Vor ein paar Jahren fuhr ich in Berlin mit dem Fahrrad die Friedrichstraße hinunter, als auf einmal ein Auto abbog, ohne mich zu sehen. Ich entkam einem Unfall nur deshalb, weil mich ein Fahrradkurier warnte. Er war vielleicht Anfang dreißig und blond. Er fragte mich, ob wir einen Kaffee trinken gehen wollten. Wir radelten zu Starbucks.
«Und», fragte er, als wir uns hinsetzten, «wo kommst du her?» Fremde stellen mir diese Frage oft. Ich beantworte sie immer gleich: «Aus Berlin.» Berlin ist die Stadt, in der ich geboren bin; es ist der Ort, an dem ich mich zu Hause fühle. «Nein, nein», sagte er, «wo kommst du wirklich her?» Stumm seufzte ich in mich hinein. Ich wusste, worauf er hinauswollte, aber ich sagte: «Ich komme aus Nordberlin, Hermsdorf.» Ich hoffte, er würde nun merken, dass ich nicht weiter darüber reden wollte. Wir waren uns gerade erst begegnet, und ich hatte kein Interesse, ihm meine Familiengeschichte zu erzählen.
Doch meine Antworten machten den Fahrradkurier nur ungeduldig. Man sah ihm förmlich an, dass er unbedingt wissen wollte, was mein Migrationshintergrund war. «Du weißt schon, was ich meine. Wo sind deine Wurzeln?» Ich schwieg. Die Frage nach meinen Wurzeln ist mir schon immer seltsam vorgekommen: Wieso sprechen andere mit mir, als sei ich ein Baum? «Komm schon», sagte der Fahrradkurier. «Na gut», sagte ich schließlich, «meine Eltern kommen aus Vietnam.» Er lehnte sich in seinen Sessel zurück und grinste. «Wusst ich’s doch, dass du aus Asien kommst!» Ich lächelte gequält und wiederholte, dass ich in Deutschland geboren und aufgewachsen sei. Dass das die richtige Antwort auf die Frage nach meiner Herkunft sei. Und dass ich die Herkunft meiner Eltern nicht unbedingt mit Fremden diskutieren müsse.
Der Fahrradkurier beugte sich nach vorne und sagte eindringlich:
«Dann hast du aber ein Problem!»
«Wie bitte?»
«Na, du hast ein Problem mit deiner Identität, deswegen willst du nicht darüber reden!»
«Wieso habe ich ein Problem, wenn ich keinen Smalltalk über meine Identität will?»
«Andere Asiaten haben damit kein Problem.»
«Was soll das heißen?»
«Ich kenne mich mit Asiaten aus. Ich bin drei Monate in Thailand und Vietnam rumgereist. Die hatten kein Problem wie du.»
Ich sah den Mann ungläubig an. Wie konnte er mich mit irgendwelchen Thailändern vergleichen, nachdem ich ihm erklärt hatte, dass ich nie in Asien gelebt habe? Woher nahm er das Recht, meinen Umgang mit meiner Herkunft zu beurteilen? Wieso konnte er nicht akzeptieren, dass ihn das Ganze nichts anging? Ich trank schnell aus und stand auf. Als mich der Fahrradkurier nach einem weiteren Treffen fragte, sagte ich: Nein, lieber nicht. Draußen vor dem Starbucks atmete ich tief durch.
Ich werde oft gefragt, woher ich komme; meist ist es eine der ersten Fragen, die anderen einfällt. Viele fragen aus Neugier. Sie wollen verstehen, warum eine asiatisch aussehende Frau Deutsch spricht wie sie. Manche nicken, wenn ich sage: «Ich komme aus Berlin.» Doch für viele passt diese Aussage nicht zu meinem Aussehen. Wenn sie immer weiter bohren, wie dieser Fahrradkurier, scheinen sie es zu tun, weil sie in mir eine Asiatin sehen und keine Deutsche. Dass ich mich anders beschreibe, dringt nicht durch. Meine Herkunft, meine Familiengeschichte sind keine Tabuthemen. Ich möchte sie nur nicht vor Menschen ausbreiten, mit denen ich auch andere persönliche Fragen nicht besprechen würde.
Ich erinnere mich an das Haus, in dem ich aufgewachsen bin: neonfarbenes Hellblau in einer Gegend voller Bäume und Einfamilienhäuser. Hermsdorf war bürgerlich, und wir waren es auch. Mein Vater war Arzt, meine Mutter arbeitete in einer Bank. Im Wohnzimmer stand ein Klavier, auf dem ich täglich üben sollte. Ich spielte auch Cello und lernte Ballett, außerdem war ich Schwimmerin, Klassensprecherin und Nachhilfelehrerin. Schon als Schülerin hatte ich einen Terminkalender und Stress.
Vietnamesisch war zwar meine Muttersprache, aber im Kindergarten habe ich viel davon verlernt. Mit meinen beiden jüngeren Geschwistern unterhielt ich mich auf Deutsch, unsere Eltern sprachen vietnamesisch untereinander und manchmal auch mit uns. Einfache Dinge wie «Räum den Tisch ab» oder «Deine Tante ist krank» konnten wir verstehen. Meine Mutter versuchte immer wieder, uns mit einem vietnamesischen Grundschulbuch Lesen und Schreiben beizubringen, aber sie scheiterte, weil wir zu selten lernten. Meine Eltern fanden es schade, aber letztlich war es ihnen wichtiger, dass wir gut Deutsch sprachen. So sahen wir es auch.
Weil wir schlecht Vietnamesisch sprachen und in einem Einfamilienhaus lebten, galten wir unter Vietnamesen als «eingedeutscht». In den Augen der anderen waren wir nicht nur wohlhabender, sondern auch weniger traditionell. Für Deutsche wiederum waren wir die vietnamesische Vorzeigefamilie. Wir selbst hatten dazu ein ambivalentes Verhältnis. Obwohl wir scheinbar nahtlos in die Welt von Hermsdorf passten, waren uns «die Deutschen» – so nannten wir sie zu Hause – irgendwie fremd. Besonders seltsam fanden wir das deutsche Abendbrot: Wie konnten sie so wenig und so einfach essen? Für uns war das Abendessen die wichtigste Mahlzeit. Punkt acht mussten wir zu Hause sein, um gemeinsam mit der Familie zu essen. Meine Mutter kochte vietnamesische Gerichte mit verschiedenen Gängen, meistens aßen wir in der Küche. Alles, was besprochen werden musste, wurde dann besprochen.
Ich erinnere mich, dass ich als Schülerin oft in dieser Küche saß und meinen Eltern von meinen Freunden erzählte. Genauer gesagt erzählte ich ihnen, dass meine Klassenkameraden es viel besser hatten als ich: Sie mussten nicht auf ihre Geschwister aufpassen und sie überallhin mitnehmen, sie mussten auch keine Aufgaben im Haushalt übernehmen. Sie durften so lange weggehen, wie sie wollten. Sie wurden von ihren Eltern gelobt, wenn sie eine 2 im Aufsatz schrieben. Wieso war das bei uns nicht so?
«Am Wochenende übernachten alle bei Susy, wieso darf ich nicht auch?»
«Wir haben am Wochenende etwas mit der Familie vor.»
«Aber die Übernachtung ist doch abends!»
«Dann schläfst du so wenig und bist am nächsten Tag müde.»
«Was ist daran so schlimm?»
«Denk nicht immer nur an dein Vergnügen.»
«Ich bin die Einzige aus der ganzen Klasse, die nicht dabei ist.»
«Na und? Du bist nicht wie die anderen. Wieso vergleichst du dich überhaupt mit den Deutschen?»
Susy sagte ich, dass ich am Wochenende keine Zeit hätte und deswegen nicht kommen könne. Ich verschwieg ihr, dass meine Mutter es mir nicht erlaubt hatte. Es war mir vor meinen Freunden peinlich, dass ich nicht so viel durfte wie sie; dass meine Eltern mich mit 15 noch wie ein Kind behandelten, während meine Freunde von ihren Eltern schon wie Erwachsene behandelt wurden. Es kam immer wieder vor, dass ich meinen Freunden absagen musste, weil wir etwas mit der Familie unternahmen: Fast jedes Wochenende gingen wir zusammen ins Kino oder Restaurant, in den Ferien verreisten wir oft zu fünft. Wir machten Urlaub bei unseren Verwandten in Vietnam und Amerika; wir fuhren durch Skandinavien, Südfrankreich oder Griechenland. Der Zusammenhalt in unserer Familie war enger als in den deutschen Familien, die ich kannte. Er konnte einen schier erdrücken, aber er gab mir auch Halt.
Warum wir anders waren und warum es wichtig war, diese Andersartigkeit zu bewahren, das haben mir meine Eltern nie wirklich erklärt. Ich glaube, sie wussten es selbst nicht genau. Vielleicht hatten sie Angst, dass wir uns von ihnen entfernen würden, wenn sie uns zu liberal erzogen. Vielleicht konnten sie uns nicht deutscher erziehen, weil ihnen die Gleichberechtigung zwischen Eltern und Kindern so fremd war. Sie kannten nichts anderes als das vietnamesische Familienverständnis, das auf Hierarchie und bedingungslosem Zusammenhalt basiert. Schon als Kind wusste ich, dass ich meine Eltern nicht um viele Freiheiten bitten konnte. Dafür haben sie immer ja gesagt, wenn ich einen Sport lernen wollte, eine Sprachreise plante oder sonst welche Projekte vorhatte.
Mit 14 Jahren sollte ich bei einem kleinen Konzertabend in Reinickendorf etwas vorspielen, ich glaube, es war «In der Höhle des Bergkönigs» aus der Peer-Gynt-Suite von Edvard Grieg. Die Veranstaltung fand im Fontane-Haus statt, einem schmucklosen Konzertsaal mit zwei Flügeln. Schulorchester, chilenische Tanzgruppen und alles, was das Lokalpublikum noch hätte interessieren können, traten dort auf. Die Zuschauer saßen auf roten Sitzen in langen Reihen vor der Bühne, und auf vier Sitze ziemlich weit vorn legte ich vor dem Konzert Zettel mit unserem Nachnamen, «Pham».
Fünf Minuten vor Beginn traf ich meine Familie endlich am Eingang. Ich eilte mit ihr zu den reservierten Sitzen, aber inzwischen hatte sich ein deutsches Ehepaar dorthin gesetzt. Ich erklärte dem Mann die Situation, doch er weigerte sich aufzustehen: «Wer so spät kommt, verliert seinen Platz.» Er schaute meine Mutter an, sie schaute ihn an, dann brach es aus ihr heraus: «Das machen Sie nur, weil wir Ausländer sind!» Wütend drehte sie sich um und suchte sich einen anderen Platz.
Vielleicht irrte sich meine Mutter, und das Verhalten des Mannes hatte nichts damit zu tun, dass wir Vietnamesen waren. Vielleicht hätte er eine deutsche Familie auch so behandelt. Aber warum sollte ich das glauben? Zu der Zeit liefen mir die Verkäuferinnen in Geschäften hinterher, weil sie dachten, ich würde etwas stehlen. Als Kind hatten sich andere Kinder mit «Ching-Chang-Chong-Sprüchen» über meine Geschwister und mich lustig gemacht. Meine Mutter ermahnte uns immer, uns ordentlich anzuziehen: «Sonst denken die Deutschen, wir sind...