Der Apfel fällt vom Stamm
In der Schule wie im Leben
sollte man sein Bestes geben,
denn nur wer sein Bestes gibt,
ist bei jedermann beliebt.
Dein Vater
Diese fünf Zeilen stehen auf der ersten Seite meines Poesiealbums aus der 3. Schulklasse. Mein Lebensmotto, geschrieben von meinem Vater. Der Vater, der sich wenig später sein eigenes Leben nimmt. Und damit meines für immer verändert.
Bis zu diesem Mittwoch vor etwas mehr als zwanzig Jahren wachse ich behütet auf in Lastrup. Ein verschlafenes Kaff bei Cloppenburg, tief in der niedersächsischen Provinz. Fünftausend Einwohner auf zwölf Bauernschaften verteilt. Ich bin ein Kind vom Land, vom Dorf: Onkel mit Bauernhöfen, später auch Windkrafträder, das Eau de Toilette Gülle, die Schweinepest, ein Schulbus, der Dorfladen Kramer – mit angeschlossenem Café – und die Futterkrippe. Bei Letzterer handelt es sich um einen Schnellimbiss, den mein Bruder besuchte, meine Eltern aber strikt verteufelten und für den das Adjektiv »rustikal« ein Lob ist. Auf Wikipedia habe ich gelesen: 2011 wählten 88,9% der Bewohner die CDU. Sagt alles, oder?
Die Mitte von Lastrup ist aber nicht das Rathaus oder ein Politikerbüro, sondern die St. Petrus-Kirche. Die Pinöppel unter der Gebetbuchablage sind das Erste, woran ich mich beim Thema Kirche erinnere. Mit denen konnte ich als Kind so herrlich die Predigtzeit und das Hochgebet überbrücken. Eigentlich waren sie für die Hutablage gedacht, aber mit meiner blühenden Kinderfantasie wurde alles daraus, um eine spannende Zeit zu haben. Den Volltreffer hatte ich erwischt, wenn bereits andere tätige Kinderhände diese Holzstücke so weit vorgelockert hatten, dass ich sie ohne Probleme herausziehen konnte. Dann hielt ich wahlweise ein Flugzeug oder ein Raumschiff in den Händen. So lange, bis die elterliche Hand und ein eindringlich-eindrucksvoller elterlicher Blick das Spiel beendete. Leider fehlte mir in diesem Alter noch die Mahnung Jesu: »Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder«, als schlagkräftiges Argument.
Ob es genützt hätte, weiß ich nicht. Aber immerhin gehört Lastrup zu einem katholischen Mistbeet inmitten eines evangelischen Landstriches. Das sozialisiert und prägt unweigerlich. Der Gottesdienstbesuch am Sonntagmorgen war obligatorisch und der parallel laufende Tigerentenclub keine diskutable Alternative. Bei schwierigen Situationen wurde in der Kirche vor dem Marienbild eine Opferkerze angezündet, und der Kinderkreuzweg stand ebenso wenig zur Disposition wie die Beichte vor Hochfesten. Auch in diesem Falle war ich zu jung, um meine Eltern zu fragen, warum sie mir etwas zumuteten, was sie für sich selbst nicht in Betracht zogen. Die beichtwürdigen Punkte wurden mir natürlich unaufgefordert mitgegeben: Wann war ich nicht nett zu meinem Bruder, wann habe ich meinen Eltern nicht gehorcht. Heute würde ich sagen: Was eine fiese Sache, die Beichte als elterliche Erziehungsmaßnahme zu missbrauchen. Denn um Gott selbst ging es jedenfalls nie in diesen Ratschlägen.
Egal, ich tat, was wohl fast alle damals taten: Ich hielt mich an die elterlichen Hinweise und trug die klassischen Dinge vor, ohne wirklich ein tiefes Gefühl der Reue zu empfinden. Schlimmer war für mich ohnehin das aufgeregte Warten vor der dunkelbraunen Beichtbox – was sage ich gleich nur? –, die nicht anregende Gewissheit, in diesen dunklen, muffigen Raum zu müssen, und die Überlegung, wie ich das, was ich zu sagen habe, so sage, dass mich der Mann auf der anderen Seite, der mich ja kennt, danach auch noch mag und nicht komisch anschaut.
Messdiener wurde ich allerdings nicht und ich war auch niemals in der Landjugend oder bei Kolping. Bis heute habe ich nie den Drang verspürt, mich einem kirchlichen Verein anzuschließen. Die damit einhergehenden Verpflichtungen, sozialen Verbindlichkeiten und Spielregeln mag ich nicht. Zumal mich im Laufe meiner Jahre immer mehr der Verdacht beschlich, dass die unausgesprochenen Benimmregeln im Miteinander deutlich gewichtiger sind als der Auftrag, den solch eine Gemeinschaft hat. Auch die klassischen Sommerlager fanden wenig Zustimmung bei mir. Die Vorstellung, in Zelten zu übernachten und gar so etwas wie einen Donnerbalken nutzen zu müssen: furchtbar! Vielleicht kommt jetzt bei dem ein oder anderen nun der Gedanke: »Ach herrje, was ist denn das für ein Kind gewesen?« Er hat recht. Ich war schüchtern, naiv und regelkonform in allen Dingen. Beim Spielen auf der Straße habe ich immer auf das Ende der Runde gewartet, bis ich mich einklinkte. Ich war darum bemüht, nicht aufzufallen und stets die an mich gestellten Erwartungen mehr als ausreichend zu erfüllen. Wenn es in der Schule um Extraaufgaben und Vortragsdinge ging, war ich ganz vorne mit dabei. Schließlich hatte mein Vater mir doch gesagt, was zählte: Immer sein Bestes geben.
An einem Mittwoch wird dieses beschauliche Leben mit dem klaren Motto kaputtgeschlagen. Ich bin gerade dreizehn. Anders als sonst werde ich an diesem Tag nicht von meiner Mutter mit nach Hause genommen, sondern unsere Nachbarin holt mich zusammen mit ihrer Tochter ab. Als wir in meine Straße einbiegen, sehe ich nur einen Haufen von Autos auf unserm Hof und entlang der Straße stehen. Auch anders als sonst, werde ich nicht nur einfach vor der Tür abgesetzt und stapfe hintenrum durch die Garage ins Haus. Diesmal steigt die Nachbarin mit mir aus. Sie klingelt an der Haustüre und eine meiner Tanten öffnet mir. Sie trägt Schwarz. Seltsam. Ich gehe mit ihr in die Küche, noch mehr Verwandte. Alle so still, manche heulen. »Was ist denn hier los?«, frage ich. »Hat dir denn noch keiner was gesagt?«, wird zurückgefragt. Was hat man mir nicht gesagt?
Am Tisch ruft jemand rüber zur Kochküche: »Anneliese, din Söhn is da!«, und meine Mutter erscheint im Türrahmen. Die Tränen laufen ihr übers Gesicht und sie sagt nur: »Papa ist tot.«, und fällt mir in den Arm. Ich bin einfach nur überrascht. Was soll das denn bitte heißen: »Papa ist tot?« Morgens war doch noch alles wie immer. Ich verstehe das alles nicht.
Für weitere Nachfragen bleibt allerdings auch keine Zeit, denn ich werde aus dem Raum der Erwachsenen abgeführt, in mein Zimmer verfrachtet und allein gelassen. Trauer scheint also eher eine Sache der Großen zu sein. So tue ich, was getan werden muss. Ich packe meine Schultasche aus und mache mich an die Lateinvokabeln, die ich heute aufbekommen habe. »Papa ist tot.« »Papa ist tot.« Dieser Gedanke geht mir immer wieder mal durch den Kopf, ohne dass ich mir recht klar machen kann, was das denn nun genau meint. Na ja. Es ist ohnehin nicht die Zeit, in der er normalerweise zu Hause war. Warten wir’s also ab.
Hin und wieder öffnet sich die Tür und einer meiner Verwandten schaut herein. Man findet mich lernend und geht wieder. Irgendwann im Laufe des späten Nachmittages schaut auch mein Heimatpfarrer vorbei, der mir im Unterschied zu vielen anderen seine Hand auf die Schulter legt und nach ein paar Worten über meine Lateinlernerei zu mir sagt: »Es wird eine schwere Zeit. Aber ich bete für dich.« Kinder – und mit meinen zarten dreizehn bin ich definitiv noch ein Kind – spüren, ob so etwas ernst gemeint ist oder nur eine pastorale Floskel der eigenen Hilflosigkeit angesichts dieser Situation. Er meint es definitiv genau so, wie er es sagt. Deswegen tut es gut, das zu hören. Danach lerne ich aber auch wieder weiter.
Wenn ich heute im Gottesdienst für die Verstorbenen bete »Herr, gib ihnen die ewige Ruhe. Und das ewige Licht leuchte Ihnen. Herr, lass sie ausruhen in deinem Frieden. Amen«, dann passiert es mir immer wieder, dass ich das Gesicht meines Vaters vor Augen habe, wie er mit einem leicht zufriedenen Lächeln in seinem Sarg liegt. So friedlich und entspannt habe ich seine Gesichtszüge zu Lebzeiten nicht erlebt. Auch wenn ich bis heute nicht genau weiß, warum mein Vater seinem Leben ein Ende gesetzt hat; so war mir bei diesem Anblick damals klar: Ihm geht es gut. Er hat seine Ruhe – die war ihm immer sehr wichtig gewesen. Ganz offensichtlich hatte er nun das gefunden, was ihm sein Alltag nicht geben konnte.
Ein wenig davon scheint wohl in uns allen zu stecken. Damit meine ich nicht die Sehnsucht nach Suizid, sondern die Sehnsucht nach einem generellen ›Mehr‹, nach etwas, das die Grenzen des erlebten Alltags übersteigt. Diese Welt macht einfach nicht satt. Genug ist nie genug und den Hals können wir einfach nicht voll bekommen. Gut ist es immer nur für einen Moment, den wir aber nicht festhalten können. Er vergeht und verschwindet.
Wenn ich durch die Dünen wandere, meine Füße in den Sand des Nordseestrandes grabe und einen Blick auf die Weiten des Meeres riskiere, dann werden die Sorgen des Alltages ganz klein und lächerlich unbedeutend. Ja, ja, ich weiß: Das klingt unglaublich rührselig. Aber ist wirklich so. Dieser Moment ist ein Garant für tiefes Durchatmen und Loslassen. Herrlich. Und wenn ich nach dem Urlaub wieder einige Wochen im Alltagstrott bin. .. Okay, man soll ja nicht lügen: Wenn mich also nach wenigen Tagen der Alltagstrott wieder im Griff hat, dann scheint dieser Moment Generationen zurückzuliegen. Schrecklich. Aber es gehört wohl eben zum Leben dazu. Das galt schon zu biblischen Zeiten. Als Petrus voller Entzücken beim Anblick Jesu drei Hütten bauen wollte, um die Einzigartigkeit des Augenblicks festzuhalten, da durfte er nicht. Nein, es ging kurz danach zurück in die Niederungen des Alltags. Nicht nur das, anschließend wurde es richtig ungemütlich und die Leidenszeit begann. (Mt 17,1–8)
Auch Paulus kennt die Flüchtigkeit des Augenblicks nur zu gut. Er scheint selten in...