Vorwort
Digitale Informationstechnik ist in unserer Gesellschaft allgegenwärtig; sie prägt mittlerweile unser Leben. Schon vor einigen Jahren verbrachten junge Menschen in Deutschland gut sieben Stunden täglich vor Bildschirmen (TV, Computer, Video, Spielkonsole). Die rasante Verbreitung des Smartphones während der vergangenen fünf Jahre hat dies nur in einer Hinsicht geändert: Das Ausmaß der Nutzung digitaler Informationstechnik wurde noch einmal massiv in die Höhe getrieben, denn ein Smartphone trägt man stets bei sich – es ist immer griffbereit. Man fragt einen Passanten nicht mehr nach dem Weg oder einen Bekannten nach der Lösung eines kleinen Problems (»Wie bediene ich diese Waschmaschine?«), sondern man stellt die Frage seinem Smartphone und erhält aus »der Wolke«, wie die gigantischen Datenspeicher irgendwo in den Wüsten dieser Welt gern genannt werden, innerhalb von Sekundenbruchteilen eine Antwort. Dabei hinterlassen wir Spuren im Cyberspace, die registriert, gespeichert und analysiert werden. Selbst wenn Sie Ihr Smartphone nur als Taschenlampe benutzen, sammelt und sendet es Daten über Sie, und spätestens seit dem Sommer 2013 wissen wir dank der Enthüllungen des NSA-Mitarbeiters Edward Snowden, dass diese Daten auch ausgewertet, verkauft und missbraucht werden.
Was macht das alles mit uns? Im vorliegenden Buch gehe ich dieser Frage nach. Es ist nicht das erste Buch, in dem ich mich mit der Frage zu den Auswirkungen der Veränderungen unserer Lebensgewohnheiten durch die Medien beschäftige. Im Jahr 2005 habe ich das Buch Vorsicht Bildschirm publiziert, in dem ich die negativen Folgen des Fernsehkonsums für Körper und Geist verdeutlicht habe. Damals betrug der durchschnittliche Fernsehkonsum gut drei Stunden täglich, was mir sehr viel erschien, insbesondere wenn man Kinder und Jugendliche in Betracht zieht, die zur Schule gehen, um dort für das Leben in unserer Gesellschaft ausgebildet zu werden. Wer jede Woche etwa 35 Stunden Schulunterricht hat, wobei eine Schulstunde nur eine Dreiviertelstunde dauert und nur an fünf Tagen in der Woche unterrichtet wird, verbringt 26,25 Stunden in der Woche mit dem gesamten Schulstoff, d.h. täglich 3,75 Stunden. Damals entsprachen die drei Stunden vor dem Fernseher also knapp der täglich mit dem gesamten Schulstoff verbrachten Zeit. Dass diese zeitliche Parität etwas bedeutet, lag aufgrund der Erkenntnisse der Gehirnforschung zu Neuroplastizität und Lernen schon damals gut sichtbar auf der Hand. Die Frage, der ich vor zehn Jahren in meinem Buch nachging, war daher, ob die damals bereits vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse dies auch zeigen konnten. Sie konnten es, so das Ergebnis meiner Durchsicht der wissenschaftlichen Literatur: Fernsehen macht tatsächlich dick, dumm und aggressiv. Wer behauptet, dass dies nicht der Fall sei, der leugnet wissenschaftliche Tatsachen – etwa wie jemand, der behauptet, die Erde sei eine Scheibe, um die sich die Sonne dreht.
Das Buch fand einige Beachtung; es wurde in den Medien zerrissen, und ich wurde persönlich diffamiert und denunziert. Das Gleiche passierte – allerdings in noch viel heftigerem Ausmaß – nach der Publikation meines zweiten Buchs zum Thema »Risiken und Nebenwirkungen von Bildschirmmedien«, das den Titel Digitale Demenz trug. Ich war plötzlich ein »Krawall-Psychiater«,[1] der »mit verkürzten und falschen Behauptungen durch die Lande reist und das Sommerloch 2012 nutzt, um mit dieser demagogischen Vereinfachung sich und sein Buch zu vermarkten«, wie das Landesmedienzentrum Baden-Württemberg in einer vom Kultusministerium in Auftrag gegebenen Stellungnahme[2] zu meinem Buch schrieb. In dieser mit Steuergeldern finanzierten Schmähschrift (Titel: Der Spitzer geht um, weder mit Angaben zu den Autoren noch mit Datum) liest man dann weiter, dass ich mich »um des billigen Effektes willen an unseren jungen Menschen« versündige und eine »sachliche Auseinandersetzung mit den Problemen« verhindere.[3] Das genaue Gegenteil war jedoch der Fall. Von »digitaler Demenz« sprechen heute viele, wenn es um unerwünschte Effekte von digitaler Informationstechnik geht. Erst vor wenigen Tagen publizierte ein Marktforschungsinstitut eine repräsentative Umfrage unter tausend Deutschen zu »Merkfähigkeit und digitalen Erinnerungsfunktionen« mit dem Titel: Digitale Demenz: Was merken sich die Deutschen im Digitalen Zeitalter noch. Erschreckend wenig, lautet kurz zusammengefasst deren Ergebnis.[4]
Der mediale (auch öffentlich-rechtliche[5]) Shitstorm des Sommers 2012 konnte nicht verhindern, dass Digitale Demenz gelesen und verstanden wurde – von älteren Kollegen aus akademischen Kreisen bis hin zu Realschülern (»ist ja voll krass«, schrieb mir einer). Waren die Meinungen kurz nach Erscheinen des Buches noch deutlich in Kritik und Zustimmung gespalten, so überwiegt mittlerweile die Zustimmung deutlich, wie die folgende Grafik zeigt. Sogar Internet-Befürworter wie der Blogger und Journalist Sascha Lobo, die mich noch vor drei Jahren vehement wegen meiner kritischen Haltung angriffen haben, schlagen mittlerweile kritische Töne gegenüber moderner Informationstechnik an.[6]
Veränderung des anhand von Amazon-Kundenrezensionen rekonstruierten öffentlichen Meinungsbildes zum Buch Digitale Demenz. Waren einige Tage nach dessen Erscheinen (37 Rezensionen am 6. August 2012; schwarze Säulen) die sehr negativen (ein Stern: 9 Bewertungen) und die sehr positiven (fünf Sterne: 14 Bewertungen) Meinungen etwa gleich verteilt, so zeigt eine entsprechende Abfrage knapp drei Jahre später (157 zusätzliche Rezensionen am 10.7.2015; graue Säulen) ein ganz anderes Bild. Die Anzahl der zustimmenden Rezensionen stieg im Vergleich zu den Verrissen deutlich stärker an und liegt bei über 80 Prozent.
So hoffe ich, mit dem vorliegenden Buch, das thematisch deutlich weiter gefasst ist als die zuvor erwähnten Titel, auf noch mehr offene Ohren und »kritische Köpfe« zu stoßen. Es geht hier nicht »nur« um die Auswirkungen digitaler Medien auf unseren Verstand, sondern um die Auswirkungen auf unsere seelische und körperliche Gesundheit insgesamt. Und es geht nicht »nur« um das Fernsehen oder den Computer, sondern vor allem auch um das Schweizer Messer des 21. Jahrhunderts: das Smartphone.
Wer Phantasie hat, der kann sich ausmalen, was geschieht, wenn Milliarden von Menschen alle sieben Minuten auf ihr Smartphone schauen, irgendetwas damit tun und dabei Spuren hinterlassen, die von den weltweit reichsten und mächtigsten Firmen ausgewertet werden, um noch mächtiger und vor allem noch reicher zu werden. Es gibt auch bereits detaillierte Überlegungen dazu, was geschehen könnte, wenn die geballte Rechenleistung der Wolke demnächst die unserer Gehirne übersteigt (Achtung: Das ist nichts für schwache Nerven!). Einen kleinen Vorgeschmack erhielt ich ganz persönlich im Verlauf einer längeren Autofahrt am 1. Februar 2015. Ich hörte den Deutschlandfunk und zuweilen noch die Nachrichten auf anderen Sendern. Es war zwar ein ganz normaler Tag, aber meinem Radio zufolge war das Leben ein einziger digitaler Alptraum: Die Nachrichten drehten sich u.a. darum, dass der kanadische Geheimdienst CSIS den Bürger digital noch mehr ausspioniert als der amerikanische Geheimdienst NSA; und es ging darum, dass Facebook seine Geschäftsbedingungen ändert, um den deutschen Bürger noch gezielter mit personalisierter Werbung versorgen zu können. Die Sendung »Das digitale Umarmen: Das Internet als Wille und Vorstellung« im Deutschlandfunk war keineswegs eine an Schopenhauer orientierte philosophische Betrachtung des Internets, sondern ein Schreckensszenario zum »kaputten«, »gescheiterten«, »unentrinnbaren« und uns »kontrollierenden« Datennetzwerk. Das Verbrauchermagazin im Nachrichtensender des Bayerischen Rundfunks (b5-aktuell) berichtete dann über »Zweifel an elektronischer Gesundheitskarte« (die volle neun Jahre nach der geplanten Einführung im Jahr 2006 noch immer nicht funktioniert) und über den »Verbraucherärger der Woche: Gehackt im Namen von Microsoft« (wo vor indischen Trickbetrügern gewarnt wurde). Im wenig später auf b5-aktuell ausgestrahlten Computermagazin lauteten die Themen dann: »Wie Stars mit Hackern umgehen«, »Wie sehr uns Smartphones beim Fahren ablenken«, und nochmals wurde ausführlich über weltweite Cyberspionage berichtet. HILFE!, dachte ich gegen Ende der Autofahrt.
Um all dies geht es in diesem Buch aber nicht. Vielmehr habe ich hier ausgeführt, was wir aufgrund der vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse heute bereits zu den krank machenden Auswirkungen des digitalisierten Lebens wissen. Die Vielfalt, Tiefe und Breite der Erkenntnisse hat mich bei der Arbeit an diesem Buch selbst mehr als überrascht, denn Wissenschaft ist ihrer Natur gemäß kein schnelles Unterfangen. Allerdings ist die Datenlage zur Cyber-Pathologie im Jahr 2015 deutlich klarer als noch drei Jahre zuvor. Deshalb ist der Handlungsbedarf auch noch dringlicher, und aus diesem Grund geht dieses Buch hinsichtlich der thematischen Weite und der wissenschaftlichen Erkenntnisse erheblich über...