2 Der Glaube und sein Bruder, der Zweifel
Das Thema zieht sich wie ein roter Faden durch alle meine Bücher und Überlegungen: die Suche nach einer wie auch immer gearteten Partnerschaft zwischen dem Glauben und dem Zweifeln. Diese Suche ist letztendlich ein anderer Ausdruck dessen, was Johannes Paul II. oft betonte und auch sein Nachfolger Benedikt XVI. bekräftigte: Ein Glaube ohne Denken, ohne Vernunft und ohne philosophische Reflexion kann sehr gefährlich sein. Andererseits ist eine Rationalität, die sich vor den aus dem Glauben hervorgehenden spirituellen und ethischen Aspekten verschließt, genauso einseitig und ebenso sehr gefährlich. Glaube und Zweifel sind wie zwei Brüder, die gegenseitig kompatibel sind, die sich gegenseitig korrigieren und unterstützen können. Sie gehen auf einem schmalen Steg oberhalb jenes Abgrundes, der die Ambivalenz der Welt ist – und wenn sie nicht Hand in Hand schreiten würden und sich einer vom anderen losreißen wollte, würden sie sich auf dem Steg nicht halten können und in den Abgrund stürzen – in den Abgrund eines Fanatismus ohne jede Vernunft oder in den Sumpf des Zynismus und Nihilismus ohne jegliches grundlegende Ur-Vertrauen.
VERSÖHNTE VERSCHIEDENHEIT
Unser Leben ist ein ständiges Balancieren zwischen zwei Perspektiven. Es gibt Momente, in denen wir gemeinsam mit allen Rebellen und notorischen Skeptikern, mit allen Traurigen und vergeblich Suchenden die Welt, Jesus und auch die Kirche vor lauter Zweifel und Einwänden total im Schatten liegen sehen. Und dann gibt es Momente, in denen durch die Wolken ein Lichtstrahl durchbricht. Dann können wir, ja, dann sind wir gehalten und verpflichtet, all diesen Rebellen, Skeptikern und Weinenden in uns und um uns herum zu sagen: Vielleicht, trotz allem, allem zum Trotz kann man dies alles auch ganz anders sehen, bewerten und ertragen.
NACHTGEDANKEN EINES BEICHTVATERS
Wenn der Glaube auf seinem Weg seinen Bruder, den Zweifel, verlieren würde, würde er aufhören, ein Suchender und ein Fragender zu sein; er könnte in eine geistlose religiöse Praxis absinken, in einen Ritualismus oder eine Ideologie. Wenn der Zweifel seinen Bruder, den Glauben, verlieren würde, könnte er der Verzweiflung verfallen oder in eine alles verätzende, zynische Skepsis abgleiten. Vielleicht ist unsere Zeit der Umbrüche, in der sich jede »Unerschütterlichkeit« wie eine Schneeflocke auf der warmen Hand auflöst, eine »günstige Zeit« – kairos – für solche sich gegenseitig bereichernden Begegnungen und für eine Koexistenz von Glaube und Zweifel. Allem Anschein nach musste zuvor der Grund der Sicherheiten, auf dem wir bisher geschritten sind, genug erschüttert werden – und er wird lange beben, vielleicht für immer. Glaube und Zweifel müssen gemeinsam ihren Weg gehen und sich gegenseitig stützen, wenn sie nicht von der schmalen, wackelnden Brücke, die sie heutzutage nicht umgehen können, in den Sumpf des Fanatismus oder der Hoffnungslosigkeit abstürzen wollen.
WAS OHNE BEBEN IST, HAT KEINE FESTIGKEIT
Mit dem Zweifel, von dem ich in diesem Buch wiederholt als vom »Bruder des Glaubens« sprechen werde, meine ich auf keinen Fall – dies sei klargestellt – den »Zweifel an Gott«, an seiner »Existenz«, an seiner Güte und an seinem Willen, sich mitzuteilen und unsere menschliche Existenz zu teilen. Ich meine damit eher das Bewusstsein um die Problematik, Unzulänglichkeit, Bedingtheit und Beschränktheit der Fähigkeit des Menschen, die Wirklichkeit, die uns radikal umgreift, wahrzunehmen und zu beschreiben. Der Zweifel sorgt dafür, dass wir den Abgrund nicht übersehen, der uns vom verborgenen Gott trennt, damit wir einerseits nicht bezaubert vom eigenen beschränkten religiösen Verständnis aus der eigenen Religion einen Götzen machen – eine Karikatur Gottes – oder andererseits die verschiedensten Wege des religiösen Suchens der anderen hochmütig verurteilen.
WAS OHNE BEBEN IST, HAT KEINE FESTIGKEIT
Was den menschlichen Glaubensakt betrifft, ist der Zweifel, von dem ich spreche, wie erwähnt kein »Zweifeln an Gott«, sondern eher ein ständiger kritischer Blick darauf, wie wir uns auf Gott beziehen, wo wir ihn suchen, was wir über ihn aussagen, welchen Begriff und welche Vorstellung von Gott wir bilden. Ein solcher Zweifel sollte uns vor der Versuchung schützen, aus vorletzten Dingen letzte Dinge zu machen, Symbole gegen das zu vertauschen, was sie symbolisieren, oder menschlich (das heißt kulturell, historisch, psychologisch, sozial) beeinflusste religiöse Vorstellungen mit dem Geheimnis zu verwechseln, das alle diese Vorstellungen unendlich übergreift. Wenn ich ein Bild aus einer anderen kulturellen Tradition entlehnen darf, dann würde ich sagen, dass es wichtig ist, den Finger, der auf den Mond zeigt, nicht mit dem Mond selbst zu verwechseln.
VERSÖHNTE VERSCHIEDENHEIT
Wenn sich ein Mensch bewusst ist, dass sein persönlicher Glaube notwendigerweise subjektiv eingefärbt ist und dass es einen Unterschied gibt zwischen dem, wie sich uns das Geheimnis Gottes in der Fülle der Offenbarung darstellt, und unserer Fähigkeit, es aufzunehmen und eingeschränkt zu begreifen und zu beschreiben, wird er infolgedessen demütiger. Er weiß auch, dass gerade hier der Ort für Fragen und Zweifel ist: Sie betreffen das, was ich von Gott denke, wie ich ihn zum Ausdruck bringe und wie ich ihn verstehe. Ich sehe ihn immer auf eine menschliche, unzureichende Weise. Das sind weder Zweifel an Gottes Existenz noch Zweifel an der Kirche, die seine Offenbarung dolmetscht, sondern es sind vor allem Zweifel an mir selbst, an meinem Zugang und an meinem Begreifen. Und solche Zweifel sind sicher legitim. Denn wir sind kein Wachs, in das sich das göttliche Geheimnis mechanisch und vollkommen einprägt. Die Offenbarung eröffnet den Weg zum Geheimnis, aber sie stört und zerstört es nicht.
VERSÖHNTE VERSCHIEDENHEIT
Die Theologen zeigen uns, dass der Glaube die Begegnung Gottes mit dem Menschen ist, der Gnade mit der Freiheit. Deshalb hat der konkrete Glaube jedes Gläubigen zwei Seiten, »die natürliche und die übernatürliche«, und die sind im Leben des Gläubigen, im menschlichen Glaubensakt, gegenseitig tief zusammengewachsen. Vielleicht machen gerade die Zweifel und die kritischen Fragen, von denen wir hier sprechen und die ausschließlich die »menschliche Seite« des Glaubens betreffen, letztendlich den Raum der Gnade des Glaubens frei. Vielleicht entfachen manchmal gerade kritische Fragen das Flämmchen der Gnade, damit sie der Berg des »allzu menschlichen« Holzes in unseren religiösen Vorstellungen und scheinbaren Sicherheiten nicht erstickt. Vielleicht würde manchmal ohne ihre Hilfe das, worum es geht, überhaupt nicht Feuer fangen. Der Mensch würde wegen der schönen Worte der »religiösen Sicherheiten«, Theorien und Vorstellungen Gott selbst in seinem Schweigen nicht hören. Auch deshalb brauchen sich der Glaube und der Zweifel gegenseitig wie Brüder: Sie ergänzen und korrigieren sich gegenseitig, aber manchmal zanken sie auch – wie im Neuen Testament die Geschwister Martha und Maria.
WAS OHNE BEBEN IST, HAT KEINE FESTIGKEIT
Erst im Raum der Unsicherheit, ohne die Krücken und die Rettungsnetze der »Beweise«, jenseits der breiten Straßen der Offensichtlichkeit wird der Glaube frei und mutig wie beim Aufstieg auf einen steilen Felsen. Wenn er jedoch unterwegs an irgendeiner Stelle seinen Bruder abschütteln möchte, wenn er nicht mehr bereit ist, immer wieder Antworten auf seine Fragen zu suchen, wird er unverantwortlich. Gott schenkte uns diese Welt und dieses Leben als ein kompliziertes und nicht eindeutiges, Gott lässt die Geschichte als einen vielfarbigen Strom des Guten und Bösen, der Freude und des Leids strömen, Gott legte auch in die heiligen Schriften Paradoxa und Rätsel – warum das alles? Allem Anschein nach wollte er einen freien Raum für den Glauben und für den Zweifel bewahren, für ihre gegenseitigen Begegnungen und ihr Ringen. In diesem Gegenüber von Glaube und Zweifel reift so die unruhige Freiheit des menschlichen Herzens, während wir auf dem Weg bis an die Tore der Ewigkeit sind. Hüten wir uns davor, diesen lebendigen Strom des Suchens im Sumpf toter Sicherheiten versickern zu lassen, seien es »religiöse« Sicherheiten oder die Sicherheiten eines selbstbewussten Atheismus.
WAS OHNE BEBEN IST, HAT KEINE FESTIGKEIT
Wenn ich von einer »Partnerschaft« spreche und dem notwendigen Zusammenleben zwischen dem Glauben und den Zweifeln dieser Art, wird man von mir sicher die Erläuterung erwarten, dass diese Partnerschaft begreiflicherweise asymmetrisch ist, weil der Zweifel Ausdruck der menschlichen Schwäche ist, während der Glaube – wenngleich wir hier immer von seiner »menschlichen Seite« sprechen – letztendlich ein Geschenk Gottes ist. Jedoch bin ich davon überzeugt, dass auch jene Zweifel, von denen ich hier spreche, von Gott selbst in unserem Inneren erweckt oder zumindest zugelassen werden. Der Zweifel, den ich hier im Sinn habe, schützt den Glauben vor seinem absoluten Gegensatz, dem Götzendienst.
WAS OHNE BEBEN IST, HAT KEINE FESTIGKEIT
Wie vor einer überraschenden Straßensperre drehen manche Gläubige bei unerwartet auftretenden eigenen Zweifeln um und kehren zurück in die erwartbare Sicherheit der Anfänge – sei es in das »Kinderstadium« ihres eigenen Glaubens oder in irgendeine Nachbildung der kirchlichen Vergangenheit. Solche Menschen suchen dann häufig Zuflucht in einer...