Mut zum Beobachten!
„Die Neugier steht immer an erster Stelle eines Problems, das gelöst werden will.“
GALILEO GALILEI
Beobachtung ist die Grundlage jeder Wissenschaft. Sie und ich haben – wie alle anderen Menschen auf diesem Planeten – das Recht, die Dinge zu beobachten und eigene Schlüsse aus dem zu ziehen, was wir erfahren, ganz gleich, ob wir nun Wissenschaftler sind oder nicht. Wenn wir selbst experimentieren, trägt das dazu bei, dass wir unser Leben in der Hand behalten. Wissenschaftliche Daten können unsere persönlichen Erfahrungen niemals ersetzen.
Sagt man einem Kind, es soll nicht auf die Herdplatte fassen, weil diese heiß ist, dann bedeutet das so lange für das Kind nicht viel, bis es tatsächlich einmal versucht, auf die Herdplatte zu fassen und sich dabei wehtut. Nur durch eigene Erfahrung können wir lernen, Wirkungen mit Ursachen in Verbindung zu bringen, und erst dann wissen wir, was wir zu erwarten haben. Wenn wir zum Beispiel spät abends noch zu viel essen, können wir nicht davon ausgehen, dass wir uns am nächsten Morgen frisch und ausgeruht fühlen. Wissen wir, was geschehen wird, dann können wir im Alltag überlegt handeln und durch bewusstes Handeln die Ziele erreichen, die wir erreichen wollen. Das ist besser, als wenn wir dem Rat eines anderen, „der es wohl besser weiß“, blind folgen.
Ich wuchs in der Sowjetunion auf, wo wir alle von den staatlichen Einrichtungen kontrolliert wurden. Von Kindheit an erteilte man mir strenge Anweisungen, was ich zu tun, zu denken und zu sagen hätte. Ich fürchtete mich davor, Neues auszuprobieren. Aber ich hatte das große Glück, in meinem Leben vielen Menschen zu begegnen, die mich gelehrt haben, mutig zu sein und alles auszuprobieren, was ich wollte.
Ich muss Ihnen unbedingt von Alexander Suvorov erzählen, dem ich mehrfach begegnet bin und der viele Jahre lang mein Held und meine Inspiration war. Im Alter von drei Jahren erblindete Alexander und verlor sein Gehör. Dennoch wollte er das Leben voll auskosten. Er lernte zu sprechen und er lernte zu verstehen, was andere sagen, indem er ihre Hände hielt. Er machte einen ausgezeichneten Schulabschluss und verließ die Universität Moskau mit einem Doktortitel; er schrieb eine Reihe brillanter wissenschaftlicher Artikel darüber, welche Möglichkeiten es gibt, tauben und blinden Kindern zu helfen; er veröffentlichte mehrere Bücher und drehte einen vierzigminütigen Dokumentarfilm darüber, wie er die Welt wahrnahm. In den 1970er-Jahren begeisterte dieser Film in Moskau die Massen. Alexanders Aufrichtigkeit und seine Leidenschaft beeindruckten die Menschen tief. Ich erinnere mich, dass lange Zeit niemand das Kino verließ, nachdem der Film zu Ende war. Wir blieben einfach sitzen, verwirrt, schluchzend und voller Scham über unser feiges Leben und unsere dummen Ängste. Alexander Suvorov, der sein Leben in völliger Dunkelheit und ununterbrochener Stille verbrachte, träumte davon, in andere Länder zu reisen. Er erlernte zwei Fremdsprachen und bereiste mehrere Länder allein. Wurde er gefragt, warum er das tue, so antwortete er, er wolle „die Welt mit eigenen Augen sehen“. Wundervolle Menschen wie Alexander, die es wagen, „mit eigenen Augen zu sehen“, inspirieren mich dazu, das Leben um mich herum genauer zu erforschen und herauszufinden, bis wohin sich meine Grenzen erweitern lassen.
Wenn wir in unserem Leben immer wieder Neues ausprobieren und nach wahren Antworten suchen, werden wir sehr viel eigene Erfahrung sammeln und unser Wissen wird solide und lebenspraktisch werden. Wir werden uns selbst in allen Lebenslagen vertrauen, auch dann, wenn wir schnelle Entscheidungen treffen müssen. Richten wir uns aber im Gegensatz dazu nach dem, was andere sagen, dann können wir bestenfalls hoffen und beten, dass diejenigen, nach deren Richtlinien wir leben, ihr Wissen gründlich und sorgfältig erworben haben und aufrichtig sind. Mit anderen Worten: Wir hoffen, dass ein anderer sich besser um uns kümmert als wir selbst.
Wenn wir uns auf die Beobachtungen anderer Menschen und die Schlüsse, die sie daraus ziehen, verlassen, entscheiden wir uns bewusst dafür, blind und taub zu bleiben. Wir fühlen uns dazu gezwungen, uns wieder und wieder nach dem zu richten, was sie lehren, und tun Dinge, deren Hintergrund wir selbst nicht verstehen. Wir ordnen uns der Autorität der anderen unter. Wir geben unsere Macht fort.
Aufmerksam zu beobachten, das ist unser ureigenes Recht. Wenn wir unsere Beobachtungsgabe nutzen, können wir uns aus dem Labyrinth der Verwirrungen befreien. Ich bin der Ansicht, dass das, was wir selbst bewusst beobachten, tausendmal wichtiger ist als jede streng wissenschaftliche Behauptung.
Warum wurden in letzter Zeit so viele Bücher über Ernährung veröffentlicht? Ganz offensichtlich hat die Öffentlichkeit viele Fragen zum Thema „Gesundheit“, die von der weltweiten wissenschaftlichen Gemeinschaft noch nicht zufriedenstellend beantwortet werden konnten. Für die meisten Menschen sind Forscher weit von ihrem Lebensalltag entfernt und die Wissenschaftler haben gleichzeitig die Verbindung zum normalen Menschen verloren. Ich frage mich, warum das so gekommen ist, wo doch das eigentliche Ziel der Wissenschaft im Wohlergehen des Menschen liegt.
Die meisten Ergebnisse der Wissenschaft sind für gewöhnliche Menschen unzugänglich und unerschwinglich. So musste ich zum Beispiel für fast alle medizinischen Berichte (für eine zwei- oder dreiseitige Zusammenfassung) eine Unsumme bezahlen, manchmal sogar einige Hundert Dollar. Die Forschungsberichte sind außerdem meist in einer wissenschaftlichen Sprache geschrieben, die sie für Menschen unverständlich macht, die nicht dieser speziellen wissenschaftlichen Richtung angehören. Nach meinen Beobachtungen gibt es zunehmend mehr unterschiedliche Wissenschaftszweige und mit ihnen auch Fachbegriffe. Ich habe mit Dutzenden Wissenschaftlern der verschiedensten Bereiche in den unterschiedlichsten Teilen der Erde gesprochen, und nie ist mir ein Wissenschaftler begegnet, der Studien aller Richtungen hätte verstehen und erklären können. Je mehr Wissenschaftler zu einem Thema wissen, desto eher sagen sie sogar, wenn es um andere Themen geht: „Das ist nicht mein Gebiet.“
Diese Tendenz lässt darauf schließen, dass die Wissenschaft sich über das hinausbewegt, was ein gewöhnlicher Mensch noch verstehen kann, und zu einer reinen Wissenschaft um der Wissenschaft willen wird. Während die Öffentlichkeit etwas über die neuesten Ergebnisse erfahren möchte, entfernt die wissenschaftliche Welt sich zunehmend von den wirklich brennenden Fragen. Das Informationsvakuum wächst, besonders auf den Gebieten „Gesundheit“ und „Ernährung“.
Als Ersatz für diese fehlenden und eigentlich so notwendigen Informationen entwickelt die Öffentlichkeit ihre eigene Wissenschaft. Sie ist vielleicht nicht völlig exakt, aber doch für die Mehrheit der Menschen verständlich. Und so kommt es, dass Hunderte, wenn nicht sogar Tausende von Büchern über Ernährung von ganz normalen Menschen geschrieben werden, die verschiedene Studien durchführen, zuweilen sogar ohne den notwendigen finanziellen Hintergrund. Bei ihrer verzweifelten Suche nach Antworten auf ihre Fragen saugen die Menschen diese Fülle an Informationen auf und sind am Ende oft noch verwirrter als zuvor.
Ich stelle fest, dass viele Menschen dem geschriebenen Wort mehr trauen als dem gesprochenen. Aus Mangel an eigener Beobachtung und aufgrund einer Neigung, an Theorien festzuhalten, als wären sie in Stein gemeißelt, übernehmen Gesundheitsbewusste gern ein bestimmtes Konzept. Nach welchem Konzept sie nun leben, das richtet sich häufig einfach danach, welches Buch ihnen zuerst in die Hände fällt. Und weil es viele Bücher zum Thema „Ernährung“ gibt, widersprechen die Konzepte einander auch. Daher kann man heute Hunderten von Menschen begegnen, die einem völlig unterschiedliche Ratschläge geben, wie man sich ernähren sollte. Und alle haben Hunderte von unterschiedlichen Begründungen dafür, die sich wiederum gegenseitig ausschließen.
Als ich begann, rund um das Thema „grünes Blattgemüse“ zu recherchieren, versank ich sofort in einem Meer an Informationen. Ich wollte allerdings unbedingt die richtige Antwort finden, alles andere hätte ich nicht akzeptieren können. Ich fühlte mich nicht nur für meinen Mann und meine Kinder verantwortlich, die ich mit in die Rohkosternährung hineingezogen hatte, sondern auch für Tausende von Menschen in der ganzen Welt, die auf meine Anregung hin dazu übergegangen waren, sich rein rohköstlich zu ernähren. Schließlich beschloss ich, das Ganze ein paar Monate lang ruhen zu lassen und in dieser Zeit so viele Forschungsberichte zum Thema „Ernährung“ zu lesen, wie ich nur bekommen konnte. Ich beschloss, die vielen verschiedenen Meinungen, die es zu den Berichten gibt, einmal ganz außer Acht zu lassen und mich ausschließlich auf die zugrunde liegenden Original-Daten zu konzentrieren. Denn der menschliche Verstand ist fähig, logische Gedankenketten zu konstruieren, die den Leser elegant zu völlig falschen Schlussfolgerungen führen – und das mit verheerenden Folgen. (Ich werde später noch auf solche Denkfehler eingehen, auf die ich selbst hereingefallen bin.)
Ich entdeckte, dass es entscheidende Lücken, was die Daten anbelangt, sowie zahlreiche wichtige Nahrungsmittel gibt, deren Eigenschaften bislang noch nie untersucht worden sind. Mir wurde klar, dass ich, wenn ich die richtigen Schlüsse ziehen wollte, selbst einige Teststudien würde machen müssen. Schließlich war mein Leben sowieso schon ein Experiment und ich selbst war das Versuchskaninchen.
Mehr denn je bin ich...