2 In Kontakt sein
Mit anderen Menschen in Kontakt sein
Um uns weiterzuentwickeln, benötigen wir nicht nur Herausforderungen, sondern auch ein In-Kontakt-Treten mit anderen Menschen. In Kontakt treten heißt, dass ich andere Personen körperlich, geistig und emotional berühre und mich von ihnen berühren lasse.
In Kontakt treten heißt auch, mich mit dem anderen auseinanderzusetzen, seine Verletzungen und Wünsche wahrzunehmen und gleichzeitig mich selbst zu zeigen. Wenn ich mich einem Menschen nähere, entsteht Spannung. Erst wenn ich wirklich in Kontakt zu ihm trete, kommt ein Energieaustausch in Schwung. Meine Kontaktgrenze hilft mir dabei, meine Identität gegenüber anderen Menschen zu bewahren und zwischen meinen Bedürfnissen und denen anderer zu unterscheiden. Nicht selten vermeidet man aus Gründen, die lange Zeit zurückliegen können, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Damals war diese Kontaktvermeidung auf eine Art sinnvoll für mich und stabilisierte mein Leben.
Heute ist sie vielleicht nicht mehr notwendig und sogar hinderlich. Dieses Vermeidungsverhalten kann unterschiedliche Gesichter haben.
Arten der Kontaktvermeidung
Ablenkung
Statt über schwelende Konflikte spreche ich über das Wetter. Oder ich rede von der Vergangenheit statt über die relevantere Gegenwart. Während der andere spricht, bin ich mit meinen Gedanken ganz woanders. Ich argumentiere, statt über meine Gefühle zu sprechen. Über Dinge, die mich berühren, äußere ich mich scherzhaft. Alle diese Varianten verfolgen einen Zweck: Der Kontakt zu anderen und zu sich selbst soll abgeschwächt werden.
Verschmelzung
Zur Verschmelzung kommt es, wenn meine Kontaktgrenze lückenhaft ist oder gänzlich fehlt. Dann möchte ich um jeden Preis Harmonie und Nähe mit anderen Personen herstellen, um in keinen Missklang zu geraten. Aus demselben Grund vermeide ich dann auch jeden Konflikt und orientiere mich am Maßstab der anderen. Es kann sich auch um ein gelerntes Muster handeln, um mit Menschen in Beziehung zu treten, die selbst Kontakt vermeiden.
Rückzug
Trotz meines Wunsches, eine Freundin zu treffen, setze ich mich vor den Fernseher. Oder ich unterlasse es, meinem Partner meine Liebe zum Ausdruck zu bringen, und finde dafür bestimmt auch gute Gründe. Auch vor mir selbst und meinen Gefühlen kann ich mich zurückziehen: Anstatt meine Wut wahrzunehmen und zuzuordnen, trinke ich ein Glas Wein.
Übernahme
Als Kind übernimmt man von nahestehenden Personen oft Botschaften, wie: „Sei stark!“, „Streng dich an!“, „Sei perfekt!“ Diese verbalen Botschaften werden oft auch verklausuliert formuliert. Noch stärker können nonverbale Botschaften wirken. Ein Abwenden des Körpers, ein Zucken mit der Achsel, ein Verziehen der Mundwinkel kann so viel bedeuten wie: „Du schaffst es nicht!“, „Du gehörst nicht dazu!“, „Du bist unwichtig!“ Als Kind ist uns eine Reflexion dieser Botschaften noch nicht möglich. Sie werden vielmehr übernommen. Und wenn meine Kontaktgrenze nicht intakt ist, wenn ich nicht zwischen meinen Bedürfnissen und denen anderer unterscheiden kann, übernehme ich auch noch als Erwachsener unreflektiert Botschaften anderer.
Projektion
Statt einen Menschen so wahrzunehmen, wie er sich verhält, projiziere ich meine eigenen Bilder, Interpretationen und Fantasien auf diese Person. Oft handelt es sich bei diesen Bildern um unerwünschte und daher verdrängte Gefühle oder Wünsche, die ich auf andere Menschen projiziere, um mich davon distanzieren zu können. In stark übertriebener Form kann dieser Abwehrmechanismus zur Verfolgung von Minderheiten und zu Krieg führen. In der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts haben besorgte Menschen ihre Ängste auf Juden projiziert, heute projizieren Menschen in Europa ihre irrationalen Zukunftsängste auf Geflüchtete und Muslime.
Weniger drastisch ärgere ich mich zum Beispiel über Personen, die über eine Eigenschaft verfügen, die ich auch gerne haben möchte, aber nicht habe. Oder ich ärgere mich über Personen, die eine Eigenschaft haben, die ich nicht haben möchte, aber habe.
Umgekehrt verliebe ich mich in Personen, die Eigenschaften haben, die ich selbst auch habe und auch haben will. Überspitzt formuliert verliebt man sich in die eigenen positiven Eigenschaften. Wir projizieren unsere inneren Bilder auf unsere Umwelt ähnlich einem Beamer. Obwohl unsere Projektionen ständig ablaufen, geschehen sie üblicherweise völlig unbewusst. Erst wenn wir die unterschiedlichen Projektionen erkennen, können wir auch die Fähigkeit, sie zu beeinflussen, nutzen. Dabei ist es hilfreich, sich konzentrieren und einfühlen zu können, und auch ein gewisses Maß an Kreativität ist von Vorteil. Menschen um uns nehmen ihr Umfeld anders wahr, auch wenn sie sich im selben Raum befinden. Die Ausprägung ihrer Wahrnehmungskanäle ist unterschiedlich und die Wahrnehmungen verknüpfen sie mit anderen Erfahrungen, die sie im Lauf ihres Lebens gemacht haben.
Übung Projektion
»Erstellen Sie eine Liste von den zehn Personen (wie Politiker oder Arbeitskollegen) oder Menschengruppen, über die Sie sich am meisten ärgern.
»Schreiben Sie neben jeden Namen mindestens drei Eigenschaften, die Sie abstoßend oder nervend empfinden.
»Hinterfragen Sie jede Eigenschaft hinsichtlich der zwei Möglichkeiten: Möchten Sie diese Eigenschaft gerne haben und verfügen jetzt noch nicht über sie? Finden Sie dafür Beispiele aus Ihrem Leben.
»Oder verabscheuen Sie diese Eigenschaft, obwohl Sie sie selbst haben, vielleicht in abgemilderter Form? Finden Sie dafür Beispiele aus Ihrem Leben.
»Wenn ich mich leicht über andere Menschen ärgere, hat das in erster Linie mit mir selbst zu tun, mit meinen Bedürfnissen, Wünschen und Werten.
Diese fünf Möglichkeiten der Kontaktvermeidung können auch positive Aspekte haben. Insbesondere dann, wenn es notwendig oder ratsam ist, einem Konflikt aus dem Weg zu gehen, können diplomatisches Handeln, Rückzug oder Übernahme eine passende Strategie sein.
Im besten Fall heißt In-Kontakt-Treten, dass ich dem anderen offen, wertschätzend und konzentriert begegne. Es bedeutet nicht, dass mir der andere sympathisch zu sein hat oder dass ich sein Verhalten gutheißen muss. Einem angenehmen Menschen wertschätzend zu begegnen, der das Herz am richtigen Fleck hat, ist nicht schwierig. Tritt mir jedoch jemand aggressiv gegenüber oder fühle ich mich ungerecht behandelt, dann stehe ich vor einer Herausforderung. Gelingt es mir, in einer solchen Situation wertschätzend und konzentriert zu bleiben, erfülle ich die besten Voraussetzungen, um Konflikte effektiv zu führen und in Kontakt zu bleiben.
Rückmeldungen und auch Kritik sind notwendig, um mich orientieren und weiterentwickeln zu können. So gesehen können sie auch als Zeichen von Wertschätzung verstanden werden. „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.“ Dieses Zitat von Ingeborg Bachmann kann mir die Scheu nehmen, ehrlich zu sagen, was ich denke. Insbesondere, wenn mir klar ist, dass es sich nur um meine Wahrheit handelt, die der andere ebenfalls so betrachten kann oder eben nicht. Besonders in Paarbeziehungen ist es wichtig, immer wieder in Kontakt zu treten beziehungsweise zu bleiben. Das bedeutet auch, den anderen mit meinen Sichtweisen zu konfrontieren und Feedback zu geben, um meinem Partner die Möglichkeit zu geben, sein Verhalten zu reflektieren und gegebenenfalls zu ändern.
Assoziation und Dissoziation
Assoziiert sein bedeutet, dass ein Reiz von außen mit einer Reaktion im Innen verknüpft ist. Wenn ich mich in einem stark assoziierten Zustand befinde, erlebe ich den Moment sehr intensiv. Meine Aufmerksamkeit ist dann genau dort, worauf in diesem Moment meine Sinneskanäle konzentriert sind. Ich nehme ausschließlich wahr, was ich in diesem Moment sehe, höre, rieche, taste, schmecke, spüre. Andere Information dringt nicht durch, keine fremden Gedanken lenken mich ab. In einem solchen Moment kann ich mich ungehindert dem Genuss hingeben.
Die Intensität des Erlebens ist sehr hoch, die Zeit vergeht wie im Flug. Solche fesselnden und berührenden Augenblicke geben uns Kraft und Inspiration. Sie sind wichtig für unsere Regeneration und Gesundheit. Kinder befinden sich die meiste Zeit in einem assoziierten Zustand. Sie empfinden ihr Leben als spannend und interessant, sie leben im Moment.
Ein assoziierter Zustand kann auch Nachteile haben. In einem Konflikt zum Beispiel, ist es schwierig, die ganze Komplexität zu erkennen und lösungsorientiert zu handeln, wenn ich...