Einführung: Der Umgang mit Stress, Schmerz und Krankheit
Dieses Buch will den Leser zu einer Entdeckungsreise einladen, die ihn zu persönlicher Weiterentwicklung, Selbstfindung und Heilung führt. Grundlage dafür sind vierunddreißig Jahre klinischer Erfahrung mit mehr als zwanzigtausend Patienten, die sich im Rahmen der Acht-Wochen-Kurse, die wir am Medical Center der University of Massachusetts in Worcester anbieten, bereits auf diese lebenslange Reise begeben haben. Das Programm, als MBSR oder Mindfulness-Based Stress Reduction bekannt geworden, hat seinen Ursprung in der dem Medical Center angeschlossenen Stress Reduction Clinic. Heute existieren überall in den USA und weltweit mehr als 720 Klinikprogramme, denen das MBSR-Achtsamkeitskonzept zugrunde liegt. Abertausende von Menschen haben seither an entsprechenden Programmen teilgenommen.
Seit der Gründung der Klinik im Jahre 1979 hat MBSR in der Medizin, Psychologie und Psychiatrie kontinuierlich Anstöße zu einer neuen Entwicklung gegeben, die man am besten als partizipatorische oder einbeziehende Medizin bezeichnen könnte. Übungsprogramme, die auf der Achtsamkeit beruhen, werden zur Chance für Menschen, die sich – über ihre reguläre medizinische Versorgung hinaus – für ihr eigenes körperliches Wohl einsetzen wollen.
Im Jahre 1979 war MBSR eine neuartige Methode klinischer Betreuung im Rahmen der Verhaltensmedizin, eines damals noch jungen Forschungszweigs, der heute allgemeiner als integrative oder ganzheitliche Medizin bezeichnet wird. Sie geht davon aus, dass mentale und emotionale Faktoren nicht nur erhebliche positive wie negative Auswirkungen auf unsere körperliche Gesundheit und unsere Fähigkeit zur Gesundung haben, sondern auch darüber bestimmen, ob wir auch angesichts chronischer Erkrankungen, chronischer Schmerzen und einer verbreitet von Stress geprägten Lebensweise in der Lage sind, uns Lebensqualität und Lebensfreude zu bewahren.
Wer dem MBSR-Ansatz folgt und diese innere Reise der Persönlichkeitsentwicklung und Selbstfindung, des Lernens und Heilwerdens antritt, hat das Bedürfnis, seine Gesundheit wiederherzustellen oder wenigstens zur inneren Ruhe zurückzufinden. Die Patienten kommen mit einer Vielfalt gesundheitlicher Probleme wie Kopfschmerzen, Bluthochdruck, Rückenschmerzen, Herzerkrankungen, Krebs und Aids oder auch mit Depressionen und Angstzuständen. Sie gehören allen Lebensstufen an, und sie lernen durch MBSR, wie sie verantwortungsvoll mit sich selbst umgehen, nicht als Ersatz für eine medizinische Behandlung, sondern als unverzichtbare Ergänzung dazu.
Im Laufe der Jahre hat es zahlreiche Anfragen von Menschen gegeben, die sich die Inhalte unseres Acht-Wochen-Programms zu Hause erarbeiten wollen. Dies bedeutet nichts anderes, als selbständig einem intensiven Übungsprogramm mit dem Ziel bewusster Lebensführung zu folgen. Das vorliegende Buch will vor allem diesem Bedarf gerecht werden. Es ist als praktischer Ratgeber für Kranke und Gesunde, für Gestresste und Schmerzgeplagte gedacht, für alle, die ihre mentalen Beschränkungen hinter sich lassen und eine andere Dimension der Gesundheit und des Wohlbefindens erfahren möchten.
Das MBSR-Programm basiert auf einer Form der Meditation, die in den buddhistischen Traditionen Asiens entwickelt wurde, einer streng geregelten und systematischen Schulung der Achtsamkeit. Vereinfacht ausgedrückt bedeutet Achtsamkeit, in jedem Augenblick präsent zu sein, ohne zu bewerten. Wir können sie entwickeln, indem wir unsere Aufmerksamkeit bewusst auf all die Verrichtungen und Geschehnisse des Alltags richten, die wir für gewöhnlich nicht beachten. Es ist ein systematischer Ansatz zur Ausbildung einer zuvor unbekannten Ebene der inneren Kraft, der Selbstbestimmung und Weisheit, der auf unserer natürlichen Fähigkeit zur Aufmerksamkeit aufbaut.
Die Stress Reduction Clinic versteht sich nicht als Notdienst, in dem Menschen Beratung empfangen und sich passiv einer therapeutischen Prozedur unterziehen. Vielmehr ist sie eine Plattform für aktives Lernen, das auf vorhandenen inneren Potenzialen aufbaut und die Menschen, wie gesagt, in die Lage versetzt, selbst etwas dafür zu tun, körperlich und seelisch gesünder zu werden und sich wieder wohler mit sich selbst zu fühlen. Bei diesem Lernprozess gehen wir von Anfang an davon aus, dass, solange wir noch atmen, die gesunden Anteile in uns überwiegen, wie krank, entmutigt oder verzweifelt wir uns im Augenblick auch fühlen mögen. Es gelingt jedoch nicht ohne ein gewisses Maß an Energie und Einsatzbereitschaft, innere Wachstums- und Heilungsreserven zu mobilisieren und das eigene Leben in einem umfassenderen Sinn wieder in die Hand zu nehmen. So betrachtet kann unser Programm zur Stressbewältigung für die Teilnehmer auch schon mal »in Stress ausarten«.
Manchmal benutze ich dafür die Metapher vom Gegenfeuer, das man legen muss, um ein anderes Feuer zu löschen. Es gibt kein Medikament, das gegen Stress oder Schmerz unempfindlich macht, kein Wundermittel, mit dem Probleme von selbst verschwinden und Heilung einsetzt. Es verlangt den bewussten Einsatz unserer Kräfte, wenn wir den Weg in Richtung Heilung, des inneren Friedens und Wohlbefindens einschlagen wollen. Und das bedeutet zu lernen, mit dem Stress und dem Schmerz zu arbeiten, der uns eben jetzt zu schaffen macht.
Heutzutage stehen wir unter so massivem und unausweichlichem Druck, dass immer mehr Menschen sich ganz bewusst fragen, was diesen Druck eigentlich ausmacht, wie sie ihm auf kreative Weise begegnen und ein anderes Verhältnis zu ihm gewinnen können. Sie wissen, dass es keinen Zweck hat, von außen Verbesserung zu erwarten. Das eigene Zutun ist wichtig. Dem Phänomen Stress ist mit simplen Ad-hoc-Lösungen nicht beizukommen. Stress ist ein natürlicher Teil unseres Lebens, dem wir ebenso wenig entrinnen können wie anderen Grundbedingungen unserer menschlichen Existenz. Dennoch unternehmen manche den Versuch, dem Stress zu entkommen, indem sie sich gegen das Leben abschotten oder auf die eine oder andere Weise zu betäuben versuchen. Wenn Flucht und Vermeidung jedoch zur gewohnten Strategie werden, lassen sich die Probleme dadurch nicht auf magische Weise verbannen, sondern werden nur umso größer. Was wir aber tatsächlich verbannen, wenn wir unsere Probleme auszublenden versuchen oder vor ihnen davonlaufen, ist unsere Kraft zu persönlichem Wachstum, Wandel und Heilung. Letzten Endes können wir unsere Probleme nur dadurch überwinden, dass wir ihnen ins Auge sehen.
Jeder kann die Kunst erlernen, Schwierigkeiten auf eine Weise zu begegnen, die nicht nur zu effektiven Lösungen führt, sondern auch zu innerem Frieden und Ausgeglichenheit. Wenn es uns gelingt, unser inneres Potenzial zu aktivieren, um Probleme auf gekonntere Weise anzugehen, entdecken wir für gewöhnlich in uns die Fähigkeit, uns selbst innerlich so auszurichten, dass wir den Druck des Problems zu seiner Überwindung einsetzen können, so wie ein Matrose ein Segel kundig zu setzen weiß, damit er die Kraft des Windes optimal als Schubkraft nutzt. Direkt gegen den Wind zu segeln ist unmöglich, und wer andererseits nur mit Rückenwind zu segeln versteht, gelangt bloß dahin, wohin der Wind ihn gerade weht. Wer aber die Energie des Windes richtig einzusetzen versteht, kann mit Geduld sein Ziel erreichen und behält darüber hinaus die Kontrolle über die Situation.
Wollen Sie die Dynamik Ihrer Probleme nutzen, um sich davon vorwärtsbringen zu lassen, müssen Sie ein entsprechendes Gespür für sie entwickeln, ganz so, wie ein Segler ein Gespür für sein Boot, das Wasser und den Wind braucht, um auf seinem Kurs zu bleiben. Sie müssen lernen, in allen möglichen Stresssituationen mit sich selbst zurechtzukommen, nicht nur bei Schönwetter und idealen Windverhältnissen.
In der Realität sind viele Kräfte am Werk, die völlig außerhalb unseres Einflussvermögens liegen, und andere, die sich nur vermeintlich unserer Kontrolle entziehen. Ob wir fähig sind, unsere Lebensumstände zu beeinflussen, hängt weitgehend von unserer Einstellung zu den Dingen ab. Was für uns im Bereich des persönlich Möglichen liegt, wird von dem Bild bestimmt, das wir von uns selbst und unseren Fähigkeiten haben, davon, wie wir die Welt und die in ihr wirkenden Kräfte wahrnehmen. Unsere Wahrnehmung wirkt sich darauf aus, mit welcher Energie wir an Dinge herangehen und in welche Kanäle wir die uns zur Verfügung stehende Energie lenken.
Solange wir das Gefühl haben, dass die Dinge »unter Kontrolle« sind, erfahren wir Momente der Genugtuung; sobald sie aber wieder außer Kontrolle geraten oder auch nur außer Kontrolle zu geraten scheinen, reagieren wir mit tiefer Verunsicherung bis hin zu destruktivem Verhalten, das sich gegen uns selbst und andere richtet, und wir werden uns alles andere als ausgeglichen und zufrieden fühlen.
Ist Ihr gewohnter Aktionsradius durch eine chronische Krankheit, durch eine Behinderung oder Schmerzen eingeschränkt, kann das ganze Bereiche einstiger Kontrolle betreffen, die auf einmal wegbrechen. Die Angst vor Kontrollverlust bleibt aber bei weitem nicht auf die großen Probleme, die uns das Leben stellt, beschränkt. Der größte Stress entsteht für uns gerade im Umgang mit den Bagatellen des Alltags, wenn diese auf die eine oder andere Weise in uns das Gefühl von Ohnmacht auslösen: von der Autopanne kurz vor einem wichtigen Termin über die Kinder, die nicht hören wollen, bis hin zur »endlos langen« Schlange an der Kasse im...