Vorwort
Der Tag war noch nicht richtig angelaufen, aber als ich über den Domplatz eilte, blitzten erste Sonnenstrahlen vom blassblauen Himmel. In den Zierbäumen pfiffen keck einige Spatzen, und ich nutzte die Zeit, um noch kurz in den Dom zu springen.
Sonntags ist die Kathedrale von Passau meist gut besetzt, aber jetzt waren in dem gewaltigen Gotteshaus weit vorn am Alter nur fünf Beter mit einem alten Priester zur heiligen Messe versammelt, einsame, verlorene Gestalten, die von Ferne wirkten wie in einer anderen Galaxie. War dies ein Abbild unserer Lebenswirklichkeit? Sieht so die Kirche der Zukunft aus? Der Anblick war grotesk, aber er hatte zugleich etwas Tröstliches. Es war ein Bild der Treue, das Zeichen eines Lichts, das nicht verlischt.
Als junger Mann hatte ich um diese alte Stadt gekämpft wie um eine Geliebte, von der man nie genug bekommt. Ich war Kommunist geworden. Mit einem Luftsprung trat ich aus der Kirche aus. Jetzt kam ich zurück, um ein Interview mit dem Bischof zu führen, in dem viele den Typus einer neuen Generation von Hirten sehen, die anders ist.
Nicht mehr die Macht der Kirche stand zur Debatte, wie in meiner Jugendzeit, sondern ihre Ohnmacht. Und nicht mehr die Verheißungen einer glorreichen Zukunft bewegten uns, sondern eine Angst vor der Zukunft, die manchem bereits die Kehle zuschnürt. Über allem stand die Frage, ob es nicht einen Zusammenhang gebe zwischen der Krise der Kirche und der Krise der Gesellschaft. Ob man nicht inzwischen gar von einer Gottesfinsternis sprechen müsse, einem Spiel mit dem Feuer, an dem sich entscheidet, wie die Welt von morgen aussieht.
Die Deutschen haben eine besondere Geschichte mit ihrem Glauben. »Wie hältst du’s mit der Religion?«, Gretchens Ausruf in Goethes »Faust«, gehört nachgerade zur Wesens- und Schicksalsfrage dieser Nation. Kaum ein Volk hat mit Gott so gerungen, im Guten wie im Bösen.
Die Gottesfrage, das tiefe Schürfen nach Erkenntnis, war das Fluidum für den deutschen Genius, von Künstlern wie Dürer und Grünewald, Mozart, Bach und Haydn, von Geistesgrößen wie Kant und Hegel, Lessing und Leibniz, die ein »Land der Dichter und Denker« prägten, weltweit bewundert. Deutsche Geschichte ist Religionsgeschichte. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation wurde zum Urbild des heutigen Europa, vielleicht der modernen westlichen Welt überhaupt. Da waren der Aufbruch neuer Städte, die sich um Kathedralen gruppierten, die karolingische Minuskel, die der Alphabetisierung des Kontinents den Weg ebnete, oder auch die ersten Universitäten, die hohe Theologie, die das wissenschaftliche Zeitalter vorbereiteten.
Aus der Suche nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält, entstand freilich auch die Verführung zum Streit, aus dem Streit ein Schisma, das den christlichen Westen in zwei Teile riss. Deutschland ist nicht nur die Wiege des Protestantismus, hier gründet auch der wissenschaftliche Sozialismus, der das Paradies auf Erden versprach. Es ist noch nicht so lange her, seit atheistische Systeme in West und Ost ein Europa ohne Gott schaffen wollten, den befreiten »neuen Menschen«. Hitlers »Tausendjähriges Reich« hinterließ nach zwölf Jahren zerstörte Städte, Millionen Tote und die Krematorien des Holocaust, durch den das »Volk Gottes« von der Erde getilgt werde sollte wie Ungeziefer.
Die heutige Krise von Kirche und Glauben kam nicht über Nacht, aber noch immer wird ihr wahres Ausmaß genauso totgeschwiegen wie die verheerenden Folgen, die sich daraus ergeben. Mit rund 500000 Austritten aus der katholischen und evangelischen Kirche hat der Exodus des Glaubens 2014 eine neue Rekordmarke erreicht. In den vergangenen 24 Jahren kehrten weit über acht Millionen Menschen ihrer Glaubensgemeinschaft den Rücken. Und das ist erst der Anfang.
Nach Umfragen renommierter Forschungsinstitute tragen sich mindestens zwanzig Prozent der verbliebenen Mitglieder ebenfalls mit dem Gedanken an Flucht. Manche Untersuchungen sprechen gar von fünfzig Prozent – ein Austrittspotenzial von bis zu zwanzig Millionen Bürgern, die einmal auf Christus getauft wurden.
Aber nicht allein die Kirche als Institution befindet sich im freien Fall. Weit gravierender noch ist der Verlust an Glaubenswissen, Glaubensbewusstsein und Glaubensbindung. Papst Franziskus spricht mit Blick auf den Glauben in Deutschland von einer »Erosion«. Aber es ist weit mehr. Die alte Volkskirche hat ihre Kraft verloren. Das Christentum erlebt einen Niedergang von historischem Ausmaß. Christlicher Glaube hat mit Gott zu tun, was sonst. Mit der Beziehung des Menschen zu etwas, das größer ist als er selbst. Aber auch mit Kultur, mit Recht, mit sozialer Balance. Mit Demokratie und Freiheit. Und wenn es Kirche und Glaube schlechtgeht, das wissen wir aus der Geschichte, ist das kein Grund zur Freude, sondern eine nationale Katastrophe, die auch jene angeht, die denken, damit nichts zu tun zu haben.
Ich hatte mir für das Gespräch mit dem Bischof ein strenges Programm vorgenommen. Passt eine zweitausend Jahre alte Religion, wollte ich wissen, noch zu einer »Zivilgesellschaft« und einer globalisierten Welt, die sich selbst genügt? Andererseits: Bekommen wir nicht längst zu Gesicht, was wir verlieren, wenn wir das Christentum auslöschen, wenn wir damit unsere kulturelle Erinnerung verlieren, die Orientierung, die einmal Halt und Zuversicht und ewiges Heil bedeutete? Bleibt nicht auch richtig, was Isaac Newton wusste: »Wer nur halb nachdenkt, der glaubt an keinen Gott; wer aber richtig nachdenkt, der muss an Gott glauben«? Er habe in seinem Leben, so Newton, einer der bedeutendsten Wissenschaftler der Menschheit, »zwei wichtige Dinge gelernt: dass ich ein großer Sünder bin – und dass Christus ein noch größerer Retter ist«.
Wie und wann hat es angefangen, dass unser Glaube begann, sich in Luft aufzulösen? Ist da eine Kirche der Langeweile entstanden, die aus dem Evangelium Christi eine spießige Veranstaltung macht, die niemanden mehr anturnt? Die Macht und Ohnmacht eines Riesen, dessen Kassen sich füllen, aber dessen Häuser sich leeren? Waren es die Verfehlungen und Missbräuche der Institution und Ihrer Träger, die den Aderlass begründeten?
Da sind ein Wir-tun-nur-so-als-ob-Christentum und die Verflachung der öffentlichen Diskussion, die sich an den Standards aufreibt. Woran liegt es, dass die Christen in diesem Land – immerhin gehören noch 50 Millionen Menschen den beiden Volkskirchen an – behandelt werden wie eine verschwindend kleine Minderheit – und vor allem, dass sie sich das sogar gefallen lassen? Ist nicht auch eine mediale Berichterstattung zu befragen, die nicht mehr differenziert, sondern jede Angriffsfläche benutzt, um christlichen Glauben und Kirche als Feindbild zu zeichnen, als etwas, was den Untergang verdient?
Das Appartement des Bischofs hatte nichts von der barocken Fülle früherer Amtsinhaber. Aber für die karge Einrichtung entschädigte der Ausblick auf den Fluss und die Wallfahrtskirche Mariahilf. Wir nahmen auf den Polstermöbeln Platz und kamen schnell ins Gespräch. Stefan Oster ist kein Bilderstürmer, aber ein Unbequemer, der aneckt: »Es stellt sich die Frage: Halten wir einen Betrieb aufrecht, der von innen her hohler und hohler zu werden droht?«
Dem Bischof geht es um Wahrhaftigkeit, um Authentizität, um geistliche Erneuerung für ein echtes, gelebtes, bekennendes Christentum, das wieder missionarisch ist. Man müsse sich selbst hineinbegeben in das Geheimnis des Glaubens, Gotteserfahrung machen, weil sich Offenbarung von außen nicht begreifen lässt. Vor allem junge Menschen bewegen sein Herz. Ähnlich wie seinen Ordensvater. »Don Bosco war ein Radikaler«, sagt Oster, »was Glauben angeht und was Liebe angeht. Und er lebte zutiefst in Christus.«
Reform der Kirche bedeutet für den Bischof von Passau Erneuerung aus der Bewahrung. Oster spricht von der Priorität der Christuskenntnis. Die Frage sei, »ob wir das Evangelium wieder neu zur Geltung kommen lassen«. Er steht dabei in der Tradition jener Reformer, die aus dem Ursprung schöpfen wollen, eine Reform aus dem Glauben selbst heraus in Bewegung bringen möchten, gegen alle Versuche von Anpassung und Verwässerung des Evangeliums. Sie sind unbequem, provozierend, hartnäckig und zuweilen auch penetrant. Dass sie von Zeitgenossen bekämpft werden, wenn sie gegen den Strich bürsten, ist der Preis für den aufrechten Gang. »Nicht Gott hat sich von uns entfernt«, betont er, »wir haben uns von Gott entfernt.« Auch in der Gottesfinsternis würde ein liebender, barmherziger Gott niemals die Menschen verlassen. Schon die Geschichte Israels sei gewissermaßen »ein Ringen Gottes um sein Volk und dessen Versuchungen, in die Gottlosigkeit abzugleiten«.
Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts hat ihre Grenzen erreicht. Ihre Weiterentwicklung wird Glauben und Vernunft wieder in einen Zusammenhang bringen. Die Botschaft: Mehr Glauben wagen. Zeit für neues Denken finden. »Ich glaube, damit ich erfahre«, hat jemand gesagt. Glauben heiße: gefunden haben. Es kann keinen Fortschritt geben, der nicht auch verankert ist in Traditionen, einem Common Sense an Werten und einem Bewusstsein, das sich nicht in der Selbstvergottung verschränkt. Ohne die Wiederentdeckung christlicher Spiritualität jedenfalls verlieren wir nicht nur den Zugang zu den Grunderfahrungen der Menschheit, die für ein humanes Leben unabdingbar sind, ohne sie kommt der ins Leere laufenden Moderne auch die knappe Ressource Sinn abhanden, verlieren wir den Zugang zu einer verlässlichen Ordnung und verantwortliches Handeln. Was Europa betrifft: Es hat mit der Negation seiner Herkunft seine Seele, seine Identität verloren, wovor Johannes Paul II. und Benedikt XVI. so eindringlich gewarnt haben. Der Kontinent fällt...