Deutsche in Böhmen
„Das Böhmen ist ein eigenes Land“, sagte 1829 Johann Wolfgang von Goethe, „ich bin dort immer gerne gewesen.“ Das Land im Herzen Europas, eingerahmt vom Erzgebirge im Nordwesten, den Sudeten im Nordosten, dem Böhmerwald im Südwesten, den Böhmisch-Mährischen Höhen im Südosten und dem Mühl- und Waldviertel im Süden, ist seit seiner Besiedlung eng verflochten mit der europäischen Geschichte.
Der Name Böhmen leitet sich vom keltischen Stamm der Bojer ab, die das Gebiet vor über 2000 Jahren besiedelten und später teilweise nach Westen zogen, dem heutigen Bayern. Ihnen folgten die germanischen Markomannen, die sich mit Erfolg gegen die Eroberung durch die Römer wehrten. Im Verlaufe der im vierten Jahrhundert n. Chr. beginnenden Völkerwanderung kamen im sechsten Jahrhundert schließlich slawische Stämme ins Land, darunter der dominierende Stamm der später namensgebenden Čechi. Schließlich übernahm für gut 400 Jahre das Herrscherhaus der Přemysliden die Macht. Unter ihrer Herrschaft gewann Böhmen zunehmend an Bedeutung und wurde Teil des Heiligen Römischen Reichs (Deutscher Nation). Seine größte Ausdehnung erreichte das Königreich Böhmen unter der Herrschaft Ottokars II. (1253–1278). Es umfasste zu dieser Zeit neben Böhmen und Mähren auch die Herzogtümer Österreich, Kärnten und Steiermark.
Während der Herrschaft der Přemysliden kamen ab dem zwölften Jahrhundert deutschen Siedler ins Land. Zuerst waren es die Geistlichen und Kaufleute, die der böhmische Hof ins Land geholt hatte, ihnen folgten Bauern, Bergleute und Handwerker. Die Besiedlung betraf nicht nur die Randgebiete Böhmens, die später als das Sudetenland bezeichnet wurden, sondern auch Innerböhmen. Es wird geschätzt, dass um 1300 circa ein Sechstel der 1,5 Millionen Bewohner der böhmischen Länder deutscher Herkunft waren. Den Neuankömmlingen winkten durch das damals geltende deutsche Siedlerrecht zahlreiche Vergünstigungen, etwa eine zehnjährige Steuerfreiheit. Landwirtschaft, Bergbau, Handwerk und Handel blühten auf und die ersten Städte im neuen Siedlungsgebiet wuchsen. Die rund 100 Städte, die bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts entstanden, wurden fast ausschließlich unter deutschem Einfluss und nach deutschem Recht gegründet. Zu ihnen gehörten, neben Prag und Brünn, beispielsweise Freudenthal (heute Bruntál) im Jahre 1215 oder Troppau (heute Opav) um 1225. Die deutsche Kolonisation, die Städtegründungen, die Erschließung der Silber- und Zinnfunde, und nicht zuletzt der Reichtum an anderen Erzen ließen das Königreich Böhmen als das unbestreitbar bedeutendste Fürstentum im ganzen Reiche erscheinen, dessen Einfluss von der Ostsee bis zur Adria reichte. Wer vermutet schon, daβ Königsberg (heute Kaliningrad) eine Gründung des böhmischen Königs Ottokars II. ist und sein Name im Wiener Stadtteil Ottakring steckt?
Mit der Ermordung des letzten Přemysliden, Wenzel III., im Jahre 1306 begann zugleich die Zeit der Fremdherrschaft. Zunächst ging die Herrschaft an das Haus der Luxemburger über. Unter Karl IV., von 1346 bis 1378 böhmischer und deutscher König und 1355 in Rom zum deutschen Kaiser gekrönt, wurden die böhmischen Länder Kernländer des Reiches und Prag wurde Residenzstadt. Karl förderte Kunst und Wissenschaft. Unter seiner Herrschaft wurde Prag zu einer der wichtigsten Macht- und Kulturzentren Europas. Unsterblichen Ruhm brachte ihm aber vor allem die Gründung der ersten, nördlich der Alpen gelegenen Universität in Prag 1348 ein. Unter den Luxemburgern umfassten die Länder der böhmischen Krone auch Luxemburg und Brabant, Brandenburg, die Lausitz und Schlesien.
Diese kulturelle Blüte wurde durch die sogenannten Hussitenkriege in den Jahren 1419 bis 1436 beendet. Die religiösen Auseinandersetzungen brachten, wie jeder Krieg, Tod, Verwüstung und Vertreibung. Das galt für Tschechen und Deutsche gleichermaßen. Die böhmische Krone war am Ende geschwächt und Böhmen verlor seine wirtschaftlich und kulturell führende Stellung in Europa.
Mit Ferdinand I. bestieg 1526 erstmals ein Habsburger den böhmischen Thron. Einer seiner Nachfolger, Rudolf II. (böhmischer König von 1575 bis 1611 und römisch-deutscher Kaiser ab 1576), verlegte seinen Hof von Wien nach Prag und sorgte so für eine erneute Blütezeit der Stadt und des Landes in Kunst und Wissenschaft. Doch geprägt war diese Zeit vor allem durch religiöse Konflikte zwischen der katholischen Kirche und diversen protestantischen Reformbewegungen. Sie gipfelte zunächst im so genannten Prager Fenstersturz am 23. Mai 1618, als zwei kaiserliche Statthalter von böhmischen Protestanten aus den Fenstern der Prager Burg, dem Hradschin, geworfen wurden. Dieses Ereignis gilt als Auslöser des Dreißigjährigen Krieges. Bei der 1620 stattfindenden, zwei Stunden andauernden Schlacht am Weißen Berg – ein Hügel im Westen Prags – unterlagen die protestantischen Truppen der böhmischen Stände den katholischen Heeren, worauf die böhmischen Stände völlig entmachtet und 27 Anführer des Aufstandes hingerichtet wurden.
Die Böhmischen Länder gehörten vor 1618 zu den dichtest besiedelten Gebieten Europas. Nach dem Dreißigjährigen Krieg hatten sie mehr als ein Drittel ihrer Einwohner verloren. Historiker sprechen von etwa 150 000 Menschen, die in dieser Zeit aus ihrer böhmischen Heimat vertrieben worden. Es dauerte über ein Jahrhundert, bis der alte Besiedlungsstand wieder erreicht war. Waren es nach den Hussitenkriegen Protestanten gewesen, die in dem entvölkerten Land eine neue Heimat fanden, so kamen jetzt hauptsächlich Katholiken. Die neue Siedlerwelle breitete sich von Deutschland vornehmlich in den neuen Bergbaugebieten an der böhmischen Nordgrenze aus. Die Siedler aus Sachsen verschmolzen aber in der Folgezeit nicht mit den anderen Deutschböhmen zu einer einheitlichen Sprach- und Kulturgruppe, sondern blieben weitgehend isoliert. Um 1700 machte der Anteil der Deutschsprachigen in Böhmen bereits über ein Fünftel aus. Bis zum Ersten Weltkrieg stieg er auf fast ein Drittel (2,9 Millionen) an.
Unter den Habsburgern wurde Deutsch zur Amts- und Unterrichtssprache. Deutschkenntnisse wurden zur Voraussetzung für höhere Bildung und sozialen Aufstieg. Die ständische Verwaltung, bisher ein Hort der tschechischen Sprache, wurde zunehmend mit königlichen Beamten durchsetzt, die meist deutschsprachig waren. Dies führte unweigerlich zu einer Benachteiligung der Tschechen. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts waren viele Tschechen nicht mehr bereit, die wirtschaftliche, politische und kulturelle Zurücksetzung weiter zu ertragen. Allmählich wurden die Forderungen der Tschechen nach mehr Eigenständigkeit lauter. Einer der geistigen Führer der neuen Nationalbewegung war der Historiker František Palacký, der mit seinem Werk „Geschichte von Böhmen“ viel zum tschechischen Geschichtsbewusstsein beitrug. Später trat Palacký auch politisch in den Vordergrund und lehnte demonstrativ eine Einladung zur deutschen Nationalversammlung in Frankfurt am Main ab. Vielmehr berief er im Juni 1848 einen Slawenkongress nach Prag ein, der im Auftrag des Kaisers von österreichischen Truppen gewaltsam aufgelöst wurde. Neue Nahrung erhielt die tschechische Empörung mit der Schaffung der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie 1867. Deutsche und Ungarn waren darin gleichberechtigt; für die Tschechen, die dritte große Volksgruppe der Donaumonarchie, galt dies nicht.
Die Deutschen in der Habsburgermonarchie empfanden die Forderung nach einer größeren Gleichberechtigung und Eigenständigkeit der Tschechen immer stärker als existenzielle Bedrohung. Im Streit, ob das Deutsche und das Tschechische gemeinsame Behördensprachen sein sollten, fanden diese Auseinandersetzungen ihren ersten Höhepunkt. Die Habsburger versuchten die Lage durch Kompromisse zu entschärfen. 1864 wurde Tschechisch an höheren Schulen als zweite Landessprache eingeführt - zuvor war auf Deutsch unterrichtet worden. Weiterhin wurden die Gesetzestexte zweisprachig verfasst und in den vorwiegend tschechisch besiedelten Gebieten die tschechische Sprache in den Ämtern zugelassen. Ein weiteres Ergebnis dieser Bemühungen war die Teilung der Prager Universität 1881–82 in eine tschechische und eine deutsche. Im Jahr 1882 wurde mit einer Ausweitung des Wahlrechts auf größere Teile der männlichen Bevölkerung der politische Einfluss der Tschechen ausgedehnt. Die Einführung des Tschechischen als gleichberechtigte Behörden- und Gerichtssprache in Gesamtböhmen hingegen scheiterte 1899 zunächst am starken deutschen Widerstand, da die Deutschen eine „Tschechisierung“ der deutscher Siedlungsgebiete befürchteten. Bis zum Ende des Jahrhunderts verschärften sich die Spannungen zwischen Deutschen und Tschechen immer mehr, wiederholt musste zwischen 1893 – 1895 in Prag wegen Ausschreitungen der Ausnahmezustand verhängt werden. Der böhmische Landtag war wegen der Streitigkeiten arbeitsunfähig und wurde schließlich 1913 von der österreichischen Regierung aufgelöst.
Als der...