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E-Book

Globale Welt (1970-2015)

AutorChristian Henrich-Franke
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl193 Seiten
ISBN9783170332508
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis22,99 EUR
Die 1970er Jahre stellen in vielerlei Hinsicht einen Bruch in der europäischen Geschichte dar. Globalisierung, Digitalisierung und der neoliberale Umbau von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft prägten nachhaltig die Epoche. Dazu kam das Ende des Kalten Krieges und die Eingliederung Osteuropas in westeuropäische Entwicklungsprozesse und die Europäische Union nach 1989. Seit Mitte der 2000er Jahre mehren sich durch die Finanzkrise von 2008, die Terroranschläge in den Hauptstädten Europas oder das sinkende Vertrauen in die Europäische Union die Anzeichen für ein Ende der Basisdeterminanten Europäischer Geschichte seit den 1970er Jahren. Die vielfältigen Entwicklungen systematisiert und thematisiert das neue Lehrbuch. Es kombiniert einen chronologischen Überblick mit einer systematischen Erschließung der Themenfelder Gesellschaft, Gewalt, Recht, Staat, Technik und Wirtschaft.

PD Dr. Christian Henrich-Franke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Siegen.

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Leseprobe

2          Staat


 

 

2.1       Vorbemerkungen


Der Zeitraum seit den 1970er Jahren kann als eine Phase des fundamentalen Wandels europäischer Staatlichkeit betrachtet werden. Seit den 1970er Jahren verlor das für die globalen bzw. internationalen Beziehungen konstitutive Strukturprinzip des souveränen Nationalstaats europäischer Prägung zunehmend an Bedeutung. Zuvor waren die drei Kernkompetenzen der Herrschaftsausübung (Entscheidungskompetenz, Organisationskompetenz, Souveränität) seit dem 15. Jahrhundert mehr und mehr in der Hand des Staats konzentriert worden. Das europäische Modell des nationalen Territorialstaats war im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts zum Leitbild der internationalen Beziehungen aufgestiegen und die Welt in ›Nationalstaaten‹ gegliedert worden. Sogar die ehemaligen Kolonien formierten sich nach Erringung ihrer Unabhängigkeit zunächst nach dem Modell des Nationalstaats. Michael Zürn bezeichnete die 1950er und 1960er Jahre gar als das »goldene Zeitalter« des europäischen Staats (Zürn 1998). Der Wandel von Staatlichkeit ist freilich kein neues Phänomen, das erst in den 1970er Jahren aufgekommen ist. Vielmehr muss er ebenso als eine Konstante der europäischen Geschichte angesehen werden, wie die (globale) Koexistenz unterschiedlicher sozialer Ordnungssysteme – Nationalstaaten, Stämme, Klientelsysteme oder Vielvölkerstaaten. Allerdings kehrte sich der Trend zur Herrschaftskonzentration in den Händen des (National-)Staats seit den 1970er Jahren um. Gleichzeitig fällt in diese Phase europäischer Geschichte das Ende der Koexistenz zweier Ordnungs- und Gesellschaftssysteme. Mit Blick auf den engeren zeithistorischen Kontext des 20. Jahrhunderts stellt das Ende des real existierenden Sozialismus in Osteuropa in den Jahren von 1989 bis 1992 eine fundamentale Zäsur in der Entwicklung von Staatlichkeit in Europa dar.

Europäische Staatlichkeit wandelte sich seit den 1970er Jahren zum einen im globalen Umfeld, zum anderen auch innerhalb Europas. Beide Aspekte sollen hier angesprochen werden, wobei der Schwerpunkt auf die Darstellung des Wandels von Staatlichkeit innerhalb Europas gelegt wird. Dieser wird in diesem Kapitel als ein Prozess der fundamentalen Homogenisierung und Transformation europäischer Staatlichkeit auf allen Ebenen des Regierens in Europa (Europa, Nationalstaat, Region) betrachtet. Erstens fand eine starke Ausweitung und Intensivierung auf der Ebene Europas, d. h. der Europäischen Gemeinschaft/Europäischen Union, statt, die seit dem Beitritt von Dänemark, Großbritannien und Irland im Jahr 1973 immer größere Gebiete Europas umfassten. Zweitens harmonisierte sich der Nationalstaat durch neoliberale Staatsreformen und die sukzessive Durchsetzung des Staatsmodells der parlamentarischen Demokratie in zwei Entwicklungsschüben: zunächst in den 1970er Jahren in Südeuropa, dann in den frühen 1990er Jahren in Osteuropa. Drittens durchliefen nahezu alle Staaten Europas – wenngleich in unterschiedlichem Maße – einen Prozess der binnenstaatlichen Regionalisierung bzw. Föderalisierung, der durch die Regionalpolitik der Europäischen Union zusätzlich gestärkt wurde.

Mitte der 2000er Jahre waren – zumindest die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) – in ein komplexes Mehrebenenmodell des Regierens eingebunden, in dem der traditionelle europäische Nationalstaat viele Bereiche seiner Souveränität aufgegeben hatte. Staatlichkeit ist seitdem über diese drei Ebenen (Europäische Union, Nationalstaat, Region) verteilt, wenngleich der Nationalstaat nach wie vor die bedeutsamste Ebene ausmacht.

2.2       Europäische Staaten im globalen Umfeld


Im Zeitalter der Globalisierung kann der Wandel der Staatlichkeit in Europa nicht von den Entwicklungen im globalen Umfeld getrennt werden. Die Handlungsbedingungen, Handlungsschwerpunkte und Handlungsspielräume des europäischen Nationalstaats veränderten sich seit den 1970er Jahren auch, weil unter dem Dach der Vereinten Nationen vielfältige internationale Abkommen und Regulierungsregime wie beispielsweise das GATT-Abkommen oder Übereinkommen zum Schutz und der Nutzung der Weltmeere beschlossen und umgesetzt werden konnten. Bei globalen Gemeinschaftsgütern wie den Weltmeeren, dem Spektrum von Funkfrequenzen, der Nutzung des Weltraums oder anderen zwischenstaatlichen Abhängigskeitsverhältnissen unterliegt die nationalstaatliche Legislative immer öfter internationalen Vorgaben. Immer weniger war das internationale System dabei am Modell kooperierender Nationalstaaten ausgerichtet, was sich auch darin zeigt, dass internationale Organisationen – egal ob Regierungs- oder Nichtregierungsorganisationen – immer mehr Dinge bearbeiteten. Zwar hat die Zahl internationaler zwischenstaatlicher Organisationen in den 1980er und 1990er Jahre insgesamt abgenommen, u. a. weil parallele Organisationen des Kalten Kriegs, wie die Nordatlantische Verteidigungsgemeinschaft (NATO) und der Warschauer Pakt, vielfach abgeschafft wurden. Gleichzeitig haben sich aber die Aufgabenbereiche der bestehenden Organisationen erheblich erweitert, und es hat sich die Regulierungsdichte deutlich erhöht, was sich direkt auf staatliche Handlungsmöglichkeiten auswirkte. Selbst internationale Vergleichsstudien wie das von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in den 1990er Jahren entwickelte Programm zur internationalen Schülerbewertung (PISA), dass eigentlich nur einen indikativen Charakter besitzt, wirkt sich massiv auf die staatliche Tätigkeit im Bildungssektor aus.

Internationale Organisationen haben unterschiedliche Rechtsformen. Sie können entweder durch Regierungen als ›Intergovernmental Organisations‹ (IGO) oder als Nichtregierungsorganisationen ›Nongovernmental Organisations‹ (NGO) von internationalen Interessengruppen, Verbänden oder Unternehmen gegründet worden sein.

Infobox 1: Formen internationaler Organisationen

Der Wirkungsbereich nationalstaatlicher Politik und die Reichweite wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Handlungszusammenhänge klafften seit den 1970er Jahren im globalen Umfeld nicht nur wegen freiwillig eingegangener Abkommen auseinander, sondern auch weil der Nationalstaat sich immer öfter mit neuen mächtigen Akteuren, wie Nicht-Regierungs-Organisationen oder multi- und transnationale Unternehmen, konfrontiert sieht, die geschickt weltweit operieren, um sich die jeweiligen Vorteile der unterschiedlichen Staaten zunutze zu machen. So hat die sukzessive Deregulierung internationaler Finanzmärkte seit Mitte der 1980er Jahre dazu geführt, dass die Nationalstaaten Europas mit niedrigen Steuern und Sozialleistungen reagierten und sich so die eigenen Handlungsspielräume begrenzten. Wenn dabei von veränderter Partizipation und relativer Macht der Akteure am politischen Prozess gesprochen wird, so hat dies eine nationale wie auch internationale Dimension, die nicht immer voneinander klar zu trennen sind. Als ein Paradebeispiel können nationale Ratingagenturen angesehen werden, die sich auf den seit den 1970er Jahren zunehmend deregulierten Finanzmärkten immer stärker grenzüberschreitend auswirken. Insbesondere die Finanzkrise der Jahre 2007/08 hat deutlich gezeigt, dass Fehlbewertungen im Vorfeld der Krise wie auch die Herabstufung der europäischen Krisenstaaten Griechenland, Irland, Portugal oder Spanien während der Krise den Handlungsspielraum nationalstaatlicher Regierungen sowie internationaler Organisationen massiv beeinflussten.

Ratingagenturen sind eine Tradition der US-Wirtschaft, deren Wurzeln in der Bewertung von US-Eisenbahngesellschaften für potentielle Anleger im 19. Jahrhundert liegen. Im März 1918 ging dann die privatwirtschaftliche Ratingagentur Moody’s erstmals dazu über, Staatsanleihen zu bewerten, woraus die Bewertung der Kreditwürdigkeit von Staaten abgeleitet wurde. Nachdem in den 1960er Jahren aufgrund des Wirtschaftswachstum das Rating staatlicher Emissionen ausgesetzt wurde, setze im Jahr 1975 eine expansive Entwicklung des Agenturwesens ein. US-Agenturen wie Standard & Poor’s, Moody’s oder Fitch Rating waren die Vorreiter einer immer umfassenderen Bewertung der Kreditwürdigkeit (internationaler) Marktteilnehmer, der sich der Rest der Welt auf den immer offeneren Märkten stellen musste. In Europa wurden Ratingagenturen sukzessiv einer intensiven Regulierung und Lizensierung seitens der Europäischen Union unterworfen, nachdem sich gezeigt hatte, dass Ratingagenturen sich enorm auf staatliche Handlungsspielräume auswirkten.

Info 2: Ratingagenturen

Die Entwicklung des Nationalstaats ist im globalisierten Umfeld von starken Ambivalenzen geprägt. Einerseits erfolgte seit den 1970er Jahren eine spürbare Aushöhlung nationalstaatlicher Kompetenz und...

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