Die „Grosse“ C-Dur-Symphonie nimmt eine sehr besondere Stellung im Werk Schuberts ein. Ganz auffallend ist zuerst die „himmlische Länge der Symphonie, wie ein dicker Roman in vier Bänden etwa von Jean Paul“ [6] : so eine lange Symphonie hat nicht nur Schubert, sondern sogar auch Beethoven nie geschrieben - die Länge der „Großen“ C-Dur-Symphonie überschreitet sogar diejenige der 9.Symphonie Beethovens (mindestens was die Sätze 1, 3 und 4 betrifft). [7] Eine Tendenz zur Verbreiterung der Anlage hat zwar Schubert bereits in seiner 2.Symphonie [8] , aber auch in seiner 6.Symphonie [9] gezeigt, jedoch findet in der „Großen“ C-Dur-Symphonie eine merkwürdige Breite der Anlage statt: sie ist mit mehr als einer Stunde Spieldauer die längste rein instrumentale Symphonie des 19. Jauhrhunderts bis hin zu Bruckners Fünfter. Das ganze Werk erinnert an eine fast ewige Wanderschaft: zweifellos bezieht sich die Bemerkung Schuberts, er wolle sich „den Weg zur großen Symphonie bahnen“ [10] auf die „Große“ C-Dur-Symphonie.
Ein weiteres charakteristisches Merkmal ist die Orchesterbesetzung: in der „Großen“ C-Dur-Symphonie treten dazu Posaunen auf. Die Hinzufügung der Pos. im Symphonie-Orchester ist ganz neu: weder Beethoven, noch Schubert (in seinen früheren Symphonien) haben Posaunen in seinen Symphonien wiederverwendet. Wie wir weiter sehen werden, übernehmen die Posaunen im Verlauf der Symphonie eine ganz besondere Stellung.
Ganz neuartig wirkt der Einleitung-Beginn: die ganze Symphonie beginnt mit einer unisono Hornmelodie. Was für ein ungewöhnlicher Symphonie-Beginn..! Dieses Einleitungsthema ist von ganz großen Bedeutung: das einleitende Hornthema, sowie der von ihm abgeleitete „Jubilus“, zieht nicht nur den ganzen 1.Satz, sondern sogar die gesamte Symphonie durch: in der thematischen Anlage aller Sätze ist der Jubilus (vor allem seine Terz-Motivik) allgegenwärtig und wird einer Vielzahl von Variantenbildungen unterzogen.[11]
Besonders die Ecksätze sind stark miteinander verkettet: das Finale nimmt das im Kopfsatz Exponierte auf und bringt es zu Ende. In seinen Themen werden die thematischen Momente des Kopfsatzes gewissermaßen auf erhöhtem Niveau und mit abschließender Tendenz wiederaufgegriffen. Und auch hier ist das Ziel des Satzprozesses immer wieder der Jubilus.
Der zyklische Zusammenhang aller Sätze innerhalb einer Symphonie ist ein neuartiges Arbeitsprinzip: Robert Schumann charakterisiert die Grosse C-Dur-Symphonie von Schubert als ein Werk „in neuverschlungener Weise, nirgends zu weit vom Mittelpunkt wegführend, immer wieder zu ihm zurückkehrend“.[12] Schumann empfand, daß dieses neuartige Arbeitsprinzip nicht dem seit Beethoven maßgebenden entsprach; darum betont er „die völlige Unabhängigkeit, in der die Symphonie zu denen Beethovens steht“. [13] Trotzdem wurde die Große C-Dur-Symphonie auch als eine „im Styl Beethovens geschrieben“[14] Symphonie mißverstanden, da sie zahlreiche Motivgemeinschaften mit der siebten und neunten Sinfonie von Beethoven aufweist [15] , die von den damaligen Hörern schon erkannt wurden.[16]
Daher ergibt sich die Frage, ob Schubert derartige Zusammenhänge von Themen und Sätzen bewußt oder unbewußt gestaltete. Schubert schrieb an Leopold Kupelwieser am 31.März 1824 - also nach der Komposition der „Unvollendeten“ - , daß er sich „den Weg zur großen Symphonie bahnen“ wolle. [17] Damit bezeugt er ein konsequentes Wollen mit klarem Blick für die notwendigen Schritte, welches eben die Tatsache beweist, daß Schubert einen - von Beethoven unabhängigen - eigenen kompositorischen Weg im Bereich der Symphonie ‚bahnen’ wollte.
2. 2. 2. 1 EINLEITUNG (T. 1-78 / 1.Viertel)
Die langsame Einleitung des ersten Satzes wurde mit zwei unterschiedlichen Taktarten notiert: im Autograph steht die alla-breve Vorzeichnung, während in der Gesamtausgabe von 1885 wegen eines Druckfehlers ein C-Takt steht. Dieser Druckfehler war der Grund für eine Menge Aufnahmen, die nicht die Absichten des Komponisten entsprachen: in denjenigen Aufnahmen, die den C-Takt als Ausgangspunkt nehmen, ist ein von Komponisten nicht notiertes Accelerando gegen Ende der Einleitung notwendig, damit der Übergang vom Andante (Einleitung) zum Allegro ma non troppo (Hauptsatz) erreicht werden kann.
Die Erscheinung einer langsamen Einleitung am Beginn einer Symphonie ist nicht neu bei Schubert: die Kopfsätze fast aller seinen Symphonien (ausser der 5. und 8.) enthalten schon eine langsame Einleitung. Neu ist jedoch die Länge dieser Einleitung: es geht um eine riesige 77-taktige Einleitung im gesamten 685-taktigen 1.Satz - eine Einleitung, welche sogar länger als der Hauptsatz ist (77 : 56)! So eine lange Einleitung ist wirklich außergewöhnlich: in den restlichen Schubert-Symphonien dauern alle Kopfsatz-Einleitungen von 10 (im gesamten 614-taktigen 1.Satz der 2.Symphonie) bis maximal 30 (im gesamten 392-taktigen 1.Satz der 6.Symphonie) Takten, während die langsamen Einleitungen in den 1.Sätzen von den Symphonien Beethovens 12 (im gesamten 299-taktigen 1.Satz der 1.Symphonie) bis maximal 62 (im gesamten 450-taktigen 1.Satz der 7.Symphonie) Takte lang dauern.
Die Länge dieser Einleitung ist aber nicht der einzige Grund ihrer Wichtigkeit: in dieser Einleitung tritt ein ganz aussergewöhnliches unisono Hornthema auf - ein Thema, welches ganz wichtig ist, da sein motivisches Material (aufsteigende melodische Terz) nicht nur den ganzen 1.Satz, sondern sogar die gesamte Symphonie durchzieht: das achttaktige Einleitungsthema verbindet alle vier Sätze dieser Symphonie zu einer übergeordneten Einheit (im Verlauf der Analyse werden wir ausführlich darüber sprechen).
Ein Hörer könnte wahrscheinlich glauben, daß es um keine Einleitung geht, sondern daß wir schon im Hauptsatz sind – für diesen Eindruck ist einerseits die Thematik, andererseits die schnellere „alla breve“ -Taktierung verantwortlich.
Die ganze Einleitung bildet einen grossen Bogen, einen Prozeß, in dem das Einleitungsthema allmählich ganz verschiedenen Charakteren bekommt: zuerst (ab T.1) erklingt es quasi-volkstümlich und pastoral, danach (ab T.9) bekommt es durch eine subtile kontrapunktische Verarbeitung einen eher charmanten und eleganten Charakter, ab T. 29 tritt es ganz energisch und kraftvoll auf, während es schließlich (ab T.61) einen lyrischen und gesanglichen Ton bekommt. Dazu wird eine Entwicklungstendenz durch eine allmähliche Eroberung der orchestralen Dimension erreicht: das Einleitungsthema tritt zuerst einstimmig auf (T.1-8), dann erscheint das erste harmonische Stadium des Themas (T. 9-16), ab T. 29 taucht das Thema in einem Zwischenzustand auf dem Weg von der Einstimmigkeit zu orchestralen Erschlossenheit auf, während es ab T. 61 fast auf dem ganzen Orchester erscheint.
Die Andante-Einleitung der Grossen-C-Dur-Sinfonie ist von verschiedenen Theoretikern unterschiedlich gegliedert worden: Therstappen [18] und Bangerter [19] verstehen die Einleitung als eine dreiteilige Bogenform (1.Teil: T. 1-29/1.Halbe, 2.Teil: T. 29-61 / 1.Viertel, 3.Teil: T. 61-78 / 1.Viertel). Die Argumentation Therstappens liegt an den unterschiedlichen Charakter jedes Teiles: „geschlossene Bildung [barförmiger Bau] der ersten [Gruppe], motivische und harmonische der zweiten (die Wendung nach As-dur), Zurückkehren der dritten Gruppe zum Ausgangspunkt und Verdichtung zum Allegrothema“. Bangerter versteht die Harmonik als das formbildende Element. Steinbeck [20] sieht die Einleitung ebenfalls dreigteilig an, aber anders gegliedert (A-Teil: T.1 ff, B-Teil: T. 38 ff, A’-Teil: T. 61 ff) - er stellt jedoch keine Begründung für diese Gliederung dar.
Oechsle [21] sieht diese Einleitung auch als einen in einer Sonatensatzform komponierten Satzteil (T.1- 37 „Exposition“; T.1 ff: „Hauptsatz“, T.17 ff: „Seitensatz“, T.29 ff: „Schlußgruppe“; T.38 ff: „Durchführung“; T. 61 ff: „Reprise“; T. 68 ff: „Coda“) an. Wir empfinden diese Einleitung sicher nicht als eine Sonatensatzform. Oechsle[22] sieht prinzipiell die Prinzipien der Entwicklung und der Prozessualität, von denen die Einleitung gekennzeichnet wird, als einen Gesichtspunkt, welcher den Vergleich mit der Sonatenform eher begünstigt. Das ist aber sicher nicht genug: sowohl motivisch, als auch harmonisch stimmt die Einleitung nicht mit einer Sonatensatzform überein: in T.17 ff tritt eindeutig kein seitensatzartiges „Liedthema“ (allerdings muß nicht jeder Seitensatz ein Liedthema haben!), sondern eine Fortspinnung auf - die Tatsache, daß das „Liedthema“ nicht wieder in der „Reprise“ auftaucht ist noch ein Beleg dafür; diese Fortspinnung erscheint...