KAPITEL 1
Eine Großmacht entsteht
Die Ruinen von Persepolis zeugen von jahrtausendealter iranischer Geschichte als Großmacht im Nahen und Mittleren Osten.
DER URSPRUNG DES IRANISCHEN SELBSTBEWUSSTSEINS
Wenn die Entwicklung Irans in Deutschland und den anderen westlichen Ländern seit Jahrzehnten kontinuierlich beobachtet wird, dann gilt dies für seine Nachbarschaft seit Jahrhunderten. Bereits seit dem 16. Jahrhundert trennte eine scharfe Grenze das vornehmlich von semitischen und Turkvölkern bewohnte sunnitische Osmanische Reich vom zumeist von Indoeuropäern besiedelten schiitischen Iran. Politik und Interessen des Iran konnten die Bewohner der Region also zu keinem Zeitpunkt missachten. Für viele reicht das Gewicht dieser regionalen Großmacht sogar noch viel weiter zurück. Für sie war Iran quasi »schon immer da«, er gehört zu den ältesten Staaten der Welt. Georg Friedrich Hegel bezeichnete die indoeuropäischen Siedler, die Ende des 4. Jahrtausends v. Chr. auf dem Gebiet des heutigen Iran eine bronzezeitliche städtische Zivilisation entwickelten, voller Hochachtung als »erstes historisches Volk«.2 Die Siedler bezeichneten sich als »Arier« (ariyānām) und ihr Siedlungsgebiet als ariyānām shahr (Land der Arier), aus dem später das bedeutungsgleiche Ērān Shahr wurde. Von da ab war es nicht mehr weit zu Iran. In späterer Zeit und unter unterschiedlichen Herrschern gehörten weite Teile der heutigen Türkei bis zum Bosporus, aber auch Ägypten, Nordindien, der Kaukasus, große Teile der eurasischen Steppe und der Persische Golf bis in den Süden nach Oman zu Iran respektive Persien. Bei den Nachfahren der Bewohner jener Gebiete blieb also ein Echo einstiger persisch/iranischer Dominanz und Glorie erhalten.
1250 v. Chr. setzte eine zweite große Wanderungsbewegung indoeuropäischer Völker aus den eurasischen Steppen in das iranische Hochland ein, zu denen auch die Perser gehörten. 550 v. Chr. errichteten sie unter Kyros II. das erste gleichnamige Reich auf iranischem Boden. Es war Namensgeber für Persien, wie Iran bis 1935 hieß. Das Abendland hingegen verdankt diesen Namen den Griechen, die das zentrale Siedlungsgebiet der Perser in der heutigen iranischen Provinz Fars mit der Hauptstadt Schiras Persis nannten.
Das von Kyros II. gegründete Perserreich der Achämeniden entwickelte sich zum ersten zentral geführten Großreich auf iranischem Boden. Das Reich dehnte sich rasch aus. Obwohl (oder vielleicht sogar gerade weil) er als Eroberer außerordentlich erfolgreich war, ging die Geschichtsschreibung sehr wohlwollend mit Kyros um. Mit seiner Erhebung zu »Kyros dem Großen« wird nicht nur seine Leistung als Staatsgründer gewürdigt, sondern vor allem auch sein sehr maßvoller Umgang mit den Kulturen, Religionen und Sitten der eroberten Völker. Die »Befreiung der Juden aus der babylonischen Gefangenschaft« ging sogar in die biblische Geschichte ein. Als Vergeltung für Aufstände gegen ihre Herrschaft hatten die assyrischen Könige Tiglatpileser III. und Sargon II. zwischen 730 und 720 v. Chr. Tausende Juden nach Ekbatana und Susa in Südwestiran deportiert; sie gelten in der biblischen Überlieferung als die »Zehn verlorenen Stämme Israels«. 587/86 v. Chr. zerstörten die Assyrer Salomos »ersten Tempel« in Jerusalem und führten Zehntausende Juden in die »babylonische Gefangenschaft«. Aus ebendieser wurden sie 539 v. Chr. von Kyros befreit. Er stellte den Befreiten frei, nach Jerusalem zurückzukehren und ihren Tempel wiederaufzubauen oder sich in seinem Reich auf Dauer anzusiedeln. Viele nahmen die Offerte an und kehrten damit dem Berg Zion den Rücken.
Zumindest unter den Achämeniden sollten sie ihre Wahl nicht bereuen, denn Kultgegenstände und Artefakte aus Persepolis, Susa und Hamadan belegen, dass die Juden die gleichen Rechte wie andere Untertanen der persischen Herrscher genossen, einschließlich Religionsfreiheit. Obwohl vor allem seit der Revolution von 1979 stark geschrumpft, lebt in Iran bis heute eine etwa 25.000 Menschen umfassende jüdische Gemeinde – die größte des Nahen Ostens und Nordafrikas außerhalb Israels. Stolz auf ihre jahrtausendealte Existenz in ihrer angestammten Heimat, sehen sie sich nicht in erster Linie Israel und dem Berg Zion (Zionisten) verpflichtet, sondern Iran.
Die so erfolgreichen Achämeniden und namentlich Kyros der Große dienten auch späteren Dynastien und Herrschern immer wieder als Referenz, um eigene Bedeutung zu reklamieren. Das gilt faktisch bis zum letzten Schah Irans, Mohammed Reza Pahlavi. Mit großem Pomp beging er im Oktober 1971 den 2.500ten Geburtstag des persischen Reiches und feierte sich bei dieser Gelegenheit als Erbe der Achämeniden. In offener Provokation der Geistlichkeit schaffte er dabei – quasi nebenbei – den islamischen Kalender ab und ersetzte ihn durch einen »kaiserlichen« Kalender, der mit der Krönung von Kyros dem Großen begann.
Europa verbindet mit den Achämeniden dagegen weniger Kyros als vielmehr seine Nachfolger Dareios und Xerxes. Auch Dareios wurde von späteren Geschichtsschreibern als »der Große« tituliert. Diese Wertschätzung fußt in erster Linie auf seinen überragenden staatsmännischen Leistungen. Er ließ mit Persepolis die glanzvolle neue Hauptstadt des Reiches errichten, legte ein Netz von Fernstraßen mit Poststationen an, baute einen Kanal zwischen dem Nil und dem Roten Meer, standardisierte das Münzwesen und modernisierte die Verwaltung.
Mit diesen Errungenschaften im Rücken richtete Dareios seinen Blick auf neue Eroberungen, dieses Mal in Richtung Westen, nach Europa. Er setzte über den Bosporus und unterwarf bis 512/511 v. Chr. Mazedonien auf griechischem Territorium. Damit herrschte Dareios über das größte bis dahin bekannte Reich, das sich über die Kontinente Asien, Afrika und Europa erstreckte. Dareios ließ sich »Schah-in-Schah« (König der Könige) nennen – ein Titel, den spätere Herrscher, einschließlich Mohammad Reza Pahlavi, gern übernahmen – und regierte faktisch die erste »Supermacht« der Geschichte, eine Supermacht, in der aber nach wie vor ein hohes Maß an Toleranz für andere Sitten, Gebräuche und Religionen galt.
Das ist umso erstaunlicher, als das Perserreich mit dem Zoroastrismus durchaus über eine eigene entwickelte Religion verfügte. Diese geht auf den Propheten Zarathustra, der wohl zwischen 1700 und 1300 v. Chr. in Bakhtrien im heutigen Afghanistan lebte, zurück und gilt als eine der ältesten ausformulierten »Buch«-Religionen (Avesta) der Erde. Sie ist monotheistisch und führte nicht zuletzt den Messianismus und das dualistische Prinzip von Himmel und Hölle in das religiöse Verständnis ein. Geradezu revolutionär war das darin enthaltene Zugeständnis an den freien Willen des Menschen, sich durch sein Verhalten zwischen beiden entscheiden zu können. Der Zoroastrismus beeinflusste so nachdrücklich alle nachfolgenden monotheistischen Religionen wie das Juden- und das Christentum, aber auch den Islam. Von den Achämeniden bis zur islamischen Eroberung Persiens im 7. Jahrhundert war der Zoroastrismus die vorherrschende Religion in Persien.3
Der Versuch, das griechische Festland zu erobern, führte das Perserreich aber schließlich an seine Grenzen. 499 v. Chr. begann der griechisch-persische Krieg, der fast 50 Jahre andauern sollte und der zum festen Bestandteil der europäischen Geschichte und Kultur wurde. Die Schlachten von Marathon (Marathonlauf) 490 v. Chr. und die Seeschlacht von Salamis 480 v. Chr. sind seit vielen Generationen Unterrichtsstoff. Nach dem Ende des Krieges mit Griechenland waren die Achämenidenherrscher mehr mit dem Erhalt als mit der Ausdehnung ihres Reiches beschäftigt. Mit dem Tod von Dareios III. 330 v. Chr. erlosch ihre Dynastie.
Es war Alexander der Große, der Dareios III. in den Schlachten von Granicos, Issos und Gaugamela entscheidend schlug und sich das Perserreich am Ende einverleibte. Alexanders Reich, das sich schließlich vom Indus bis zur Adria erstreckte, war damit sogar um einiges größer als der Staat, den Dareios I. regiert hatte. Als Einheitsstaat überlebte das Gebilde aber Alexanders Tod im Jahre 323 v. Chr. nicht. Vielmehr wurde es unter seinen fähigsten Feldherren aufgeteilt. Persien fiel an Seleukos Nicator, der die Dynastie der Seleukiden begründete und für eine – noch in vielen Artefakten sichtbare – Hellenisierung des Reiches sorgte.
Die den Seleukiden folgenden Dynastien der Parther (ab 248 v. Chr.) und Sassaniden (ab 224) führten den persischen Reichsgedanken der Achämeniden fort. In die Alte Geschichte Europas gingen sie vor allem wegen der nahezu sechs Jahrhunderte umfassenden Auseinandersetzung mit dem Römischen Reich ein. Römische Legionäre und persische Reiterei hielten sich militärisch gleichsam die Waage und verhinderten eine dauerhafte Überlegenheit einer der beiden Seiten. 53 v. Chr. brachten die Parther den Römern unter Senator Marcus Licinius Crassus im mesopotamischen Carrhae eine der empfindlichsten Niederlagen ihrer gesamten Geschichte bei; den Sassaniden gelang es 260 in der Schlacht von Edessa sogar, den römischen Kaiser Valerian gefangen zu nehmen. Der römische Imperator verstarb in Gefangenschaft. Im Verlauf des letzten persisch-römischen Krieges von 602 bis 628 belagerten die Sassaniden...