B SUCHEN UND FINDEN IM DIGITALEN ZEITALTER
Ohne einen Computer bedienen zu können, wird man in der neuen Informationsgesellschaft dastehen wie ein zufälliger Besucher. (John Naisbitt)
1 Kollege Computer
Der Computer ist heute das Arbeitsgerät No. 1 für Journalisten. Das bezieht sich nicht nur auf den Laptop auf dem Berliner Kaffeehaustisch des freiberuflichen Autors, der seine Artikel heute on the fly über das Internet in die Redaktionen senden oder gleich in der Welt verbreiten kann. Die Digitalisierung hat vielmehr den Journalismus wie kaum einen anderen Beruf auf allen Ebenen tiefgreifend und nachhaltig verändert: Das Recherchieren, das Produzieren, das Editieren und das Publizieren journalistischer Beiträge findet heute digital statt, keine einzige Produktionsstufe kommt mehr ohne Mikrochips und Computerprogramme aus (vgl. Kayser-Brill 2013: 135). Medienkonvergenz, also das Verschmelzen ehemals getrennter Arbeitsbereiche und Arbeitsgeräte, hat den Computer mit den Worten des Medienwissenschaftlers Friedrich Kittler zum „Universalmedium“ gemacht (vgl. Kittler 1986: 7f.).
Die Entwicklung nahm ihren Anfang in den 1970er-Jahren, als die Verlage vom Bleisatz zum Fotosatz wechselten und aus den Redaktionsschreibtischen Bildschirmarbeitsplätze wurden. Die Nachrichtenagenturen DPA und AP führten schon 1973 elektronische Redaktionssysteme ein (Wilke 2004: 87). Als der Präsident des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger, Johannes Binkowski, im Verbandsblatt DIE ZEITUNG wegen dieser Elektronisierung die Frage stellte, ob der Redakteur künftig ein „Redaktroniker“ sei, war das dem Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL noch eine satirische Meldung in seiner Satirespalte „Hohlspiegel“ wert (Spiegel 1977). Mit der Einführung des Desktop Publishing 1984 und des ersten grafikfähigen Internetbrowsers „Mosaic“ 1993 war die Entwicklung unumkehrbar. Nur die Veteranen des Journalismus wie der ehemalige ZDF-Journalist Wolf von Lojewski sehen durch die Computerisierung den Journalismus bedroht. Heute müssten Journalisten ständig twittern oder über Handy und Internet erreichbar sein, so dass es theoretisch sein könne, „dass der Journalist irgendwann keine Zeit mehr hat, seinen Platz am Computer zu verlassen“, bedauerte der Moderator (von Lojewski 2012). Tatsache ist, dass sich Journalismus und insbesondere Recherche ganz überwiegend am Computer abspielen und eine vertiefte Kenntnis der wesentlichen Operationen und Möglichkeiten unabdingbar ist. „Computational Journalism“ ist an US-amerikanischen Akademien längst ein Unterrichtsfach, während an deutschen Journalisten- und Hochschulen häufig immer noch zwischen Print-, TV- und Onlinejournalismus unterschieden wird, als ob diese Medientypen und Ausspielkanäle nicht längst konvergiert seien im Universalmedium Computer.
2 Suchen kann jeder, finden nicht
Den vielleicht nachhaltigsten Einfluss hatte die Digitalisierung der Lebens- und Berufswelt aber vielleicht auf den Teilbereich journalistischer Tätigkeit, den wir Recherche nennen. Denn sie hat die Grundprinzipien der journalistischen Informationsgewinnung einmal um 180 Grad gewendet. Was soll das heißen? Heute hat nicht nur das aktuelle Ausmaß der Wissensbestände, sondern auch ihr ständiges exponentielles Wachstum die Situation fürs Wissensmanagement, aber auch für den Wissenserwerb und damit für die Recherche grundsätzlich auf den Kopf gestellt. „Der Aufstieg der Suche als vorherrschende Form des Auffindens von Information ist Ausdruck eines fundamentalen Wandels in unserer informationellen Umwelt“, schreibt der Computerwissenschaftler Lev Manovich (2010: 221). Der Medienwissenschaftler Geert Lovink sieht uns in einer „Gesellschaft der Suchanfrage“ leben (2010: 58). Und der Technikhistoriker David Gugerli sieht schon die ganze „Welt als Datenbank“ (2009: 92). Die amerikanischen Forscher Martin Hilbert und Priscila López haben errechnet, wie sich in allerjüngster Zeit die Kapazitäten verändert haben, Informationen durch den Raum zu übermitteln (Kommunikation), durch die Zeit zu übertragen (Speicherung) und zu berechnen (Informatik). Die Kapazität, Informationen durch Telekommunikationsnetze auszutauschen, betrug 1986 eine Summe von 281 Petabyte (1 Petabyte sind 1.000 x 1.000 Gigabyte) und im Jahr 2007 lag dieser Wert bei 65 Exabyte (1 Exabyte sind 1.000 Petabyte). Auch die Berechenbarkeit hat sich in dieser Zeit vertausendfacht. Und die Möglichkeiten, Informationen zu speichern, haben sich im gleichen Zeitraum immerhin verhundertfacht. Anno 2003 war der Punkt erreicht, an dem mehr Informationen in digitaler als in analoger Form vorlagen. Waren im Jahr 1993 erst drei Prozent der weltweiten Informationsspeicherkapazität digital, so waren es 2007 bereits 94 Prozent (Hilbert/López 2011: 60 ff.). Wie der Dienst INTERNET LIVE STATS, eine Website des REAL TIME STATISTICS PROJECT, ausgerechnet hat, gibt es mittlerweile mehr als 3,4 Milliarden Internetnutzer, die jeden Tag 162 Milliarden Emails verschicken, über 3 Millionen Blogartikel veröffentlichen, 45 Millionen Fotos auf Instagram hochladen und sich über sieben Milliarden Videos auf Youtube ansehen. Täglich werden fast 500 tausend Computer und sogar mehr als 4,9 Millionen Smartphones verkauft.
Nun ist die Zunahme von Wissensressourcen in einer Wissensund Informationsgesellschaft nichts Ungewöhnliches. Der Wissenschaftshistoriker Derek de Solla Price hat schon in den 1970er-Jahren errechnet, dass seit dem Zeitalter der Aufklärung, also seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, das menschliche Wissen sich ungefähr alle 15 Jahre verdoppelt hat (de Solla Price 1974: 17). Was neu und ungewöhnlich ist, das ist der Umstand, dass Wissen heute von einem objektiven Tatbestand zu einem relationalen geworden ist: Man besitzt heute keine Kenntnisse mehr, sondern weiß, wo man suchen muss. Wenn man es denn weiß! Internetsuchmaschinen und darunter vor allem der unangefochtene Marktführer, die kalifornische Firma GOOGLE, sind zur universellen Sigle fürs heutige Wissensmanagement in Wissenschaft und Beruf, in der Freizeit und im Privatleben geworden. Indem historische Wissensbestände ebenso wie die aktuelle Medienproduktion digitalisiert wurden und ins Internet abgewandert sind, ist der Begriff der Recherche nachgerade ein Synonym für „googeln“ geworden. Aber wer suchet, der findet noch lange nicht. Die Deutschen stellen zwar täglich mehr als 100 Millionen Suchanfragen an die Suchmaschine GOOGLE (Kroker 2013). Über 80 Prozent der Befragten einer Studie an der Hochschule Pforzheim zeigten sich auch mit den Suchergebnissen von GOOGLE zufrieden. Allerdings wusste ein ähnlich hoher Prozentsatz der GOOGLE-Nutzer häufig weder wie die Reihenfolge der Suchergebnisse zustande kommt, noch kannten sie Alternativen zu dem Suchmaschinengiganten, geschweige denn dass sie mal eine andere Suchmaschine ausprobiert hätten. Dafür hielten fast 70 Prozent der Befragten häufig Suchergebnisse für irrelevant, selbst wenn sie mit den Suchbegriffen zu tun hatten (Gaulke 2008: 94). Die Internetnutzer finden zwar, sie finden sich aber nicht zurecht. Wer darüber hinaus sein informationelles Schicksal einem Suchmaschinenbetreiber in die Hände legt, der verliert auch die Beurteilungskriterien dafür, welche womöglich wichtigen Informationen tatsächlich in der virtuellen Welt vorliegen und damit für einen Zugriff über Suchmaschinen zur Verfügung stehen und welche nach wie vor nur in der realen, analogen Welt vorhanden sind. Was den Begriff der Recherche noch nachhaltig verändert hat, ist nicht nur die Digitalisierung von Wissensressourcen, sondern deren überbordende Fülle. Stichwort: Information Overload.
Nach dem klassischen Verständnis bestand Recherche darin, solche Informationen aufzuspüren, die andernfalls geheim, nicht-öffentlich und unter Verschluss geblieben wären. „Recherchejournalismus setzt intensive, kritische Methoden ein, um Verborgenes ans Tageslicht zu bringen“, stellt Siegfried Weischenberg fest (1983: 350). Joseph Pulitzer, der legendäre amerikanische Verleger und Stifter des nach ihm benannten Journalistenpreises, wies seine Redakteure an: „Es gibt kein Verbrechen, keinen Kniff, keinen Trick, keinen Schwindel, kein Laster, das nicht von Geheimhaltung lebt. Bringt diese Heimlichkeiten ans Tageslicht, beschreibt sie, macht sie vor allen Augen lächerlich“ (zit. nach Adamek/Otto 2008: 43). Natürlich gibt es nach wie vor Informationen, die vor der Öffentlichkeit verheimlicht werden, und es bleibt die Kunst von Journalisten, diese aufzudecken. Daneben tritt aber ein neuartiges Problem, nämlich aus dem Wust des Offensichtlichen das Relevante herauszufischen. Die Datenmassen – Statistiken und Tabellen, Bildarchive und Musikkollektionen, publizistische Angebote und private Blogs – müssen gesichtet und sortiert, gefiltert und bewertet werden. Neben das Problem der Geheimhaltung tritt heute das vielleicht noch virulentere Problem der Auffindbarkeit oder Findability: Die eine Information, die wichtig und entscheidend ist, könnte im Meer des Irrelevanten untergehen und nicht zu finden sein. Früher haben Journalisten so viele Informationen wie möglich zusammengesucht. Heute suchen sie nur noch so wenig wie nötig.
Recherche ist also heute im Internet eine universelle Tätigkeit, die nicht mehr auf Journalisten und die wenigen anderen Rechercheberufe beschränkt ist. Wenn heute jeder recherchiert, dann haben vermutlich auch viele ähnliche Probleme beim Recherchieren:
- die richtigen, einschlägigen Suchbegriffe zu finden;
- die notwendigen Suchmethoden zu kennen;
- nur die relevanten Suchtreffer aufzuspüren;
- beurteilen zu können, was online auffindbar ist und was nicht;
- auch Offline-Daten...