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Gewalt an Schulen - Perspektiven der Schulsozialarbeit

AutorManuela Siegel
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2011
Seitenanzahl89 Seiten
ISBN9783640917198
FormatePUB/PDF
Kopierschutzkein Kopierschutz/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis31,99 EUR
Masterarbeit aus dem Jahr 2011 im Fachbereich Soziale Arbeit / Sozialarbeit, Note: 1,7, Technische Universität Dortmund, Sprache: Deutsch, Abstract: Das Thema Gewalt und Aggression an Schulen ist in den letzten Jahren immer mehr in das Zentrum der Öffentlichkeit und der wissenschaftlichen Diskussion gerückt. Spektakuläre Medienberichte erwecken den Eindruck, dass es zu einer generellen Zunahme von Gewalt gekommen ist. Demnach scheint schwere körperliche Gewalt an deutschen Schulen ein alltägliches Bild zu sein. Es wird von Schülern berichtet, die jeden Respekt und Menschenachtung verloren haben und auch ihre Lehrer tätlich angehen. Forschungsergebnisse legen allerdings dar, dass es keine generelle Zunahme von Gewalt gibt. Es sind meist gravierende und extreme Einzeltaten, die die Aufmerksamkeit der Medien auf sich ziehen, da diese eine 'gute Schlagzeile' versprechen. Bei der Thematisierung von Gewalt kann von einer generellen Funktionalisierung der Gewaltdiskussion gesprochen werden, da hierbei in der Öffentlichkeit viele Interessen aufeinander prallen, wie zum Beispiel: die Befriedigung der Sensationssucht der Öffentlichkeit und die Durchsetzung bestimmter politischer Interessen (vgl. Klett 2005: 8). Als Folge dieser erschreckenden Einzelfälle entsteht ein Bild von Gewalt an Schulen, welches wiederum häufig öffentliche und politische Diskussionen nach sich zieht. Zur Folge hat diese Darstellung, dass sich ein verzerrtes gesellschaftliches Bild von einer Zunahme und Brutalisierung von Gewalt an Schulen etabliert, welches von der Realität weit entfernt ist (vgl. Jannan 2010: 17). In diesem Zusammenhang spricht man auch von 'gefühlter Gewalt', die von der tatsächlich vorhandenen Gewalt abweicht. Diese Art von Berichterstattung erschwert eine rationale Auseinandersetzung mit dem Thema. Denn wissenschaftliche Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass schwere physische Gewalt unter Jugendliche nicht innerhalb von Schulen, sondern viel häufiger auf den Straßen und im öffentlichen Raum stattfindet (vgl. BMI 2006). Im Gegensatz zu dem durch Medien dargestellten Eindruck von einer 'Veralltäglichung' von Gewalt, ist ein Großteil der Schüler nicht schwerer physischer Gewalt ausgesetzt. So kommen das Bundesministerium des Inneren und das kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen zu dem Ergebnis, dass Dreiviertel der befragten Schüler im letzten Jahr keine gewalttätigen Auseinandersetzungen mit ihren Mitschülern erfahren haben (vgl. 2009: 9)....

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2. Theorieansätze zu Aggression und Gewalt


 

Aggression und Gewalt werden durch wissenschaftliche Theorien auf sehr unterschiedliche Weise erklärt. Demzufolge gibt es also nicht die eine Erklärung oder die Theorie, sondern vielmehr eine Vielzahl von Theorien bzw. Erklärungsansätzen, die einander ergänzen oder miteinander konkurrieren. Dabei kann zwischen psychologischen und soziologischen Theorien unterschieden werden, welche in dieser Arbeit besondere Berücksichtigung finden und ausführlich dargestellt werden.

 

Während psychologische Ansätze Aggression und Gewalt vor allem durch innere, psychische Vorgänge einer Person bzw. durch Lernprozesse erklären, entsteht Gewalt aus soziologischer Sicht auch in der Person selbst, wird aber erst durch gesellschaftliche Bedingungen wie der Familie, der Schule, der Peergroup und soziale Strukturen hervorgebracht. Darüber hinaus betonen soziologische Ansätze, dass eine Handlung nicht von sich aus als "Gewalt" identifiziert werden kann, sondern dass es dazu der Existenz und Anwendung von Normen und Regeln bedarf.

 

2.1 Psychologische Erklärungsansätze


 


In der psychoanalytischen Theorie werden Aggressionen als Ausdruck von Störungen der gesamten Persönlichkeit verstanden. Diese Störungen werden auf die Kindheit zurückgeführt, wie zum Beispiel gewalttätige Eltern, Beziehungsabbrüche und Demütigungen (vgl. Klewin 2002: 1082). Gewaltbereitschaft bei Jungendlichen entsteht nicht ‚von selbst‘, sondern ist Ergebnis negativer Gewalterfahrungen im eigenen Umfeld. Grundlagen für diese Entwicklung werden sehr häufig im familiären Umfeld gelegt. Studien zufolge erhöht selbst erfahrene oder beobachtete Gewalt in der Familie, beispielsweise Gewalt zwischen den Eltern sowie emotionale Vernachlässigung, die Wahrscheinlichkeit für männliche Jugendliche gewalttätig zu werden um das Drei- bis Vierfache. Dieser Faktor ist in Familien mit Migrationshintergrund höher als bei deutschstämmigen Familien (vgl. Jannan 2010: 35). Für Mädchen steigt das Risiko später in einer Partnerschaft die Opferrolle zu übernehmen um das Neunfache, wenn sie in ihrem familiären Umfeld Gewalt erfahren oder beobachtet haben (vgl. Jannan 2010: 18). Die in der Kindheit erfahrenen Kränkungen verhindern die Ausbildung eines stabilen Selbst. Nach dieser Sichtweise sind Aggressionen hilflose Versuche, Gefühle von Bedrohung und Angst zu kontrollieren. Aggression ist also ein psychisches Notsignal, welches deutlich macht, dass Kinder und Jugendliche mehr Aufmerksamkeit, Zuwendung und Bestätigung erhalten wollen, aber nicht wissen, wie sie dies erreichen können.

 

Für die Entstehung von Aggression unter Schülern hat der psychoanalytische Ansatz eine große Erklärungskraft. Junge Menschen, die Gefühle von Wut und Enttäuschung nicht gegen Eltern richten können, agieren diese vor allem in der Öffentlichkeit, wie der Schule, aus. Folglich kommen früher in der Familie erfahrene Selbstwertverletzungen und Enttäuschungserfahrungen in der Schule zum Ausdruck, da die Aggressionen im Elternhaus nicht bearbeitet wurden (vgl. Schubarth 2000: 24). Doch nicht nur im Elternhaus, sondern auch in der Schule erleben junge Menschen Verletzungen und Enttäuschungen. Kinder, denen es aufgrund frühkindlicher Erfahrungen schwer fällt Verhaltenserwartungen und Leistungsanforderung der Schule zu erfüllen, haben kaum die Möglichkeit in der Schule Anerkennung und Selbstbestätigung – etwa durch gut schulische Leistung – zu erfahren. Nach der psychoanalytischen Theorie versuchen manche Kinder dann diese fehlende Selbstbestätigung mit abweichendem Verhalten auszugleichen, um ihr Selbst zu verteidigen. Deshalb reagieren sie dann mit aggressivem, normverletzenden Verhalten.

 

Die Lerntheorien gehen davon aus, dass Aggressionen wie andere soziale Verhaltensweisen erlernt werden. Hierbei spielen die Typen Lernen am Modell und Lernen am Erfolg bzw. Misserfolg eine besondere Rolle. Kinder und Jugendliche lernen, indem sie andere beobachten und nachahmen. Die Nachahmung hängt vom Modell, vom Beobachter, von der Beziehung untereinander und der Situation ab. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Modell nachgeahmt wird steigt, wenn das Modell erfolgreich ist, wenn es Macht ausstrahlt, wenn die Handlungen moralisch gerechtfertigt erscheinen und wenn die Beziehung zwischen Beobachter und Modell positiv ist. Die wichtigsten Vorbilder sind meist die Eltern und Personen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis. In der Schule sind vor allem andere Schüler aber auch Lehrer wichtige Vorbilder. Erleben die Schüler, dass bestimmte Verhaltensweisen ihrer Mitschüler erfolgreich sind, oder ohne Konsequenzen bleiben, dann kann dies ein für den Schüler erstrebenswertes Modell sein. Erleben Schüler weiterhin, dass Lehrer bestimmte Verhaltensweisen der Schüler akzeptieren oder ignorieren oder selbst Schüler verbal verletzen und erniedrigen oder ungerecht behandeln, so kann auch dies negative Folgen für das Modelllernen haben. Durch das Modelllernen können junge Menschen aber durch entsprechende Vorbilder, wie beispielsweise dem Lehrer, auch alternative, prosoziale Denk- und Verhaltensweisen erlernen. Beim Lernen am Erfolg bzw. Misserfolg lernt die Person aus den Konsequenzen ihres Handelns. Der Erfolg einer Handlung lehrt den Handelnden die neuen Verhaltensweisen anzuwenden. Bleibt  aggressives Verhalten hingegen erfolglos oder hat negative Konsequenzen, sinkt die Wahrscheinlichkeit einer Wiederholung. Die Lerntheorien zeigen, dass Aggression und Gewalt nicht nur ein individuelles, sondern auch ein sozial und gesellschaftlich bedingtes Problem darstellen.

 

Die Frustrationstheorie versteht Aggression als Reaktion auf erfahrene Frustration. Demnach kann Aggression von Kindern und Jugendlichen als zielgerichtete Antwort auf subjektiv wahrgenommene Kränkungen, Beleidigungen und Demütigungen verstanden werden. Dies bedeutet aber nicht, dass erlebte Frustration immer zu Aggression führt. So kann ein frustrierendes Erlebnis auch konstruktive Reaktionen, Resignation oder Selbstbetäubung (durch Drogenkonsum) zu Folge haben. Frustration erhöht aber die Wahrscheinlichkeit von Aggression, vor allem, wenn die jeweilige Person keine alternativen Verhaltensweisen erlernt hat oder keine Aggressionshemmung empfindet.

 

Der Frustrationstheorie kommt bei der Erklärung von Aggression und Gewalt in Schulen ein hoher Stellenwert zu. Schule ist für junge Menschen eine der Hauptquellen der Frustration. Einem Teil der Schüler fällt es ohne fremde Hilfe sehr schwer diese Frustrationen zu zivilisieren. Als Folge der Frustrationstheorie sollten schulische Misserfolge, persönlicher Herabsetzungen und Demütigungen möglichst vermieden werden. Da Frustrationen aber zu einem gewissen Grad unvermeidbar sind, ist es wichtig einen konstruktiven Umgang mit Frustration zu erlernen.

 

2. 2 Soziologische Erklärungsansätze


 


Neuere soziologische Modernisierungstheorien werden in letzter Zeit häufig als Erklärungsansatz für jugendliche Gewalt herangezogen. Der Ansatz von Heitmeyer zur Individualisierung und Desintegration stellt eine Verbindung zwischen gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen und individuellen Handlungsmustern her. Im Zuge veränderter familiärer Strukturen, steigender Jugendarbeitslosigkeit und verschärfender Konkurrenz in der Schule und auf dem Arbeitsmarkt erleben junge Menschen, dass sich schulische Anforderungen und berufliche Chancen stark verändern und dass ihre Zukunft immer unsicherer und ungewisser wird. Sicherheit und Stabilität wird deshalb häufig in der Peergroup gesucht. Entwicklungstendenzen der gesellschaftlichen Modernisierung und Entsicherung sind dieser Auffassung nach in einem hohen Maß für individuelle soziale Problemlagen und psycho-emotionale Befindlichkeiten von Kindern und Jugendlichen verantwortlich. Klewin bezeichnet dies als Schattenseite der Individualisierung und macht deutlich, dass sich hieraus auch Desintegrationstendenzen entwickeln können, die bei einem Teil der jungen Menschen zu gewalttätigen Verhaltensweisen führen können:

 

„Je unsicherer und labiler die Lebensbedingungen, je unklarer die Perspektive, je schärfer der Konkurrenzdruck, je weniger verlässlich die Sozialbeziehungen, desto eher finden wir psychisch und sozial verunsicherte junge Menschen vor und desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass auch Gewalthandlungen ihre Problemlösungs- und Bewältigungstechniken bestimmen“ (Klewin 2002: 1084).

 

Desintegration tritt auf verschiedenen Ebenen auf. Auf der sozialstrukturellen Ebene kommt sie in Ungleichheitsphänomenen zum Ausdruck, auf institutioneller und sozialer Ebene in abnehmender Beteiligung und mangelnder emotionaler Unterstützung und auf personaler Ebene zeigen sich identitätsrelevante Folgen, zum Beispiel in Wertediffusionen und inkonsistenter Erziehung (vgl. Tillmann 2000: 33). Die Pluralisierung von Werten und Lebensstilen hat eine kulturelle Desorientierung zur Folge. Da Identität und Rollenmuster immer wieder ausbalanciert werden müssen, entstehen Spannungen für das Individuum. Strukturelle Desorientierung entsteht durch die gesellschaftlichen Differenzierungen und führt zu Ausgrenzung und Isolation etwa durch Nicht-Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen.

 

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