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Gott braucht dich nicht

Eine Bekehrung | «Für mich eines der besten Bücher zum Thema Tod, Leiden und Glauben im Dunkeln.» Johannes Hartl

AutorEsther Maria Magnis
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783644021815
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
«Gott braucht dich nicht» ist eine mit großer Sprachkraft vorgetragene Religionskritik. Doch Esther Maria Magnis' Zorn ist nur der Beginn ihres sehr ungewöhnlichen Weges zum Glauben und zu Gott. Dieser Weg ist begleitet von persönlichen Schicksalsschlägen, die sie eindringlich schildert. «Vielleicht ist Gott ein Sadist», schreibt sie, «ein großes Kind, das schlecht erzogen wurde und sich nicht kümmert. Wenn Gott, wie die Christen behaupten, Liebe ist, dann verstehe ich diese Liebe nicht. Dann ist sie irrer und strenger als meine.» Trotz allem wagt sie zu glauben, doch das Hinterfragen hört nie auf. Dabei rechnet sie schonungslos ab mit kirchlichen Phrasen, mit dem inkonsequenten Philosophieren der Elterngeneration, aber auch dem unaufgeklärt blinden Glauben an die Wissenschaft. Ob Christ oder Atheist - «Gott braucht dich nicht» ist ein Buch für jeden, der es sich nicht nehmen lassen will, daran zu glauben, dass es Schönheit gibt und Wahrheit und darum auch Antworten auf die ganz großen Fragen unseres Lebens.

Esther Maria Magnis, Jahrgang 1980, katholisch, hat Vergleichende Religionswissenschaft und Geschichte studiert. Sie lebt und arbeitet in Berlin.

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Leseprobe

2


«Eitel» – zischte es. «Du bist ein eitles Ding.»

Als ich mich umdrehte, mein Zopfband zwischen die Zähne geklemmt, beide Hände am Hinterkopf und meinen Pferdeschwanz haltend, den ich, weil er mir beim Spielen total verrutscht war, noch mal schnell geradebinden wollte, sah ich in das Gesicht einer alten Frau. Sie hielt ein Kind rechts, eins links fest an der Hand, stand hinter mir im Kircheneingang und sagte: «Gott will nicht solche eitlen kleinen Dinger, die ihr schönes Haar zeigen. Da macht man so.» Sie ließ die Kinder von den Händen, neigte ihren Kopf, auf dem über blaustichiger Dauerwelle eine Mütze, einem selbstgestrickten lila Teewärmer nicht unähnlich, thronte, und faltete die Hände. Dann sah sie ruckartig wieder zu mir auf.

«Nicht dieses», sie verdrehte die Augen und machte ein paar Gesten, die wohl Eitelkeit bedeuten sollten, «ach, mein Haar, und bin ich hübsch in der Kirche.» Dann fuhr sie mit ihrer Hand in die Tasche, kramte ein Taschentuch hervor, wischte sich einmal schnell über den Mund, steckte es zurück und griff mit der gleichen Geschwindigkeit wieder nach den Händen der Kinder, die normalerweise im Kommunionunterricht schon alleine laufen konnten, zog sie mit sich und ging, uns allen voran, nach vorne zu den ersten Bänken.

Diese Frau war eine Vertretung im Kommunionunterricht. Ich hatte danach nichts mehr mit ihr zu tun, aber ich hatte Angst, dass sie eine direkte Vertretung Gottes war.

Ich wollte einfach nur ordentlich in die Kirche gehen. Mit einem Pferdeschwanz, der nicht direkt neben meinem rechten Ohr beginnt und dasselbe nach vorne biegt, während die Hälfte meines Haares auf der anderen Seite, vom Wollpulli elektrisch aufgeladen, in der Luft wie geisterhafte Spaghetti tanzt.

Ich war das einzige Kind, welches nach der Erstkommunion nicht Messdiener wurde. Ich wollte nicht. «Ich dien doch nicht dem Pfarrer», sagte ich zu meiner Mutter. «Du dienst ja auch nicht dem Pfarrer als Messdiener, sondern Gott», erwiderte sie, aber das war meiner Meinung nach damals eine Ausrede. Die ganze Messe war auf den Pfarrer ausgerichtet. Er stand hinter seinem Altar wie meine Lehrer hinter ihren Pulten, und wir mussten davor knien.

Ähnlich war es mit der Beichte. Ich hatte eigentlich schon Lust, mal in so einem Beichtstuhl zu sitzen, aber dann mussten die Kommunionkinder ein Beichtgespräch führen, weil man den Beichtstuhl zu unpersönlich fand. Vielleicht. Ich weiß es nicht, vielleicht hatten wir in unserer Kirche auch keinen. Man hatte mir über die Beichte Ähnliches gesagt wie über das Messdienen, nämlich dass man seine Sünden nicht dem Pfarrer beichtet, sondern Gott, und das fühlte sich nun aber, durch dieses persönliche Beichtgespräch von Angesicht zu Angesicht mit dem Pfarrer, ganz und gar nicht so an. Am Abend vor meiner Erstkommunion lag ich im Bett, und als ich betete, hoffte ich, dass ich Gott am anderen Morgen treffen würde in der Kirche. Wir Kommunionkinder mussten dann im Halbkreis um den Altar stehen, mit den Gesichtern zur Gemeinde. Alle sahen uns an. Jedes Kind bekam eine Hostie auf die Hand, und bei «drei» (als der Pfarrer wieder an seinem Platz stand) mussten wir sie greifen und in den Mund stecken. Irgendwas daran verletzte meine Scham. Ich sah kauend auf meine Füße.

Im Großen und Ganzen hatten meine Eltern Verständnis für uns Kinder, wenn wir die Kirche langweilig fanden. Überhaupt entstand bei mir der Eindruck, dass eigentlich die meisten Leute die Kirche noch nicht so perfekt fanden, wie sie sein sollte. Es lag damals in meiner Kindheit in den Achtzigern etwas in der Luft, das sich schwer beschreiben lässt: etwas Unvollendetes, könnte man sagen. Irgendein Ziel war noch nicht erreicht.

Es wurde zu wenig für die Jugend getan. Das hörte ich.

Manchmal spielte eine Band bei uns in der Messe fetzige Lieder wie «Laudato si» und irgendein Lied, das von einem verlangte, einen Baum zu pflanzen, der Schatten wirft, und ein Haus zu bauen, das uns beschützt oder so. Ich verstand es nicht, aber ich schmetterte mit, und mein Bein wippte im Takt, wenn das Schlagzeug mit der Querflöte durch die Strophen stolperte. In solchen Momenten war mir nicht langweilig in der Messe. Das war gut. Ich wäre aber auch niemals freiwillig in die Messe gegangen, um diese Combo zu hören, nein, sie war, glaube ich, nur etwas für die Kinder, die eh schon da sitzen mussten.

Die größte Revolution in unserem Haus gab es, als meine Eltern es wagten, uns Kinder zum zweiten Mal in einen ökumenischen Gottesdienst mitnehmen zu wollen. Meine Schwester schrie sofort laut auf, als sie das Wort hörte, ich sagte leise «Scheiß Ökumene», und meine Mutter wurde sauer.

«Dein Vater und ich leben in einer ökumenischen Ehe. Es gibt Länder, da ist Krieg zwischen Protestanten und Katholiken. Ich will so was nicht hören.»

«Scheiß Ökumene», sagte ich noch mal. Noch leiser.

«Ihr seid gemein zu uns!», brüllte Steffi. «Ökumene dauert zehn Stunden. Bitte nicht, können wir bitte zu Hause bleiben? Das ist so schrecklich.» Meine Eltern hatten irgendwann Mitleid und ließen uns daheim. Der ökumenische Gottesdienst, den wir mitgemacht hatten, hatte zwei Stunden gedauert. Zuerst laberte der evangelische Pfarrer darüber, wie toll Ökumene sei, und dann, als man gerade dankbar seufzend beobachtet hatte, wie er die Kanzel verließ, kam ein katholischer Pfarrer und sagte noch mal das Gleiche: «Es ist gut, dass wir hier sind», und so Zeug. Alle fanden es gut, dass man da war. Nur wir Kinder nicht. Man stand nicht auf, nur zum Vaterunser und zum Glaubensbekenntnis, das schleppend im Chor gesprochen wurde und nur an einer Stelle holperte, wenn manche Katholiken, einschließlich wir drei Kinder, nach alter Gewohnheit sagten: «Ich glaube an die heilige katholische Kirche» anstatt «heilige christliche Kirche». Man kniete sich nicht hin, man tat eigentlich überhaupt gar nichts und war an die Bank gefesselt. Stundenlang. Ich habe es als körperliche Qual in Erinnerung.

Wir gingen zwar meistens in die katholische Sonntagsmesse, waren aber auch oft in evangelischen Kirchen, weil mein Vater evangelisch war.

Ich bemerkte bei meinen Eltern jedoch schon als Kind, dass sie teilweise ganz schön befreit und erleichtert in die Autositze plumpsten, wenn der Gottesdienst rum war. Einmal, das vergesse ich nie, jauchzte meine Mutter laut, als wir zu Hause ankamen. Sie warf sich in den Ledersessel, schwang ihre Beine über die Lehne, nachdem sie einen alten Schwarzweißfilm in den Videorekorder geschoben hatte, und sagte etwas wie: «Gell, Kinder, manchmal ist es doch schön, wenn man etwas geschafft hat.»

 

Ich mochte Gott. In der Kirche war er mir oft langweilig, aber ich fand ihn grundsätzlich sehr interessant. Er schien etwas Wahnsinniges zu haben und etwas sehr Zartes.

Er hatte offenbar den wilden Johannes in der Wüste gerne, der wie ein Sittenstrolch halbnackt mit einem Kamelfell rumrannte und rumbrüllte und Heuschrecken kaute. Und er schien den ekelhaft verrückt Besessenen zu mögen, der vollkommen wahnsinnig war. Und er redete wild mit dem Teufel. Und er befahl wild dem wilden Meer. Und er blutete am Kreuz aus dem Kopf, aus dem Rücken und war übersät mit Dreck und Schlägen – das war alles sehr wild.

Manchmal hatte ich dann wieder das Gefühl, dass er eine Brille trug, einen Dutt und zusätzlich einen langen Bart und leer vor sich hin glotzte. Ich hörte von einem Pastor, dass Gott es nicht mochte, wenn Kinder sonntags, anstatt in die Messe zu gehen, lieber auf den Fußballplatz gingen. Diese Information verstörte mich total. Denn die Fußballspiele an den Sonntagen wurden nicht von Achtjährigen organisiert, sondern von den Trainern und manchen Eltern, und denen sollte man als Kind doch gehorchen, oder wie war das gemeint? Das fand ich ignorant von Gott und, sagen wir mal, unsortiert. Ich fand ihn dann einfach nur spießig und blöd. Nein, eher schlecht gelaunt, ja, das trifft es besser, aber solche Momente gingen vorbei, speicherten sich irgendwo ein, aber übertrafen nicht mein Interesse an ihm und meine Aufmerksamkeit, denn eigentlich und meistens fand ich ihn als Kind außergewöhnlich schön. Und außergewöhnlich freundlich. Und seltsam.

Es gab einen Moment, ich war noch sehr klein, fünf oder sechs Jahre alt, als ich mir auf einmal sicher war, dass er da war. Ich glaube, dass meine Dankbarkeit über die Schönheit dieses Moments mich lange an ihn band.

Es war am Atlantik. In Spanien. Nachts. Ich war allein. Meine Eltern und Geschwister saßen im Restaurant hinter der Mauer, die an die Strandpromenade grenzte, auf der ich stand. Mein Vater war Außenhandelskaufmann, weswegen er geschäftlich in der ganzen Welt zu tun hatte. Er nahm uns oft mit. Die ganze Familie. Wir Kinder mussten bei manchen Geschäftsessen dabei sein und uns mit den Kindern der Geschäftsfreunde vertragen. Wir waren dann sehr höflich und vorsichtig miteinander und brachten uns gegenseitig bei, was Tisch, Serviette, Kellner, Messer, Gabel, Löffel, Fisch, Garnele und Eis in der jeweiligen Sprache heißt – auch wenn wir es noch vom letzten Essen wussten. Ich mochte den Geruch von den Haaren der spanischen Mädchen, das stimmte mich immer sehr feierlich. An jenem Abend war der Kunde ein guter Freund meines Vaters. Seine beiden Söhne kannte ich schon, sie waren viel älter als ich und mittlerweile in das Gespräch der Eltern auf Englisch vertieft. Steffi und Johannes löffelten noch ihr Eis aus Kokosnusshälften. Ich wollte keins. Und mir war langweilig.

«Gehst nicht zu weit, Estherle», hatte mein Vater zu mir gesagt, als ich neben ihm stand und über seine Krawatte streichelte, um zu fragen, ob ich aufstehen...

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