Warum wir dieses Buch schreiben – Einleitung
Das Schlimmste ist geschafft, aber das Schwierigste liegt noch vor uns. Auf diese Formel kann man die bisherigen Erfahrungen mit der Weltwirtschaftskrise und die weiteren, daraus sich ergebenden Herausforderungen vielleicht bringen. Das gilt nicht nur für Deutschland, das betrifft alle großen Industrieländer der Welt.
Das Schlimmste, das waren die Insolvenz von Lehman-Brothers, die anschließenden weltweiten Turbulenzen im Bankensektor, der Zwang für Notenbanken und Politik, schnell, entschlossen und mutig zu reagieren. Der Zusammenbruch der Weltwirtschaft musste verhindert werden.
Es war keine einfache Zeit für die Beteiligten. Besonders schwer war diese Zeit für Politiker, die die Weltwirtschaft gestalten – und in diesem Fall als letzte Instanz retten mussten. Es war eine Zeit, in der sie alle ordnungspolitischen Bedenken hinter sich ließen, in der sie schnell und ohne Rücksicht auf Verluste handelten und handeln mussten.
Im Rückblick lässt sich sagen, dass in den ersten Monaten nach dem Lehman-Schock – am 15. September 2008 meldete die Investmentbank Lehman Brothers Insolvenz an und lähmte damit die Finanzmärkte der ganzen Welt – vieles richtig gemacht worden ist. Auch und gerade in der deutschen Politik. Die Leistungsfähigkeit dieses Landes und seiner Politiker haben in der Krise dafür gesorgt, dass die Wirtschaft handlungsfähig blieb, dass das Bankensystem und damit der Blutkreislauf der Ökonomie erhalten blieben, dass die Gesellschaft trotz der enormen Turbulenzen nicht auseinander driftete. Dass die Zustimmung zum Modell der sozialen Marktwirtschaft nach Erkenntnissen des Allensbach-Instituts für Demoskopie gerade im vergangenen Jahr nicht gelitten hat, sondern sogar leicht wächst, ist eine große Leistung. Ein Ergebnis, das sich vor allem die Politik zurechnen darf.
Gerade weil die beiden Autoren dieses Buchs zur Zeit nicht mehr aktiv in der Politik engagiert sind, können sie das offen sagen: Ohne den voraus gegangenen, wenn auch noch energischer vorstellbaren Konsolidierungskurs der öffentlichen Haushalte, ohne die Leistungsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft und ohne die Bereitschaft und die Fähigkeit der Regierung, des Parlaments, der Ministerialbürokratien und nicht minder der Zentralbanken, in der Not zu handeln, hätte die Sache ganz anders ausgehen können. Nur vor diesem Hintergrund ist eine faire Bewertung der Leistungen der Vergangenheit und der Herausforderungen für die kommenden Jahre möglich.
Die Zeit der Notoperationen ist nun vorbei. Jetzt muss aufgeräumt werden. Die Krise hat diesem Land neue Staatsschulden in Höhe von mindestens 100 Milliarden Euro hinterlassen, es kann am Ende auch noch viel mehr sein. Die Krise belastet heute den Arbeitsmarkt, die Sozialsysteme und die öffentlichen Haushalte. Politische Ziele wie mehr Bildung, mehr Kinderbetreuung oder ein ausgeglichener Haushalt, von denen wir bis zum Herbst 2008 glaubten, sie seien aus Wirtschaftswachstum und vernünftiger Sparsamkeit heraus zu erwirtschaften, verlangen jetzt echte Kraftakte. Die Krise übt einen politischen Handlungsdruck der anderen Art aus. Wenn wir es ernst meinen mit dem Bekenntnis, das Land den nachfolgenden Generationen finanziell, wirtschaftlich, technologisch und ökologisch in ordentlichem Zustand übergeben zu wollen, müssen wir jetzt ernst machen. Wir müssen nachhaltig denken und lenken, die systematische Behinderung neuer Technologien beseitigen, ideologische Scheuklappen ablegen und die Voraussetzungen für ein gutes und dynamisches Wirtschaftswachstum stärken.
Jetzt beginnt die schwierigste Zeit. Denn die Gefahr eines Rückfalls in die Rezession ist lange noch nicht gebannt. Sobald die Konjunkturprogramme, die gerade jetzt ihre maximale Wirkung entfalten, auslaufen, verblasst die staatlich motivierte Nachfrage. Der Arbeitsmarkt wird zeitgleich vielleicht noch schwächer werden: Weil die Arbeitslosigkeit am Ende einer Rezession erfahrungsgemäß noch steigt und jedenfalls noch für eine Weile wesentlich zu hoch sein wird, auch wenn sich die Wirtschaft schon wieder erholt. Es ist zu befürchten, dass mehr privater Konsum den staatlich motivierten Verbrauch kaum ablösen kann. Wer sich sorgen muss, seinen Arbeitsplatz zu verlieren, baut kein neues Haus, kauft kein neues Auto.
Gleichzeitig aber geht es zunächst vor allem darum, die Staatsverschuldung wieder zu reduzieren. Das Geld, mit dem die Märkte im vergangenen Jahr am Leben gehalten wurden, muss wieder eingesammelt werden. Auch das wird die Wirtschaftsentwicklung bremsen: Wir müssen das Wachstum zurückzahlen, das wir uns in der Krise von der Zukunft geliehen haben.
Es geht also um Konsolidierung und um Wachstum: Ohne Wirtschaftswachstum werden wir das Land nicht für die Zukunft rüsten können. Nur ein höheres Wachstum wird dafür sorgen, dass die Folgen der Krise, der demografische Wandel und die Herausforderungen der Umweltpolitik ordentlich bewältigt werden können. Eine vernünftige Wachstumspolitik aber wird in den kommenden Jahren kaum auf kurzfristige Konjunkturspritzen und weitere Verschuldung setzen können. Dazu fehlt gottlob das Geld, und außerdem haben sich die öffentlichen Haushalte mit dem Maastrichter Vertrag wie auch mit der neuen „Schuldenbremse“ im Grundgesetz selbst gebunden, die Staatsverschuldung als wirtschafts- und sozialpolitische Strategie zu beenden. Die „Als-Ob-Ökonomie“ aus wachsender Verschuldung und Konsum, die der verstorbene Gesellschaftswissenschaftler Ralf Dahrendorf als kennzeichnend für die siebziger, achtziger und neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts beschrieben hat, ist mit dieser Selbstbindung der Politik an ihr Ende gekommen. Jetzt kommt es wieder darauf an, die von Dahrendorf beschriebenen Werte des Wiederaufbaus, nämlich „Fleiß, Sparsamkeit, Konsumverzicht und Disziplin“ zu neuem Leben zu erwecken. Denn nichts anderes steht diesem Land bevor: Wir werden uns und unsere ökonomische Rolle in der Weltwirtschaft neu erfinden müssen, wenn wir sie verteidigen wollen.
Eine vernünftige Wachstumspolitik wird also nicht auf neue Schulden setzen. Sie wird die Rahmenbedingungen des Wirtschaftens in diesem Land überprüfen. Sie wird sich fragen, ob die Krise zu einem Abbruch des Wachstumspfades geführt hat – ob also die deutsche Wirtschaft in der Tendenz in den kommenden Jahren schwächer wachsen wird als zuvor. Und wenn das so ist – wofür es einige Anzeichen gibt – wird sie überlegen, wie man das ändern kann, wie mehr Wirtschaftswachstum mobilisiert werden kann: Wie sieht es mit den Belastungen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern aus? Was sind die Anreize für Unternehmen, hier zu investieren und ihre Zukunft hier zu planen? Ist Deutschland offen genug für Gründer, für die Industrie, für die Wissenschaften? Behandelt es seine klugen Köpfe so, wie sie es verdienen? Lässt sich die Bürokratie doch zähmen? Sind die Sozialsysteme dauerhaft durch Beiträge zu finanzieren? Wie lässt sich mehr Wachstum mit dem Anspruch verbinden, weniger Rohstoffe zu verbrauchen und die Umwelt weniger zu belasten?
Eine kluge Wachstumspolitik muss sich diesen Fragen stellen. Doch sie wird es anders tun müssen als in den großen Reformgefechten der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts und der ersten Jahre dieses Jahrtausends. Niemand will eine Neuauflage des großen Krachs. Inzwischen wissen alle, wie zerbrechlich der gesellschaftliche Zusammenhalt ist, wie schnell die Einsicht in Notwendigkeiten umschlagen kann in Protest und Verweigerungshaltung. Alle – auch die Autoren dieses Buchs – haben feststellen müssen, dass vernünftige Politik eben nicht immer vernünftig vermittelt worden ist. Kluge Reformer berücksichtigen die Erfahrungen, die andere Gesellschaften mit den Herausforderungen von Finanznot und Reformbedarf gemacht haben. Sie beachten die neuen Erkenntnisse der Verhaltensökonomen und Neurobiologen: Die Wissenschaftler zeigen, welche Fehler man vermeiden kann und welche Rolle gelegentlich Designfragen für den Erfolg oder den Misserfolg eines politischen Beschlusses spielen.
Finanzminister Wolfgang Schäuble hat kürzlich gesagt: „Wer Veränderung will, muss von der Realität ausgehen“. Wir glauben, dass die Realität noch nicht immer so drastisch wahrgenommen wird, wie sie ist. Das gilt nicht nur für die allgemeine Bevölkerung. Das gilt auch für das politische Personal.
Was nach innen ein Risiko für die Zukunft darstellt, ist auch außen erkennbar: Wenn Deutschland und Europa ihren Einfluss auf die Weltwirtschaft wahren und ausbauen wollen, müssen sie ihre Rolle auch annehmen, und zwar nicht nur in der Außenpolitik. Für die künftige Regulierung der Finanzmärkte gilt das genau so wie für die Anstrengungen zur Begrenzung des Klimawandels. Hier haben gerade wir Deutschen die Aufgabe, die Errungenschaften der sozialen Marktwirtschaft als Bedingung für eine verantwortungsbewusste Weltwirtschaftsordnung zu formulieren. Das kann aber kein deutsches Projekt bleiben, das ist längst auch ein europäisches Projekt geworden. Wir sind der festen Überzeugung, dass die künftigen Strukturen der Weltwirtschaft global verabredet werden müssen. Deutschland allein wird das nicht tun können. Das wird zu den wachsenden Aufgaben eines starken Europa gehören. Dafür muss Europa auch mit wachsenden Kompetenzen ausgestattet werden. Europa muss mehr Gewicht bekommen, zu Lasten der einzelnen Länder Europas.
Nur in einem solchen Rahmen ist die Verankerung neuer Regeln überhaupt realistisch. Dazu gehört zwingend die Verankerung des Haftungsprinzips auch bei Finanztransaktionen: Wer persönlich nicht haften muss, wenn er an den Finanzmärkten agiert,...