Aus dem Ghetto von Konin nach Berlin
Anders als er später oft angab, wurde Julius Fromm weder im preußischen Posen geboren noch Julius genannt. Tatsächlich kam er am 4. März 1883 in der damals russischen, 120 Kilometer östlich von Posen gelegenen Kleinstadt Konin zur Welt und wurde bei der Beschneidungsfeier als Israel From in das Synagogenregister eingetragen. Im selben Ort war am 10. Oktober 1854 auch die Geburt seines Vaters Baruch beurkundet worden. Damals zählte Konin 5147 Einwohner: 2006 davon Juden, die anderen polnische Katholiken und deutsche Protestanten.[10] Um Diskriminierung und christlicher Mordlust zu entkommen, waren die Juden im Mittelalter aus Frankreich, dem Rheinland und aus Böhmen nach Osten geflohen. Konin gehörte zu den ersten zwölf polnischen Gemeinden, in denen sie sich niederlassen durften.
Die Nachkommen der Vertriebenen sprachen Jiddisch, und die meisten lebten unweit der Warthe in einem eigenen Viertel rund um den Tepper Marik, den Töpfermarkt. 1766 errichtete die jüdische Gemeinde eine imposante Synagoge, später noch ein Versammlungs- und Bethaus. Daneben duckten sich die ärmlichen, oft aus Holz erbauten Häuser; die ungepflasterten Straßen versanken im Schlamm, sobald es regnete oder die Warthe über die Ufer trat.
Die Koniner Juden hielten auf Tradition. Die Männer trugen Bärte und zumindest an Feiertagen schwarze Kaftane, die verheirateten Frauen Perücken, Scheitl genannt. Die Sabbat- und koscheren Speiseregeln befolgten sie mit dem gebotenen Ernst; Streitigkeiten regelte der Rabbiner. Empfängnisverhütung galt als schwere Sünde, als »Blutvergießen«. Gleichwohl konnten streng orthodoxe Glaubensrichtungen in der im äußersten Westen des Zarenreichs gelegenen Kleinstadt kaum Fuß fassen.
Über Baruch Fromms Jugend, Herkunft, Eltern und die weiteren Vorfahren wussten die heute lebenden Mitglieder der Familie nichts. Doch fand sich im Wojewodschaftsarchiv Poznan das Koniner Synagogenbuch, in dem die Heirat von Baruch und Sara Rifka verzeichnet ist. In russischer Sprache und kyrillischer Schreibschrift heißt es dort:
»Es begab sich in der Stadt Konin am neunzehnten Februar/zweiten März 1880 um vier Uhr nach Mitternacht. Der Koniner Rabbiner Hirsch Auerbach traf ein, zusammen mit Boruch From, Händler, fünfundzwanzig Jahre alt, Sohn der Eheleute Moschka und Bluma From, wohnhaft hier in Konin, sowie Sura Rifka Riegel, Jungfrau, zweiundzwanzig Jahre alt, Tochter der Eheleute Sondra und Esther Riegel, wohnhaft in der Stadt Konin, schließlich auch die Eltern des Bräutigams und der Braut. In Anwesenheit der Zeugen Moschka Buchner, neunundvierzig Jahre alt, und Abrahm Bock, dreiundvierzig Jahre alt, erklärte Hirsch Auerbach den religiösen Bund der Ehe zwischen Boruch From und Sura Rifka für geschlossen. Dieser Ehe gingen drei öffentliche Verlesungen in der hiesigen Koniner Synagoge […] voran. Die Neuvermählten erklärten, dass der voreheliche Vertrag zwischen ihnen beim Koniner Notar Serafim Gurski am neunzehnten Februar/zweiten März diesen Jahres geschlossen wurde. Es wurde eine Mitgift bezahlt. Die Zustimmung der Eltern wurde mündlich erklärt. Dieser Akt soll nach der Verlesung von dem Rabbiner, den Zeugen und allen unterschrieben werden.«
Die Eheleute entstammten, so viel zeigt die Quelle, nicht der untersten Schicht des Koniner Ghettos. Immerhin konnten sie es sich leisten, zum Notar zu gehen, und sie besaßen Dinge, die es wert waren, vertragliche Sicherheiten zu vereinbaren. Das doppelte Hochzeitsdatum verdankt sich der Differenz zwischen dem – im orthodoxen Russland noch gebräuchlichen – julianischen Kalender und dem in den katholisch-polnischen Westregionen geltenden gregorianischen Kalender.
Im Synagogenbuch finden sich auch die Geburtseinträge für die ersten drei Söhne der Fromms. Der Eintrag für den zweiten Sohn, nämlich für Israel, den späteren Julius, sei hier zitiert: »Es begab sich in der Stadt Konin am ersten/dreizehnten März 1883 um zehn Uhr am Morgen. Boruch From, Händler, achtundzwanzig Jahre alt, wohnhaft hier in der Stadt Konin, erschien in Anwesenheit der Zeugen Israel-Gersch Parschinski, Schreiber der Synagoge, fünfunddreißig Jahre alt, und Moschka Singerman, Mitglied der Gemeinde, dreiundsechzig Jahre alt, beide in der Stadt Konin wohnhaft. From zeigte uns einen Säugling männlichen Geschlechts, welcher am zwanzigsten Februar/vierten März des laufenden Jahres um drei Uhr morgens hier in der Stadt Konin von seiner legitimen Ehefrau Rifka, Mädchenname Riegel, fünfundzwanzig Jahre alt, geboren wurde. Bei der Beschneidung wurde diesem Säugling der Name Israel From gegeben. Nach der Verlesung wurde dieser Akt von uns Zeugen und dem Vater unterschrieben.«[11] Vor Israel war Ende November 1880 Szlama geboren worden. Es folgten Mosziek, Helene, Siegmund, Esther, Sander und Bernhard.
Im russischen Zarenreich, zu dem Konin seit 1815 gehörte, bestand keine Schulpflicht. Die meisten jüdischen Jungen besuchten den Cheder, das »Zimmer«. In diesen kleinen, privaten Lehranstalten paukten sie vom vierten Lebensjahr an Hebräisch, später die Bibel, lernten die Thora und andere religiöse Schriften auswendig – ein wenig Rechnen war die einzige moderne Kulturtechnik, in der sie unterrichtet wurden.
Postkartenansicht des Schtetl von Konin in zaristischen Zeiten/© aus Richmond, Konin, Abbildung 20
Helene Fromm erzählte später ihren Neffen und Nichten, ihr Vater Baruch sei in Konin Großgrundbesitzer gewesen. Doch gehört das zu jenen Legenden, wie sie in Familien, die sich binnen einer Generation aus der Armut zu Wohlstand und Ansehen hocharbeiten, leicht entstehen. Im 19. Jahrhundert gab es nur einen einzigen jüdischen Gutsbesitzer in der Nähe von Konin, und der hieß Kaplan. Um 1890 praktizierten dort ein jüdischer Arzt und ein Rechtsanwalt. Die anderen Juden arbeiteten als Schmiede, Steinmetze, Sattler, Schneider und Schuhmacher, nicht selten trieben sie Handel.
Das Schtetl muss man sich als halb erzwungenes, halb selbstgewähltes Ghetto vorstellen, in dem sich die Bewohner vergleichsweise sicher fühlen und ihr eigenes Leben führen konnten. Viele junge, vom Rationalismus beeinflusste Juden verachteten diese Quartiere als übervölkerte Heimstätten von Armut und Frömmelei. Romantisch verklärt wurden sie erst nach der Vernichtung durch die Deutschen.
In den 1880er Jahren stellten die Juden bereits über die Hälfte der Einwohner Konins. Sie fanden kaum Arbeit und Lohn, folglich zogen mehr und mehr nach Westen. Die Sehnsucht nach dem besseren Leben hatte für viele der jüdischen Wirtschaftsmigranten einen Namen: Deutschland. So wanderten auch Baruch und Sara Fromm mit ihren Kindern nach Berlin aus. Zwar kam in der Familie später die Legende auf, die Eltern seien vor Pogromen geflohen, doch erscheint das unwahrscheinlich. Die Geschichte der Koniner Juden ist in dem Buch »Konin – auf der Suche nach der Stadt meiner Eltern« von Theo Richmond gründlich und liebevoll beschrieben. Darin liest man auch, wie einig sich viele der Koniner Christen im Antisemitismus wussten – einerlei ob katholische Polen oder protestantische Deutsche. Sie schimpften auf die »dreckigen Juden«, doch zu systematischer Gewalt kam es in der kleinen Stadt Ende des 19. Jahrhunderts nicht. Die Koniner lebten mit ihren unterschiedlichen Religionen und Sprachen nebeneinanderher.
1893 verließen die Fromms ihre Heimatstadt. Baruch hoffte auf ein auskömmliches Leben und auf bessere Chancen für seine Kinder. Mit ihrer wirtschaftlichen Dynamik wurde die rasch wachsende Großstadt Berlin zur Verheißung schlechthin. Hier hatte sich bereits eine Gemeinschaft ostjüdischer Einwanderer etabliert, die den Neubeginn erleichtern würde. Besonders aber bot Deutschland den jüdischen Immigranten ein Maß an Rechtssicherheit, Bewegungs- und Gewerbefreiheit, das im Verhältnis zum zaristischen Russland paradiesisch erschien.
Die Mulackstraße Nr. 9, Parterre, wurde die erste Anschrift, unter der Baruch Fromm im »Adressbuch für Berlin und seine Vororte« des Jahres 1894 verzeichnet ist. Wahrscheinlich wird die damals siebenköpfige Familie in der besonders berüchtigten Ecke Berlins ein einziges Zimmer bewohnt haben. Die Mulackstraße durchzieht das nordwestlich des Alexanderplatzes gelegene Scheunenviertel. Für die meisten aus dem Osten zugewanderten Juden wurde dieses Quartier mit seinen heruntergekommenen Häusern und engen Straßen die erste Station. Die Mieten waren niedrig. Hier standen noch viele ältere Gebäude mit nur zwei oder drei Etagen, Stallungen und baufälligen Remisen. Vieles erinnerte die Neuankömmlinge an die alte Heimat. Die Investoren der Gründerjahre mieden die Gegend. Sie ließen die für Berlin so typischen fünfgeschossigen Mietskasernen an allen Ecken und Enden der Stadt hochziehen – nur nicht dort.
Im Scheunenviertel, dessen »Läden mit den hebräischen Aufschriften und den merkwürdigsten Namen das Fremdartige sofort erkennen lassen, herrscht im Sommer ein lebhaftes Treiben wie auf einem öffentlichen Markt in Galizien oder Polen«, schrieb der Romancier Adolf Sommerfeld. Seinen schlimmen Ruf verdankte das Quartier nicht Zuwanderern wie den Fromms: »Denn als Parasiten der nicht gewalttätigen Ostjuden hausen hier auch Schwerverbrecher und Dirnen mit ihrem arbeitsscheuen Anhang.« So wurde die Kneipe »Mulackritze« zum beliebten Treffpunkt der...