1 Wie Sie Ihre Haltung zu Stress ändern können
Ich stand im Verhaltensforschungslabor der Columbia-Universität und hielt meinen rechten Arm auf Schulterhöhe ausgestreckt, während die Psychologin Alia Crum ihn nach unten zu drücken versuchte. Unser Wettstreit dauerte einige Sekunden lang, und zu meiner Überraschung war meine Gegnerin trotz ihrer Zierlichkeit ziemlich stark. (Später sollte ich erfahren, dass Alia in der ersten Hochschulliga Eishockey gespielt hatte und heute eine Ironman-Athletin von internationalem Rang ist.)
Mein Arm gab nach.
Dann sagte sie: „Stell dir jetzt bitte vor, dass du deinen Arm nach einer Person oder Sache ausstreckst, die dir am Herzen liegt, nicht nur, dass du gegen mich gewinnen willst.“ Außerdem sollte ich mir beim Dagegenhalten vorstellen, dass ich ihre Energie auf mein eigenes Ziel umlenken könnte. Die Idee für diese Übung verdankte sie ihrem Vater, einem Aikido-Meister. Die Umwandlung gegnerischer Energie ist ein grundlegendes Prinzip dieser Kampfkunst. Beim nächsten Versuch folgte ich also ihren Anweisungen. Diesmal konnte sie meinen Arm nicht nach unten drücken, da ich stärker als zuvor war und meine Kraft mit zunehmendem Druck sogar wachsen fühlte.
„Hast du es auch wirklich mit der gleichen Kraft versucht?“, fragte ich.
Alia Crum strahlte, denn sie hatte mir soeben den einen, grundlegenden Gedanken veranschaulicht, der ihre gesamte Forschung beseelt: Unser Denken über eine Sache kann verändern, wie diese auf uns wirkt.
Ich hatte Alia Crum im Keller der Columbia-Universität getroffen, um mit ihr über ihre Forschung über Stress zu sprechen. Für eine junge Wissenschaftlerin kann sie schon jetzt auf eine ungewöhnliche Erfolgsgeschichte voller hochkarätiger Forschungsergebnisse zurückblicken. Ihre Arbeit erregt Aufmerksamkeit, weil sie beweist, dass unser körperlicher Zustand viel subjektiver ist, als wir glauben. Indem sie beeinflusst, wie Menschen über ein Erlebnis denken, kann sie auch deren körperliche Prozesse beeinflussen. Ihre Forschungsergebnisse sind derart überraschend, dass man sich kopfschüttelnd fragt, wie so etwas überhaupt möglich sein kann.
Mindset-Forscher sind mit einer solchen Reaktion vertraut. Mindsets sind Überzeugungen, die unsere Wirklichkeit formen, dazu zählen auch objektiv messbare Körperreaktionen (wie die Kraft meines Armes, als Crum gegen ihn drückte) und selbst Dinge wie dauerhafte Gesundheit, Zufriedenheit und Erfolg. Vor allem zeigt die neue Mindset-Forschung aber, dass schon ein einziger Eingriff in unsere Art, über etwas zu denken, eine deutliche Verbesserung für unsere Gesundheit, Zufriedenheit und unseren Erfolg bringen kann. Dieser Forschungszweig hat schon eine Vielzahl bemerkenswerter Erkenntnisse hervorgebracht, die auch Ihre Überzeugungen in Frage stellen werden. Er beweist, dass es von entscheidender Bedeutung ist, wie wir eine Sache wahrnehmen, egal ob es dabei um ein Placebo oder eine sich selbst erfüllende Prophezeiung geht.
Nach diesem Crashkurs in Sachen Mindset-Forschung werden auch Sie erkennen, warum Ihre Überzeugungen in Bezug auf Stress eine wichtige Rolle spielen und wie Sie daran arbeiten können, Ihre eigene Haltung gegenüber Stress zu verändern.
1.1 Wir bekommen immer das, was wir erwarten
„Die Pfunde wegdenken“ und „Glauben Sie sich selbst gesund“ – solche Schlagzeilen begleiteten die Veröffentlichung einer der ersten Studien von Alia Crum(7). Sie untersuchte darin, wie Überzeugungen sich auf Gesundheit und Gewicht auswirken, und hatte dafür Reinigungskräfte aus sieben Hotels in ganz Amerika angeworben. Putzen ist eine sehr anstrengende Arbeit, bei der man bis zu 300 Kalorien pro Stunde verbrennt, und steht damit – wenn man es als körperliche Übung betrachtet – auf einer Ebene mit Gewichtheben, Wassergymnastik und schnellem Gehen (mit mehr als 5 km/h). Zum Vergleich: Büroarbeit verbraucht nur etwa 100 Kalorien pro Stunde. Trotzdem glaubten zwei Drittel der Studienteilnehmerinnen, dass sie zu wenig Bewegung hätten, und ein Drittel gab an, sich überhaupt nicht zu bewegen. Diese Wahrnehmung spiegelte sich in ihren Körpern wider: Im Durchschnitt erreichten sowohl der Blutdruck der Reinigungskräfte als auch ihre Körperform (konkret das Taille-Hüft-Verhältnis) und ihr Körpergewicht Werte, die man eher von Menschen mit einer sitzenden Tätigkeit erwarten würde. Mithilfe eines eigens entworfenen Plakats erläuterte Alia Crum den Probandinnen, warum Putzen als Bewegung gelten könne und dass alle damit verbundenen Arbeiten Kraft und Ausdauer erforderten – vom Anheben der Matratzen über das Aufheben der Handtücher bis zum Staubsaugen. Das Plakat gab sogar genau an, wie viele Kalorien die einzelnen Arbeiten verbrauchten. In einem viertelstündigen Vortrag präsentierte sie diese Informationen den Reinigungskräften von vier der sieben Hotels, außerdem pinnte sie das Plakat auf Englisch und Spanisch in den Aufenthaltsräumen des Personals an. Sie versicherte den Probandinnen, dass sie durch ihre Arbeit die Empfehlungen des Obersten Nationalen Gesundheitsrats zu ausreichender Bewegung zweifellos einhielten, wenn nicht gar überträfen, und mit positiven Folgen für ihre Gesundheit rechnen könnten. Dagegen dienten die Reinigungskräfte der übrigen drei Hotels als Kontrollgruppe. Man informierte sie darüber, wie wichtig Bewegung für die Gesundheit sei, jedoch nicht darüber, dass ihre Arbeit als solche gelten könne.
Nach vier Wochen meldete sich Alia Crum erneut bei den Probandinnen. Zu diesem Zeitpunkt hatten all jene Gewicht und Körperfett verloren, denen man gesagt hatte, dass ihre Arbeit Bewegung war. Ihr Blutdruck war gesunken und sie hatten sogar mehr Spaß an der Arbeit, obwohl sie an ihrem Privatleben ansonsten nichts verändert hatten. Das Einzige, was sich gewandelt hatte, war ihre Selbstwahrnehmung: Sie betrachteten sich nun als aktive Menschen, als Sportlerinnen. Im Gegensatz dazu zeigten die Probandinnen in der Kontrollgruppe keine dieser Verbesserungen.
Soll das also heißen, dass wir beim Fernsehen abnehmen können, wenn wir nur daran glauben? Nein, tut mir leid! Was Alia Crum den Probandinnen gesagt hatte, entsprach der Wahrheit: Sie trieben tatsächlich Sport. Bei ihrem ersten Zusammentreffen mit Crum hatten sie das Putzen jedoch ganz anders wahrgenommen, viel eher als Belastung ihres Körpers.
Daraus leitete Alia Crum die folgende provokante Hypothese ab: Wenn zwei Ausgänge möglich sind – in diesem Fall die positive Wirkung von Bewegung auf die Gesundheit oder die Belastung durch körperliche Arbeit –, dann haben die individuellen Erwartungen der betreffenden Person einen Einfluss darauf, welcher Ausgang wahrscheinlicher ist. Alia Crum kam zu dem Schluss, dass indem die Reinigungskräfte ihre Arbeit als gesundheitsfördernd wahrnahmen, sich die Wirkung dieser Arbeit auf ihre Körper veränderte. Mit anderen Worten: Man bekommt immer das, was man erwartet.
In ihrer nächsten Studie, die ebenfalls für Schlagzeilen sorgte, entwickelte Alia Crum diesen Gedanken weiter(8). Im Rahmen der sogenannten „Milchshake-Studie“ lud sie die Probanden ein, gegen acht Uhr morgens nüchtern ins Forschungslabor zu kommen. Bei ihrem ersten Besuch erhielten sie einen Milchshake mit der Aufschrift „Genuss: Dekadenz, die Ihnen zusteht“ und einer Nährwerttabelle, die 620 Kalorien und 30 Gramm Fett anzeigte. Beim zweiten Besuch, eine Woche später, tranken sie einen Milchshake mit der Aufschrift „Sensi-Shake: unschuldige Befriedigung“, mit laut Angaben 140 Kalorien und null Gramm Fett.
Beim Trinken legte man den Probanden einen Venenkatheter zur Entnahme von Blutproben an, mit deren Hilfe Alia Crum die Veränderungen des Ghrelinspiegels überprüfte. Ghrelin ist auch als „Hungerhormon“ bekannt. Sinkt der Ghrelinspiegel im Blut, fühlen wir uns satt, steigt er an, wächst der Wunsch nach einem Snack. Sehr fettiges oder kalorienreiches Essen lässt den Ghrelinspiegel rapide sinken, dagegen wird er von weniger sättigendem Essen auch weniger stark beeinflusst.
Wie zu erwarten, wirkte sich der dekadente Milchshake tatsächlich ganz anders auf den Ghrelinspiegel aus als der gesunde. Der Verzehr des Sensi-Shakes führte zu einem leichten, der Genuss-Shake zu einem viel stärkeren Absinken des Ghrelins.
Doch hier kommt der Clou: Die Etiketten der Shakes waren nichts als Augenwischerei! In beiden Fällen wurde den Probanden der gleiche Milchshake mit 380 Kalorien verabreicht, ihr Verdauungssystem hätte also beide Male gleich reagieren müssen. Dennoch fiel ihr Ghrelinspiegel dreimal so schnell, während sie den vermeintlich dekadenten Genuss-Shake tranken, wie beim Trinken des Diät-Shakes. Wieder einmal kam am Ende genau das heraus, was die Menschen erwartet hatten – Sättigung. Letztlich bewies Alia Crums Studie, dass unsere Erwartungen selbst etwas derart Konkretes beeinflussen können wie die Menge eines Hormons, das durch die Zellen in unserem Verdauungstrakt ausgeschüttet wird.
Sowohl im Fall der Reinigungskräfte als auch der Milchshake-Studie wandelten sich die körperlichen Reaktionen der Menschen, wenn sich ihre Wahrnehmung veränderte. In beiden Fällen schien eine einzige, ganz bestimmte Überzeugung die adaptive Antwort des Körpers außerdem weiter zu verstärken: Die Betrachtung körperlicher Arbeit als Bewegung führte zu einem gesünderen Körper, die Wahrnehmung eines Milchshakes als kalorienreiches Genussmittel veranlasste den Körper,...