Zu Weihnachten reisen Herzog und Herzogin mit ihrem Gefolge ins nachbarliche Gotha. Goethe reitet am 23. Dezember mit den Hofleuten Einsiedel, Kalb und Bertuch zum Forsthaus Waldeck bei Bürgel. Am Heiligen Abend schreibt er von dort an seinen fürstlichen Freund: Der herrliche Morgenstern den ich mir von nun an zum Wapen nehme, steht hoch am Himmel … Die Kirche geht an, in die wir nicht gehen werden, aber den Pfarrer lass ich fragen ob er die Odyssee nicht hat … denn unmöglich ist die zu entbehren hier in der homerisch einfachen Welt.
Ein Bote muß diesen Brief nach Gotha gebracht haben, denn bereits am ersten Weihnachtstag antwortet Carl August: Ich habe deinen Brief erhalten, er freut mich unendlich. Dann wünscht er sich nach Waldeck, um die liebe Sonne … auf- und untergehen zu sehen und das zwar mit Dir. Ich sehe sie hier alle Tage, aber das Schloß ist so hoch und in einer so unangenehmen Ebene, von so vielen dienstbaren Geistern erfüllt … daß mir ganz schwindlig wird … Mache doch, daß du hier her kommst, die Leute sind gar neugierig auf Dich.
Goethe bricht umgehend auf. 27. Dezember: Über Weimar und Erfurt nach Gotha. Friedrich Wilhelm Gotter berichtet Lenz nach Straßburg: Er kam nach Mitternacht auf der Redoute an. Im Gasthof »Zum Mohren« findet diese statt, der Gothaische Hof und die Weimarer Gäste wohnen ihr bei. Der späte Ankömmling, der im »Mohren« auch sein Nachtquartier findet, wird kaum mehr Gelegenheit haben, den Herrschaften vorgestellt zu werden.
Am 28. Dezember aber geschieht es; das Gothaer Fourierbuch vermerkt, daß an diesem Tag der Dr. Goethe Serenissimo durch den Kammerjunker v. Wedel präsentirt worden sei. Nicht durch Carl August? Goethe erhält auch keine Einladung zur Fürstlichen Tafel, lediglich eine zur Marschalltafel. Um fünf Uhr am Nachmittag besucht er im Schloßtheater eine Vorstellung. Auf dem Programm stehen Georg Bendas »Ariadne auf Naxos« und Louis-Sébastian Merciers »Essigkrämer«. Goethe erlebt den großen Ekhof als Dominique in der Hauptrolle von Merciers Stück.
Laut Fourierbuch beurlaubte er sich im Laufe des Abends. Am 29. Dezember reist er mit der Weimarischen Herrschaft und deren Gefolge zurück.
Goethe, so Gotter an Lenz, habe den ihm eignen vertraulichen, nachläßigen hingeworfnen Ton überall eingeführt, er spiele den Günstling in bester Form und Ordnung, und, enttäuscht von dem einstigen Freund aus der Wetzlarer Zeit: ich habe ihn in allem kaum eine Viertelstunde gesprochen. Seinen Unmut darüber, vielleicht gepaart mit ein wenig Neid, vertraut er dem Bruder des Herzogs, dem Prinzen August, an. Dieser erwidert mit einem Vers: Die Kräfte sind in dir, wie kannst Du sie verkennen? Zuviel Bescheidenheit schreckt Deinen sanften Geist … Dann fällt er ein Urteil über den Besucher vom Nachbarhof: Und Stolz und Mißgeschick macht Goethe wild und dreist.
Daß diese Äußerung des Prinzen August für den Eindruck steht, den Goethe bei seinem ersten Hofbesuch in Gotha hinterlassen hat, ist kaum vorstellbar. Aber die Neugier – die Leute sind gar neugierig auf Dich –, mit der ihn Carl August im Dezember 1775 nach Gotha gelockt hat, scheint schnell befriedigt und das Interesse an seiner Person nicht allzugroß gewesen zu sein, denn viel Zeit, annähernd vier Jahre, vergehen, bis der Fürst ihn erneut einlädt.
Später sieht Goethe seinen ersten Auftritt am Gothaer Hof kritisch. Von Effeckten, die seine Existenz machen müsse, die er nicht richtig eingeschätzt habe, von anmasliche<m>, von beleidigten Schicklichkeiten ist die Rede. Spielt er auf seine Berühmtheit an, die ihn vorwitzig werden läßt, auf seinen – wie Gotter formuliert – nachläßigen hingeworfnen Ton? Auf die Hofetikette, die ungewohnten Anforderungen, denen ein Bürgerlicher in Adelskreisen ausgesetzt ist?
Immerhin ist er kaum zwei Monate in Weimar, seit seiner Ankunft seien niedere pöbelhafte Ausdrücke zu hören, mokiert sich die Hofdame Charlotte von Stein, die ihr Erziehungswerk an dem jungen Dichter noch nicht begonnen hat.
Selbst für den achtzehnjährigen Carl August, seit einem Vierteljahr Regent – vermutlich ist die Gotha-Reise sein Antrittsbesuch bei Ernst II. –, scheint einiges in Gotha gewöhnungsbedürftig. Während er nach Brand und Zerstörung seines Schlosses notdürftig und ohne großen Komfort im Landschaftshaus residiert, zudem kaum Wert auf höfisches Zeremoniell legt, im Gegenteil es verachtet, sieht er sich in Gotha einer großzügigen und reibungslos funktionierenden Hofhaltung gegenüber; von so vielen dienstbaren Geistern wird ihm ganz schwindlig. Sogar die Lage des Schlosses mißfällt ihm. Es liege so hoch und in einer so unangenehmen Ebene …
Erbaut hat das Schloß, noch heute Wahrzeichen der Stadt, Herzog Ernst der Fromme. Er gilt als wirkungsmächtigste Persönlichkeit Thüringens im 17. Jahrhundert. Die ungewöhnlich weiträumige dreiflüglige barocke Anlage mit dem der Stadt zugewandten Corps de logis und den beiden massiven Türmen ist der erste Schloßbau nach Beendigung des Dreißigjährigen Krieges in Thüringen und wird Vorbild für weitere Schlösser, unter anderem in Weimar, Zeitz und Weißenfels.
Am 26. Oktober 1643, als in Münster und Osnabrück die Friedensverhandlungen beginnen, wird auf den Resten der zerstörten Festung Grimmenstein der Grundstein gelegt. 1650 läßt Ernst der Fromme auf einer Kartusche über dem Hauptportal die Figuren von Frieden und Gerechtigkeit anbringen. Friede Ernehret, Unfriede Verzehret, dem 85. Psalm entnommen, ist als Umschrift zu lesen. Auch der Name des Schlosses: Friedenstein, ist Programm. Die Göße des Gebäudes hängt mit der Idee des Regenten zusammen, nach dem Vorbild von Johann Valentin Andreaes Utopie »Reipublicae Christianopolitanae descriptio« etwas zu schaffen, das das Staatsganze in geschlossener Form repräsentiert. Auf dem Friedenstein vereinigt Ernst alles für sein patrimoniales Regime Benötigte: herzogliche Wohn- und Repräsentationsräume, Kirche, Verwaltung der Landeskollegien. Das im Schloß befindliche Archiv weist es als juristischen Mittelpunkt aus, durch Bibliothek und Kunstkammer im Westturm wird es zum geistig-kulturellen Ort, als wirtschaftliches Zentrum ist die Münze zu sehen; Marstall sowie Schmiede und Zeughaus stehen für die Landesverteidigung.
Das alles ist über Generationen dem nunmehrigen jungen Regenten überkommen. Wem sieht Goethe sich, als er im Dezember 1775 durch den Kammerjunker v. Wedel präsentirt wird, gegenüber? Ernst II. ist zu diesem Zeitpunkt dreißig Jahre alt, hat bereits über drei Jahre Regierungserfahrung.
Von 1771 ist ein Porträtmedaillon überliefert, in Form, Farbe und Stil nach dem Vorbild antiker Münzen gearbeitet. Es zeigt den Prinzen wie auf einem antiken Herrscherporträt in Profilansicht, seine natürlichen kurzen Haare werden von einem nur großen Persönlichkeiten oder Gottheiten zustehenden Band der Unsterblichkeit eingefaßt.
Geschaffen hat dieses Medaillon der französische Bildhauer Jean-Antoine Houdon, der 1771 und 1773 jeweils mehrere Wochen in Gotha weilt. Grund seiner Aufenthalte: ein Grabmonument für die 1767 verstorbene Herzogin Luise Dorothee, die Mutter Ernsts II., soll geschaffen werden. Als 1772 auch Friedrich III., der Vater und Gatte, stirbt, erweitert sich der Auftrag, ein Monument für beide ist im Gespräch. Es wird, obgleich verschiedene Entwürfe existieren, nie realisiert werden.
Die Gotha-Aufenthalte Houdons aber führen zu freundschaftlichen Verbindungen zu dem Bildhauer, lebenslang steht man in Briefwechsel, man erwirbt Arbeiten von ihm. Gotha besitzt nach Paris die umfassendste Sammlung von Houdons Frühwerk. Im Gegensatz zu Carl August fühlt er sich wohl in der Stadt, ist entzückt vom Friedenstein: Ich werde nie das Schloss in Gotha vergessen, von wo ich einen großen Teil des Himmels und der Erde entdeckte …, schreibt er. Das Medaillon und weitere von ihm geschaffene Arbeiten stellt der Bildhauer 1773 im Pariser Salon aus.
Ein Ölgemälde, dem Gothaer Hofmaler Johann Jonas Michael zugeschrieben, zeigt Ernst II. im Jahr der Begegnung mit Goethe. Der Herzog trägt einen blauen Offiziersrock mit reicher Goldstickerei, ein rostroter, hermelingefütterter Mantel umfängt ihn. Herrschaftlicher Mantel, Perücke und Zopf machen es zu einem offiziösen, repräsentativen Bild.
Weder dieses Gemälde noch das Reliefmedaillon bringen uns Ernst II. nah. Aus späterer Zeit ist ein eher intimes Porträt von einem unbekannten Meister überliefert; ohne alle Herrschaftsinsignien, bekleidet mit der gothaischen Uniform, die auch seine Staatsdiener tragen, läßt sich Ernst II. darstellen. Diese Unauffälligkeit und Bescheidenheit wird dem Fürsten von vielen Zeitzeugen zugesprochen. Seine Gesichtszüge auf dem späten Porträt sind keineswegs markant, eher durchschnittlich, aber vertrauenerweckend und sympathisch. Wie Goethe ihn in den wenigen Minuten, in denen...