Leid ohne Gott?
Ein Leben in zwei Welten kann auf Dauer kaum befriedigen. Darum mag die heutige Glaubensnot u.?a. davon herrühren, dass nicht wenige Theologie und Naturwissenschaft als streng voneinander getrennte Bereiche wahrnehmen. Als einst die Theologie in der Neuzeit aufgrund des Siegeszuges moderner Naturwissenschaften mehr und mehr in die Defensive geriet, wurde im letzten Jahrhundert in der strikten Trennung beider Wissenschaftsbereiche Zuflucht gesucht. Theologen beanspruchten einen eigenen Gegenstandsbereich und eine eigene Methodik, infolge dessen es prinzipiell weder Gemeinsamkeiten noch Differenzen mit der Naturwissenschaft geben könne. So konnten beispielsweise für Karl Rahner »Theologie und Naturwissenschaft […] grundsätzlich nicht in einen Widerspruch untereinander geraten, weil beide sich von vornherein in ihrem Gegenstandsbereich und ihrer Methode unterscheiden.«1 Damit schien der Konflikt gelöst, doch der Preis war hoch: eine sprachlose Koexistenz. Diese Beziehungslosigkeit belastet bis heute den Glaubensalltag. Zwar gibt es gegenwärtig verschiedentlich Versuche, das Gespräch zwischen Theologie und Naturwissenschaft wieder in Gang zu bringen, nichtsdestotrotz sehen Glaubende die personale, subjektive Wahrheit ihres Glaubens mit der objektiven, unpersönlichen Wahrheit der Wissenschaft konfrontiert und erfahren sich nicht selten als Wandler zwischen zwei Welten.
Der Dualismus zwischen Theologie und Naturwissenschaft wird vor allem dann zum Problem, wenn sich beide Bereiche nicht mehr fein säuberlich voneinander unterscheiden lassen, wie dies etwa bei der Frage nach dem Verhältnis zwischen der Transzendenz und Immanenz Gottes der Fall ist: Wie ist ein besonderes Handeln des transzendenten Gottes innerweltlich näher zu denken? Die Sprachlosigkeit der Theologie symbolisiert die Not vieler Glaubender. Die Rede vom besonderen Handeln Gottes wird aber mehr noch als durch ihre fehlende Vermittlung mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen durch die existentielle Erfahrung ungerechten Leids erschwert. Wie soll und kann eine persönliche Fügung Gottes geglaubt werden, wenn selbst dem inständig Bittenden und aufrichtig Lebenden unvorstellbares Leid zuteil werden kann? Die Erfahrung, mit Leid und Übel allein und isoliert zu sein, und das Gefühl des scheinbaren Schweigens Gottes lassen es nur schwer glaubhaft erscheinen, dass Gott »mit starker Hand und ausgestrecktem Arm« (Dtn 5,15) direkt in die Weltgeschichte oder gar in eine individuelle Lebensgeschichte eingreift. Vor allem das unverschuldete, ungerechte Leiden hilfloser Kinder erscheint nach dem viel zitierten Wort Georg Büchners als ein »Fels des Atheismus«2; es ist die größte Anfrage an die Existenz eines allmächtigen und allgütigen Gottes. »Nein, Pater«, sagt in Albert Camus’ Roman »Die Pest« der Arzt Bernard Rieux zum Priester, »ich habe eine andere Vorstellung von der Liebe, und ich werde mich bis in den Tod hinein weigern, die Schöpfung zu lieben, in der Kinder gemartert werden«.3
Aktualität der Theodizee-Frage
Fragen, die um die Gerechtigkeit und Güte Gottes angesichts des Leids und Übels in der Welt kreisen, tragen seit Leibniz die Bezeichnung »Theodizee« (theos + dikae – Rechtfertigung Gottes) (Röm 3,4f.; Ps 51,6). Der Sache nach ist die Theodizee-Frage freilich älteren Ursprungs, ihre Wurzeln reichen zurück bis in die Antike. Schon der griechische Philosoph Epikur (341–271/0) merkte an, dass das Phänomen des Leids das göttliche Handeln in der Welt oder gar die Existenz Gottes selbst in Frage stellt: Gott will entweder das Übel verhindern, aber er kann es nicht (dann ist er nicht Gott, nicht allmächtig), oder er kann es, will es aber nicht (dann ist er missgünstig, im Grunde der Teufel), oder er kann es nicht und will es nicht (dann ist er nicht Gott), oder er kann und will es: woher aber dann das Übel?4 Wenn Gott im Sinne Anselms von Canterbury als das gedacht wird, »über dem hinaus nichts Größeres gedacht werden kann«5, wenn er also als allmächtig und allgütig vorgestellt wird, müsste er dann nicht dort eingreifen, wo ganz offensichtlich Unrecht geschieht?
Immanuel Kant hat das Theodizee-Problem als »die Verteidigung der höchsten Weisheit des Welturhebers gegen die Anklage, welche die Vernunft aus dem Zweckwidrigen in der Welt gegen jene erhebt«6, umschrieben. Aber, so könnte kritisch eingewandt werden, ist es überhaupt angebracht, ja dem Menschen erlaubt, dass er als Geschöpf mit seinem Schöpfer ins Gericht geht? »Wer bist du denn, dass du als Mensch mit Gott rechten willst?« (Röm 9,20) Manche Theologen halten es für vermessen, Gott wegen des Weltübels rechtfertigen zu wollen.7 Doch kann sich ein Glaube, der beansprucht vernünftig (1 Petr 3,15) und insofern verantwortbar zu sein, mit einer solchen Zurückhaltung zufrieden geben? Werden damit die Zweifel der Gläubigen am Handeln Gottes und seiner Fügung angesichts des unschuldigen Leids und Übels in der Welt adäquat beantwortet? Die Theodizee-Frage lässt sich mit der Einforderung eines intellektuellen Opfers (sacrificium intellectus) nicht entschärfen. »Ein Gott […], der ein Frageverbot erläßt, ist kein Gott freier Menschen«.8
Wie sehr quälende Glaubenserfahrungen ernstgenommen werden müssen und die Glaubensnöte nicht einfach beiseite geschoben werden dürfen, zeigt schon das Alte Testament. Dort nämlich ist ein ganzes (Lehr)Buch der Frage nach dem Leid des Gerechten gewidmet: Hiob wird von unvorstellbarem Leid heimgesucht und weil er sich keiner Schuld bewusst ist, begehrt er gegen Gott auf bzw. gegen die gängige Gottesvorstellung, wie sie von seinen Freunden vertreten wird. Hiobs Aufstand richtet sich letztlich gegen den Gott, wie er sich im System der weisheitlichen Theologie zeigt. Demnach handelt Gott als oberster Rechtsherr nach dem Tun-Ergehen-Zusammenhang, weshalb Leid immer eine gerechte Strafe Gottes darstellt. Indem Hiob gegen dieses Gottesbild ankämpft, wird ein anderer, freier, souveräner Gott sichtbar, aber keineswegs ein leichterer, einfacherer. Vor diesem anderen, größeren, schwierigeren Gott, der das System der Weisheitsdogmatik durchbricht, bewährt sich Hiob. Indem Gott den rebellierenden Hiob nicht vernichtet, sondern sich ihm zuwendet, gibt dieses alttestamentliche Lehrbuch zu erkennen, dass es das Faktum des ungerechten Leids gibt und jede Frage des Menschen vor Gott ihre Berechtigung hat, auch dann, wenn sie in Form der Anklage formuliert wird.
Wie schon die biblische Theologie die Theodizee-Frage ernst nimmt, so ist sie der heutigen Theologie unausweichlich aufgegeben. Denn die Neuzeit kennt verschiedene natürliche und vom Menschen verursachte Katastrophen, angesichts derer die Frage nach der Anwesenheit Gottes im Leid unweigerlich aufbricht. Das Erdbeben von Lissabon zerstörte an Allerheiligen des Jahres 1755 die Hauptstadt eines streng katholischen Landes und zählt mit 30.000 bis 100.000 Todesopfern bis heute zu den grauenvollsten Naturkatastrophen Europas. Es erschütterte die aufklärerische und optimistische Hoffnung des 18. Jahrhunderts, dass es für die Menschheit einen Fortschritt zum Besseren geben könnte. Was sollte das für ein Fortschritt sein, wenn trotz allem die Natur die Menschen mit unberechenbarer und unbeherrschbarer Gewalt bedrohte? Vor allem aber die Frage, was das für ein Gott ist, der solche Grausamkeit zulässt, beschäftigte Philosophen und Theologen nicht minder nachhaltig wie im letzten Jahrhundert die Schoa, der Völkermord an ca. 6 Millionen Juden.
Die Frage nach einem gnädigen, den Menschen zugewandten Gott hat erneut aufgrund der bislang schlimmsten Tsunamikatastrophe am 26. Dezember 2004 vor der Insel Sumatra, der mindestens 231.000 Menschen in acht asiatischen Ländern zum Opfer fielen, oder des Erbebens auf Haiti Anfang des Jahres 2010, das kaum weniger viele Menschenleben forderte, an Brisanz gewonnen. Der Glaube an Gottes Präsenz und Fügung ist angesichts der Faktizität des Negativen so sehr dem massiven Verdacht ausgesetzt, zutiefst widersprüchlich zu sein, dass »[d]ie Theodizee […] zum Schicksalsort der Gottesrede«9 geworden ist.
Philosophische Theodizee
Das Theodizee-Problem dreht sich um einen logischen Widerspruch zwischen zwei Aussagen, nämlich von Gottes Allmacht, Allwissenheit und Allgüte einerseits und vom faktischen Übel in der Welt andererseits. Grundsätzlich kann der Antagonismus als ein nur scheinbarer aufgewiesen werden, indem entweder die Attribute Gottes bzw. das Leid und Übel in der Welt eingeschränkt oder aber beide Aussagen letztlich als doch logisch miteinander kombinierbar aufgewiesen werden. Hilfreich ist dabei, grundsätzlich drei verschiedene Formen von Leid und Übel zu unterscheiden, wie dies Leibniz getan hat: die Unvollkommenheit des Seienden, u.?a. seine vielfältigen Grenzen (malum metaphysicum), das unverschuldete Leiden von Menschen und anderen empfindungsfähigen Kreaturen (malum physicum) sowie das moralische Übel, das schuldhaft von Menschen verursachte Leid (malum morale).10 Von diesen drei Formen trifft den Menschen nichts so direkt und nachhaltig wie das persönlich erlittene, unverschuldete Leid. In der Geschichte der Philosophie finden sich hierzu verschiedene Erklärungsversuche, die allerdings die Theodizee-Frage nie umfassend und befriedigend beantworten konnten.
Vor allem bei Augustinus11 (354–430) und später bei Thomas von Aquin findet sich der Versuch, das Übel ontologisch zu depotenzieren: Das Übel stelle einen Mangel des wahren Seins bzw. Mangel am Guten dar (privatio boni) und besitze als solches keine eigenständige ontologische Realität. Insofern dem Übel...