2. Demografischer Wandel und Gesundheitsförderung
Die Sozialwirtschaft hat sich in allen Hilfebereichen in den letzten Jahren radikal verändert. Durch den Wandel von der Kostendeckung zur Kostenerstattung wurde die Refinanzierung der Arbeit knapper und aufgrund der Gleichstellung freigemeinnütziger und privater Anbieter verschärfte sich der Wettbewerb zwischen den Trägern. Eine Folge davon ist, dass sich in der Sozialwirtschaft die Arbeit zunehmend verdichtet hat. Die Anforderungen der Arbeit und infolgedessen auch die Beanspruchungen für die Mitarbeitenden sind kontinuierlich gestiegen. In kürzerer Zeit sind mit weniger Personal komplexere Aufgaben zu erledigen. Dieser Trend ist mit Blick auf die Altenhilfe immer wieder in der Öffentlichkeit bekannt geworden. Bezüglich der Jugendhilfe und der Behindertenhilfe etwa ist diese Entwicklung jedoch bislang noch kaum in den Medien diskutiert worden.
Eine Umkehr dieses Trends ist gegenwärtig nicht absehbar. Im Gegenteil: Durch die Auswirkungen des demografischen Wandels werden die Mitarbeitenden weiter in hohem Maß beansprucht.
2.1 Der demografische Wandel in der Sozialwirtschaft
Einen demografischen Wandel hat es zu jeder Zeit gegeben. Immer wieder haben sich die Strukturen in der Bevölkerung verändert und verschoben. Eine einheitliche und gleichbleibende Gesellschaft gab es vermutlich nie. Die derzeitigen Veränderungen in der Gesellschaft haben jedoch eine Dimension, die für die Arbeitswelt insgesamt von großer Bedeutung ist. Seit 1975 liegt die durchschnittliche Geburtenrate je Frau unter 1,5 Kindern (für die Erhaltung des Bestands der Bevölkerung wären 2,1 erforderlich) (Quelle: Statistisches Bundesamt). Aufgrund dieser lang anhaltenden Entwicklung kommt es in Deutschland zu weitreichenden Veränderungen.
Mit vier Trends, die große Auswirkungen auf die Arbeit in der Sozialwirtschaft haben, lässt sich der demografische Wandel in Deutschland beschreiben:
Abb. 1: Ausprägung von Komponenten des demografischen Wandels in den Regionen Deutschlands bis 2025. Quelle: Bevölkerungsprognose des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) 2005–2025.
- Direkte Folge der geringen Geburtenquote ist die abnehmende Zahl von Kindern und Jugendlichen. In Abbildung 1 ist dies durch die blaue Schraffierung dargestellt. Die Tatsache, dass die geringe Geburtenquote bereits in der zweiten Generation auftritt, verstärkt den Trend. Dieser Wandel verstärkt sich weiterhin dadurch, dass Kinder, die in den1970er- und 1980er-Jahren nicht geboren wurden, heute nicht Mütter und Väter sein können. Die Alterspyramide hat sich bei den jüngeren Jahrgängen immer weiter ausgedünnt. Bislang zeichnet sich trotz einiger Bemühungen vonseiten der politischen Entscheidungsträger (Einführung des Elterngeldes, Ausbau der Kinderbetreuung) eine Trendumkehr nicht ab.
- Da zu wenige Kinder zur Welt kommen, sterben mehr Menschen als geboren werden. Die Folge ist die Abnahme der Bevölkerung. Zwar könnte dieser Trend durch Migrationsbewegungen aufgehalten werden, doch ist der Zuzug nach Deutschland zu gering, um das Geburtendefizit auszugleichen. Die Bevölkerungszahl ist in Deutschland rückläufig. Seit 2008 kann auch die Migration aus dem In- und Ausland die zu geringe Geburtenquote in Baden-Württemberg nicht mehr ausgleichen, sodass auch hierzulande die Bevölkerung abnimmt. (Quelle: Statistisches Landesamt Baden-Württemberg)
- Kommen weniger Kinder auf die Welt, verschieben sich auch die Mehrheitsverhältnisse der Alterskohorten. Der Anteil der Älteren in der Bevölkerung steigt. Während die Gruppe der unter 20-Jährigen und der 20- bis 65-Jährigen zahlenmäßig abnimmt, wächst die Gruppe der 65- bis 80-Jährigen und die der über 80-Jährigen bis 2060 deutlich an (vgl. Abbildung 2).
- Noch nie waren so viele Menschen in Deutschland über 65 oder über 85 Jahre alt wie heute. Ihre Zahl steigt nicht nur im Vergleich zu den Jüngeren, sondern auch absolut – nicht zuletzt aufgrund des medizinischen Fortschritts.
Abb. 2: Bevölkerungsentwicklung, dargestellt an unterschiedlichen Altersgruppen. Quelle: Destatis 2009: 16.
In Abbildung 1 ist deutlich sichtbar, dass die demografischen Trends regional sehr unterschiedlich verlaufen. Nicht alle Gebiete sind demnach in gleicher Weise und Intensität von den Veränderungen betroffen, aber in kaum einer Region bleibt die Zusammensetzung der Bevölkerung unverändert.
Viele Prognosen der Wissenschaft sind sehr fehleranfällig, da sie von fraglichen oder veränderlichen Voraussetzungen ausgehen. Dies gilt jedoch nicht für den demografischen Wandel. Die diesbezüglichen Aussagen über die Veränderung der Bevölkerung sind gewiss: Menschen, die heute nicht geboren werden, stehen künftig auf dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung, und Menschen, die heute zu den Leistungsträgern in den sozialen Einrichtungen und Diensten gehören, werden beispielsweise in 15 Jahren in den Ruhestand gehen und von denjenigen ersetzt werden müssen, die heute schon geboren sind.
Auch wenn sich nicht alle Einflussfaktoren exakt bestimmt lassen (künftige Migration, Geburtenrate, Lebenserwartung, Renteneintrittsalter, etc.), kann doch fest davon ausgegangen werden, dass sich die demografischen Trends weiter ausprägen werden.
Wie in Abbildung 3 ablesbar, wird sich also der Trend der Abnahme der Bevölkerung weiter fortsetzen. Wie schnell dies geschieht, hängt beispielsweise von der künftigen Geburtenrate und den Migrationsbewegungen ab. In jedem Fall hat es jedoch Auswirkungen auf die Sozialwirtschaft sowohl mit Blick auf die Klienten als auch auf die Mitarbeitenden. Je nach Hilfebereich sind die demografischen Trends schon jetzt mehr oder weniger sichtbar.
Veränderungen auf Seiten der Klienten
Die Zunahme der älteren und hochbetagten Menschen in der Bevölkerung wird der Altenhilfe in den nächsten Jahrzehnten große Wachstumschancen bieten. Schon heute entstehen viele – mancherorts auch zu viele – Alten- und Pflegeheime. Die Branche wächst deutlich schneller, als zusätzliche Arbeitskräfte gewonnen werden können. Längst ist ein Fachkräftemangel vorhanden, der in den nächsten Jahren noch deutlich zunehmen wird. Gegenüber 2007 werden sich die Pflegefälle bis 2050 von 2,2 auf 4,4 Millionen verdoppeln. Entsprechend wird der Bedarf an Pflegekräften zunehmen (Hackmann 2010: 236). Woher die vielen Pflegekräfte gewonnen werden können, die in den nächsten Jahren und Jahrzehnten benötigt werden, ist bislang nicht geklärt. Neben der quantitativen Veränderung ist auch eine qualitative Veränderung der Arbeit zu verzeichnen. Demenz, Multimorbidität und soziale Vereinsamung treten häufiger auf. Dies erfordert von den Beschäftigten nicht nur größeren zeitlichen Einsatz, sondern auch neue und andere Kompetenzen.
Abb. 3: Entwicklung der Bevölkerungszahl in Deutschland, 1950 bis 2060 in Millionen (1950 bis 1989 früheres Bundesgebiet und DDR insgesamt; ab 1990 Deutschland; ab 2009 Ergebnisse der 12. koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung). Quelle: Destatis 2009: 12.
Die Steigerung der Komplexität der Arbeit lässt sich auch für die Behindertenhilfe zeigen, wo derzeit erstmalig viele behinderte Menschen das Alter des Ruhestandes erreichen. Dadurch werden neue Wohn- und Lebenskonzepte in einem Hilfebereich erforderlich, der derzeit ohnehin durch Konversion (Auflösung von abgeschiedenen, großen Wohnanlagen) und Inklusion (uneingeschränkte Gleichstellung von behinderten und nicht-behinderten Menschen) von großen Veränderungen betroffen ist.
Auch in der Kinder- und Jugendhilfe hat der demografische Wandel Auswirkungen. Diese zeigen sich bislang nicht in einer Reduktion, sondern in einer deutlichen Steigerung der Nachfrage. Aufgrund des bundesweiten Mangels an Arbeitskräften und der hohen Kompetenz von Frauen sorgt der Aufbau von Krippenplätzen für einen deutlich gestiegenen Bedarf an professionellen Erziehungskräften. Zudem wird die Jugendhilfe an Bedeutung gewinnen, wenn alle Menschen für die Erwerbsarbeit benötigt werden.
Es ist deutlich: Der demografische Wandel führt in den großen Hilfebereichen der Diakonie und darüber hinaus zu einer eher steigenden Nachfrage. Die Auswirkungen des demografischen Wandels rechtfertigen also keine Reduktion, sondern begründen eher einen Ausbau der Leistungen.
Veränderungen auf Seiten der Mitarbeitenden
Der demografische Wandel hat deutliche Auswirkungen auf die Strukturen der Mitarbeiterschaft. Davon sind auch die Einrichtungen der Sozialwirtschaft betroffen. Im Kern lassen sich zwei Wirkungen des demografischen Wandels in diakonischen Einrichtungen identifizieren:
- Personalmangel: Die Abnahme der Bevölkerung und insbesondere die sinkende Zahl von jungen Menschen führen dazu, dass offene Stellen nicht oder nur sehr schwer besetzt werden können. In den meisten Hilfebereichen, allen voran in der Altenhilfe, ist es kaum möglich, alle offenen Stellen gut zu besetzen. Die Anzahl guter Bewerbungen war in den letzten Jahren rückläufig. Dies wird sich weiter so fortsetzen.
Bis 2050 wird sich, lässt man die Migration unberücksichtigt, das Potenzial an Erwerbspersonen um circa 16 Millionen Personen reduzieren. Deutlich weniger Menschen stehen also dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Damit geht einher, dass der Wettbewerb um Arbeitskräfte und insbesondere um Nachwuchskräfte deutlich zunehmen wird....