweiflung vor Augen. Wir halten es für wahrscheinlicher, dass wir in Pflegeheimen dahinsiechen werden, als dass wir schwimmen gehen, im Garten arbeiten, mit Menschen, die uns nahestehen, lachen und uns an Kindern und an der Natur erfreuen werden.
Im Jahre 2005 nahm sich der berühmte amerikanische Autor Hunter S. Thompson das Leben. Er war erst 67 Jahre alt und nicht unheilbar krank. Er war vermögend und prominent, seine 32-jährige Frau liebte ihn. Doch er „entschied sich bewusst dafür, … die Demütigungen des hohen Alters nicht zu erdulden“1, wie sein Nachlassverwalter erklärte.
Wir leben leider in einer Gesellschaft, die die Älteren wenig achtet. In Fernsehshows und Filmen werden sie oft als gebrechlich, unproduktiv, mürrisch und starrköpfig dargestellt. Die Werbebranche, die von „Alkohol“ bis „Auto“ alles verkauft, arbeitet mit schönen, jungen Menschen und vermittelt den Eindruck, ältere seien unwichtig. Redensarten wie „alter Knacker“, „Grufti“, „alte Jungfer“, „geiler alter Bock“ und „verliebter alter Gockel“ erniedrigen die Älteren und halten das Klischee lebendig, sie verdienten keine Rücksichtnahme oder positive Zuwendung.
Grußkartenhersteller bringen regelmäßig Geburtstagskarten auf den Markt, die sich über die Mobilität, den Intellekt und den Geschlechtstrieb der nicht mehr ganz Jungen lustig machen. Hersteller von Geschenkartikeln bieten „Das war’s dann wohl“-Produkte an, etwa Geschenkboxen in Sargform zum fünfzigsten Geburtstag mit Pflaumensaft für die Verdauung oder einer „Entscheidungshilfe für die Alltagsplanung“ (einen großen sechseckigen Würfel, dessen Seitenflächen mit „Nickerchen“, „Fernsehen“, „Einkaufen“ usw. beschriftet sind). Zu den Geschenken zum 60. Geburtstag des Mannes gehören neben einem „lebenslangen“ Vorrat an Kondomen (genau einem) auch Party-Hüte mit der Aufschrift „Alter Knacker“.
Vielleicht schmunzeln wir über diese Art von Humor, doch negative Klischees sind perfide: Sie versehen das Altern mit einem gesellschaftlichen Stigma. Das kann den Lebenswillen beeinträchtigen und sogar das Leben verkürzen. In einer von der American Psychological Association (Verband der amerikanischen Psychologen) veröffentlichten Studie kam Dr. Becca Levy, Professorin an der Fakultät für das Öffentliche Gesundheitswesen in Yale, zu dem Schluss, dass selbst negative Gedanken über das Altern, die einem von der Gesellschaft eingeflößt werden, die Gesundheit schwächen und destruktive Folgen haben können.
In dieser Studie wurde eine große Anzahl Menschen mittleren Alters im Laufe von zwanzig Jahren sechsmal interviewt und gefragt, ob sie Aussagen wie „Mit zunehmendem Alter sind Sie zu immer weniger nütze“ zustimmten. Es war auffallend, dass die Vorstellungen, die die Menschen vom Altern hatten, sich stärker auf ihre Lebenserwartung auswirkten als ihr Blutdruck, ihr Cholesterinspiegel oder ob sie rauchten oder Sport trieben. Befragte mit einer positiven Einstellung zum Altern lebten durchschnittlich siebeneinhalb Jahre länger als die, deren Einstellung negativ war.2
Negative Bilder gefährden nicht nur die Gesundheit und verkürzen das Leben – sie wirken sich auch belastend auf die Gegenwart aus. Dr. Levys Studie ergab, dass Menschen mit einer negativen Einstellung zum Altern ihr Leben mit größerer Wahrscheinlichkeit für wertlos, leer und hoffnungslos hielten; die positiv Gestimmten betrachteten ihr Leben mit größerer Wahrscheinlichkeit als erfüllend und hoffnungsvoll.
Wenn wir respektlos mit älteren Menschen umgehen und sie einfach übersehen, versuchen wir, unseren eigenen Alterungsprozess zu ignorieren. Wir verheimlichen seine Anzeichen und blenden die Langzeitfolgen unserer Lebensführung aus. Folglich wählen wir einen nur kurzfristig sinnvollen Lebensstil, der am Ende einen hohen Tribut fordert.
Vor Kurzem fragte ich einen Freund nach seinen Vorstellungen vom Alter. „Ich werde wahrscheinlich in einem Pflegeheim landen“, antwortete er bitter, „und mit einer Magensonde in der Nase auf die schalldämmenden Platten an der Decke starren. Inkontinent, impotent und verarmt …“ Es ist traurig, doch solche Ansichten sind nicht ungewöhnlich. Ich habe Autoaufkleber gesehen, auf denen steht: „Räche dich: Lebe lang genug, um deinen Kindern zur Last zu fallen.“ Wer kein Vertrauen in den Prozess des Alterns hat, kann sich nur schwer vorstellen, seine späten Jahre zu genießen, zum Beispiel mit Tanzen, Joggen oder Wandern. Es kann schwierig sein, auch nur die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass man in jeder Phase seines Lebens wächst, sich verändert und kreativ ist.
In den letzten hundert Jahren stieg die durchschnittliche Lebenserwartung in den Industriestaaten um nahezu dreißig Jahre, doch für viele ältere Erwachsene sind die späten Jahre keine Zeit des Glücks und Wohlbefindens. Ein Jahrhundert zuvor war der durchschnittliche Erwachsene in den westlichen Ländern nur ein Prozent seiner Lebenszeit kränklich oder krank, doch beim heutigen durchschnittlichen modernen Erwachsenen sind es mehr als 10 Prozent. Die Menschen leben jetzt länger, aber allzu oft sterben sie auch länger – an chronischen Krankheiten, die zu Schwächezuständen und Beeinträchtigungen im Bereich der Wahrnehmung führen.
Bis 2025 werden die jährlichen Kosten für die Behandlung chronischer Krankheiten in den USA eine Billion Dollar übersteigen. Schon heute leidet die Hälfte der Menschen ab 65 an zwei oder mehr chronischen Krankheiten; ein Viertel von ihnen hat so schwerwiegende Probleme, dass eine oder mehrere alltägliche Verrichtungen nur begrenzt möglich sind. Mittlerweile sinkt das Durchschnittsalter der chronisch Kranken beständig. In allen Industriestaaten leben die Menschen länger, aber sie werden früher krank. Damit nimmt die Anzahl der Jahre, während derer sie chronisch krank sind, in beiden Richtungen zu. Manchmal glaube ich, dass wir nicht so sehr unser Leben als vielmehr unser Sterben verlängert haben. Wir haben zwar die Lebensspanne des Menschen gesteigert, nicht aber die Zeitspanne, in der er gesund ist.
Die Alterswelle
Obgleich es unseren alten Menschen immer schlechter geht, steigt ihre Anzahl ständig – ein Prozess, der sich exponentiell beschleunigt. Wie der Autor Ken Dychtwald in seinem zukunftsweisenden Buch Age Power (etwa: Die Macht des Alters) schreibt, leben in den Vereinigten Staaten im Augenblick etwa 80 Millionen Menschen der geburtenstarken Jahrgänge, die mit Riesenschritten auf das Alter zugehen.3 (Der Begriff „Babyboomer“, der sich dafür eingebürgert hat, bezieht sich im Allgemeinen auf die zwischen 1945 und 1960 Geborenen.)1*
Im Jahre 1900 gab es in den Vereinigten Staaten nur drei Millionen Menschen, die 65 Jahre oder älter waren. Bis zum Jahr 2000 war ihre Anzahl auf 33 Millionen hochgeschnellt.2*
Vor einem Jahrhundert hatte in den Vereinigten Staaten nicht einmal einer unter fünfhundert Menschen die Aussicht, hundert Jahre alt zu werden. Nun rechnet das Statistische Bundesamt der USA damit, dass jeder 26. der Babyboomer dieses Alter erreicht. Heute ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Großmutter eines 22-jährigen Amerikaners noch lebt, größer (91 Prozent) als die Wahrscheinlichkeit, dass die Mutter eines 22-Jährigen im Jahre 1900 noch am Leben war (83 Prozent).4
Diese anrollende Alterswelle ist das bedeutsamste demografische Ereignis unserer Zeit, es findet in jedem Industriestaat der Welt statt. Etwa die Hälfte aller Menschen, die jemals älter als 65 Jahre wurden, lebt heute.
In Chile, Costa Rica, Mexiko und Venezuela wird sich zwischen 2000 und 2025 laut Hochrechnungen der Anteil älterer Menschen an der jeweiligen Bevölkerung verdoppeln.5
Man rechnet damit, dass es in China bis Mitte des Jahrhunderts 332 Millionen Ältere geben wird. Das wären in einem einzelnen Land mehr als es noch 1990 auf der ganzen Welt gab.6
Laut der Abteilung für Bevölkerungsfragen der Vereinten Nationen (United Nation’s Population Division) sind nach grober...