Eine »elende Kindheit«
»München leuchtete«.[32] Aber nicht ihm. Eine glückliche Kindheit hatte Golo Mann nicht. Der eigenbrötlerische, düstere Junge, dem Heiterkeit und Leichtigkeit abgingen, irritierte die Eltern. Vor allem beim Mittagessen herrschte der Zwang betont geistvoller Tischgespräche. Ein Gast aus späteren Tagen beschrieb das zeremonielle Essen wie eine »Audienz«, die Thomas Mann hielt. »Er brach das Brot der Grammatik mit den Seinen und verteilte es huldvoll über die Teller.«[33]
Ärger beschwor herauf, wer nicht angemessen zur Tischunterhaltung beitragen konnte. Dem neunjährigen Golo befahl man zu schweigen, der Dreizehnjährige wurde »grob angefahren«, wenn er eigene Ansichten vertrat, politische oder literarische, sodass er sich zurückzog und über Wochen beim Essen still blieb. Die »künstlichen« Tischgespräche seien »ein Alp meiner Kindheit«, schrieb er einem Freund später.[34] Und im Tagebuch beklagte er sich nach Jahrzehnten noch über die »grausamen Idiotien der Eltern, so ungeheuerlich weit unter ihrem Niveau«.[35] Bald begann Golo, sich auf die Konversation mit den Eltern, vor allem mit dem Vater, vorzubereiten, machte sich Notizen, worüber man sich unterhalten könnte, ohne Missfallen zu erregen. Später entdeckten die drei Söhne, dass jeder von ihnen es so gehalten hatte – unabgesprochen.[36]
Das Verhältnis zum Vater war seit der Kriegszeit gespannt. Von »Bewunderung, Ehrfurcht, Furcht« sprach Golo Mann als fast 80-Jähriger – auf die Frage nach Liebe und Nähe zu seinem Vater.[37] Grundsätzlich begegnete Thomas Mann seinen Kindern scheu, distanziert und zurückhaltend, ihre Existenz erschien ihm zu seltsam, als »dass es mich nicht verwirren und lächerlich fast mich bedünken hätte sollen«, dichtete er im Gesang vom Kindchen.[38] »Belustigt«, aber »in Abwehr« stand er der Familie gegenüber, »nicht willens, sich dran zu verlieren, neugierige Kühle wahrend und oft gereizt, wenn es störend zudrang und lärmte«.[39] In Prosa: »Jemand wie ich ›sollte‹ selbstverständlich keine Kinder in die Welt setzen.«[40]
Die Distanz zu den Söhnen war größer als die zu seinen Töchtern. Thomas Mann empfand – in dieser Hinsicht ganz bürgerlicher Kaufmannssohn aus dem 19. Jahrhundert – das weibliche Geschlecht als »nichts Ernsthaftes«, und seine Frau teilte diese Auffassung.[41] Für die Töchter mag dies belastend gewesen sein, und ihre – zum Beispiel musikalischen – Ambitionen wurden nicht in gleicher Weise gefördert wie die der Brüder. Doch geringere Erwartungen bedeuteten auch weniger Druck, mehr Entfaltungsmöglichkeiten. Besonders Erika gelang es bald, die Scheu des Vaters mit ihrer humorvollen Art zu überwinden. In der Folge entwickelte sich eine enge und liebevolle Beziehung zwischen ihm und dem »kühnen, herrlichen Kind«.[42]
Golo merkte rasch, dass der Vater wenig von ihm hielt, zumal dieser seine Vorlieben kaum verbarg: Die ›Erwählten‹ Erika und Klaus auf der einen Seite, die wenig geschätzten Golo und Monika auf der anderen.[43] Zu den vieren gesellten sich nun 1918 und 1919 Elisabeth und Michael, welche den älteren Kindern die ungleiche Behandlung erneut deutlich vor Augen führten. Elisabeth liebte der Vater über alles (»sie ist in gewissem Sinne mein erstes Kind«[44]), und er widmete ihr den in Hexametern verfassten Gesang vom Kindchen. Michael hingegen gehörte zur Gruppe der ungeliebten Kinder: »Stelle immer wieder Fremdheit, Kälte, ja Abneigung gegen unseren Jüngsten fest […].«[45]
In den einzig erhaltenen Tagebüchern der frühen Zeit, 1918 bis 1921, kommt auch Sohn Golo nicht gut weg. Vom »lügnerischen Golo« und seiner »Falschheit« ist die Rede, er sei »mehr und mehr problematische[r] Natur, verlogen, unreinlich und hysterisch«.[46] Kleinere »Fluchtversuche« wurden unerbittlich geahndet: »Zorn und Unruhe Golo’s wegen, der von 3 bis 10 Uhr ausblieb und übel empfangen wurde.« Und dann: »Ich […] stellte wieder fest, dass ich von den Sechsen drei, die beiden Ältesten und Elisabethchen mit seltsamer Entschiedenheit bevorzuge.«[47] Was er die anderen, »mit der Souveränität, die ihm eigen war«, wie Golo Mann bitter bemerkte, nur zu deutlich spüren ließ.[48]
Und die Mutter? Innig und herzlich kann man das Verhältnis Golo Manns auch zu ihr nicht nennen, nachdem er dem Kleinkindalter entwachsen war. Sie sei »etwas ungeduldig« gewesen, sagte sie selbst,[49] vor allem, wenn die Kinder etwas nicht sofort verstanden. Dann konnte es Schläge setzen, »sinnloser Weise«, wie Golo Mann rückblickend im Tagebuch über die »schlechte Pädagogin« notierte: »Dass Prügel für meine Nerven Gift, hätte sie bei aller Uneingeweihtheit spüren müssen.«[50] Die praktisch-resolute Frau merkte nicht, dass zwischen dem sensiblen Golo und den älteren, alle Erziehungsbemühungen zurückweisenden Geschwistern ein Unterschied bestand, dass diese ignorierten oder schnell vergaßen, was sich jenem scharf in die Seele schnitt. Seine Mutter sei klug, aber überaus naiv und »völlig unfähig« gewesen, »sich in Andere zu versetzen«, zudem »enorm egoistisch«, schrieb Golo Mann später.[51] Sie möge ihn nicht sonderlich, bekannte er achtzehnjährig einem Studienfreund.[52] Seiner »Mutter Mangel an Takt und Einfühlungsvermögen, ihr Sadismus, ihre Männlichkeit, ja sogar Brutalität«, notierte Golo Mann im Tagebuch, habe ihn »mit dreizehn Jahren entsetzt, mit zwanzig abgestoßen«.[53]
Anders als seinen älteren Geschwistern entging Golo Mann, dass die bürgerliche Rolle der Eltern Fassade war, dass selbst seine Mutter Sympathien für das Künstlerisch-Unbürgerliche hegte. Erziehung, Tadel und Strafen enthielten immer ein schauspielerisches Element, die eigene Rolle ironisierend.[54] Meldete die Schule Verfehlungen, so musste Katia oft über die Streiche der Kinder lachen, ihrer »begabten Teufelchen«.[55] Das trotz dieser Skepsis »formelle Gebaren innerhalb der Familie«[56] verhinderte einen freien Umgang. Die Autorität von Vater und Mutter war gleichermaßen groß, wobei scharfe Worte des Vaters einschneidender wirkten, weil sie, seltener ausgesprochen, mehr Gewicht hatten.[57] Seine Eltern seien »nicht sehr pädagogisch« gewesen, »sie hätten mir ein bisschen mehr Spielraum geben müssen«, äußerte Golo Mann im hohen Alter. »Vielleicht habe ich mich selber ungeschickt benommen, und das hatte diese Unterdrückung zur Folge.«[58]
»Unterdrückung« ist stark – man ist geneigt, dem Späteren, der Erkenntnis, dass die Welt den Sohn des berühmten Vaters nie mit diesem Thema in Ruhe ließ, einen Anteil beim Blick auf die Kindheit zuzuschreiben. Doch man findet dies Urteil, schärfer noch, bereits im Tagebuch des 22-Jährigen: »Was hatten wir doch für eine elende Kindheit. […] Angst vor anderen Kindern, vor den Eltern, dem Gymnasium, traurige Abende …«[59] Eifersucht und eigene Unreife mögen ihren Teil dazu beigetragen haben, dass Golo Mann stark unter der resoluten Mutter litt und den Kältehauch, der vom Vater herüberwehte, eisiger erlebte, als er war.[60] Die Wärme und Herzlichkeit des Elternhauses, von der, als Letzte der Geschwister, Elisabeth Mann der Welt in Heinrich Breloers ›Doku-Drama‹ Die Manns erzählte, erfuhr jedenfalls nur sie.
Erika und Klaus rebellierten bald immer offener, gegen das Elternhaus und gegen konventionelle Zwänge überhaupt. Golo schwankte zwischen dem Ringen um elterliche Gunst, seiner »typische[n] Liebedienerei«,[61] und dem Wunsch, sich den bewunderten Geschwistern und deren Freunden anzuschließen. Die Unternehmungen der ›Herzogpark-Bande‹ umfassten Telefonstreiche oder Ladendiebstähle. Die zornigen Reaktionen im Elternhaus hielten sie nicht auf. Schließlich war das Maß voll, ein festliches Essen mit ausschließlich gestohlenen Speisen bot den Anlass: Die Ältesten wurden zu Ostern 1922 im Landerziehungsheim Bergschule Hochwaldhausen angemeldet.
Obwohl die Konflikte im Elternhaus nun abnahmen, litt Golo Mann unter der Abwesenheit seiner älteren Geschwister. Monika und er gerieten stärker ins Blickfeld, konnten sich nicht mehr hinter den Großen verstecken. Die beiden hatten für Heiterkeit gesorgt und die steife und zeremonielle Atmosphäre im Haus und vor allem am Esstisch aufgelockert. Es gelang Golo Mann nicht, die Distanz zu den Eltern zu überwinden, und er war »erlöst«, wenn Erika und Klaus in den Ferien nach München kamen.[62]
Man darf aber die anregenden Umstände eines solchen Elternhauses nicht unterschlagen. Die Kinder musizierten, bald nahmen die Eltern sie auch mit in Konzerte oder ins Theater. Den Dirigenten Bruno Walter sahen sie nicht nur im Münchner Opernhaus konzertieren, oft von Plätzen aus, die dem Generalmusikdirektor reserviert waren, sondern auch an seinem heimischen Klavier, an dem er vorspielte, vorsang und die Stücke erklärte.[63] Die Werke der großen europäischen Autoren lernten sie früh kennen, in vielen...