Auf dem großen Platz des Neumarkts, wo der Zirkus immer seine Zelte aufschlug, fand auch für uns Kinder die Hauptattraktion der Stadt statt, zweimal im Jahr, im Frühjahr und im Herbst: der Jahrmarkt. Buden, Karussells und Fahrgeschäfte aller Art zogen auf, und hätte ich nicht später das Münchner Oktoberfest erlebt, ich hätte geschworen, daß der Nordhäuser Jahrmarkt das größte und schönste aller Volksfeste war, aber er blieb mir auch so das liebste, das schönste Fest meiner Kindheit und frühen Jugend. Naturgemäß fuhr ich als Halbstarker die - „richtig”, d.h. mit Benzin – motorisierten „Gocarts” und den „Autoscooter“, für den ich mir Geld verdiente durch Schieben eines noch nicht motorangetriebenen Kinderkarussells. Mein jüngerer Bruder Jochen, ein Süchtiger im Scooterfahren, hat einmal die 30 Mark, die er von Eltern und Großeltern zum Sparen erhalten hatte, auf dem Jahrmarkt für 60 Fahrten verbraucht. Da hetzte er die dreiviertel Stunde nachhause, zerschlug mein Sparschwein, plünderte es aus und fuhr weiter bis zum Dunkelwerden.
Radtour an die See
Wir wollten eine Radtour unternehmen, mein Cousin Wölfchen, zwei seiner Arbeitskollegen und ich: von Nordhausen über den Harz, quer durch „Groß-Berlin“ bis zur Ostsee-Insel Usedom. Seit 1952 hatte ich ein eigenes Fahrrad: Es war im doppelten Sinn mein eigenes: ein selbst aus Einzelteilen aus Ost- und Westdeutschland zusammengebautes Tourenrad. In einem (noch) privaten Fahrradladen hatte ich Rahmen, Gabel, Felgen (roh) und einen verchromten Lenker gekauft. Zu besorgen waren noch Radlager für vorn und hinten, ein Tretlager mit Kurbel, Speichen aus verchromten Stahldraht sowie eine Dreigang-Kettenschaltung samt Kette – möglichst „Qualitätsprodukte“ aus dem Westen. Schutzbleche, Dynamo und Beleuchtung, Felgenbremsen und einen Rückspiegel fand ich noch in Nordhausen.
Ich spritzte Rahmen, Gabel und die Felgen blau mit DDR-üblicher Nitro-Farbe aus einer Spritze, aus der sonst Insektengift („Flit“-Spritze) versprüht wurde, montierte Lenker, Schutzbleche und Beleuchtung und konnte mir dann tatsächlich die noch fehlenden und besonders wichtigen Teile im Westen besorgen. Als im Jahr 1952 begonnen wurde, die Grenze der DDR zur Bundesrepublik auszubauen, zu dem später monströsen militärischen Sperr-System gegen die eigene Bevölkerung, war Cousin Wölfchen zusammen mit anderen Forstarbeitern und -Lehrlingen im Frühsommer damit beauftragt worden, einen Abschnitt der Grenze auf 10 Meter breit zu roden. Sie fuhren täglich mit einem Holzvergaser-LKW durch die 5 Kilometer- und 500 Meter-Sperrzonen, und sie nahmen mich einmal mit, versteckten mich unter Säcken mit dem Holztreibstoff. Am Grenzstreifen hackte ich zwei- bis dreimal um Baumstümpfe herum in den Boden und ließ mich in einem unbewachten Augenblick den steilen Hang bis in das Städtchen Zorge hinuntergleiten. Ich kaufte dort meine Teile, es gab sie alle, chromglänzend und in guter Qualität. Ich mußte und konnte in Ost-Mark zum Kurs 5:1 bezahlen.
Nach der kompletten Montage meines Ost-West-Rades fuhr ich pausenlos umher, steigerte meine Ausflüge bis in den Harz, vom 10 Kilometer nahen Ilfeld bis ins Bodetal, steil hinab zu den Höhlen in Rübeland und zurück, ca. 80 Kilometer. Auch verkürzte ich mit dem Rad die Zeit für den Schulweg. Da machte ich vor und nach der Schule halt vor der „Selters“-Bude an der Zorgebrücke im Schnittpunkt der Kneiffstraße und des nach Salza führenden Weges „Kurzes Feldchen“. Hier, an einem der wenigen nach dem Bombardement übriggebliebenen Trink-Häuschen, die für Nordhausen charakteristisch gewesen waren, trank ich immer ein „Selters-Wasser. Dies und eine grüne und eine rote Limonade gab es in kurz-bäuchigen Glasflaschen mit einem Glaskugelverschluß, der durch den Gasdruck im Inneren der Flasche nach oben gedrückt wurde und so die Flasche verschloß. Zum Öffnen mußte die Kugel mit einem Stößel in die Flasche hineingepreßt werden. Nicht zu entscheiden, ob ich aus Durst so regelmäßig an dem Büdchen hielt oder aus Faszination über dies kleine Flaschenwunder. 1972 machte die SED auch mit diesen „bürgerlichen“ Relikten Schluß, indem sie den Unternehmer, der die Häuschen versorgte, enteignete (weder dies Büdchen noch der Weg „Kurzes Feldchen“ existieren noch).
Nun fehlte mir noch das Geld. Cousin Wolfgang half; seine „Jugend-Brigade“, drei Forstarbeiterlehrlinge in den letzten Wochen ihres dritten Lehrjahres, nahm mich mit zur Arbeit in den Forst im Harz, Nähe Ilfeld/Netzkater. Man schlug „Stangen”, d.h. forstete Fichten aus, die u. a. geeignet waren zum Gerüstbau. Sie wurden von Hand mit Axt und Forst-(Schrot-)Säge gefällt, die zwei Mann gleichmäßig, ruhig-kraftvoll und ohne zu verkanten durch den Stamm zogen. Ich lernte, daß und wie man einen Stamm zum Hang hin fällt, so daß er nicht reißen oder splittern und auch nicht aus der vorgekerbten Richtung springen und möglichst niemanden gefährden kann. Ich bekam eine Axt mit langem Stiel und hatte die gefällten Stämme zu entasten, mit präzisem Hieb glatt am Stamm entlang und stets von unten nach oben schlagend. Auch mußte ich mit „rücken“, um die Stämme im steilsten Stück des Geländes zu einer „Rutsche” nach Schweizer Vorbild zusammenzufügen, so daß sie mit zunehmenden Tempo von selbst aufeinander gleitend zu Tal donnern konnten. Was ich gelernt hatte, an Forstwissen wie an Fertigkeiten im Umgang mit Axt, Beil und Säge (einmal durfte auch ich einen Stamm fällen), vergaß ich nie.
Und diese „Brigade”, jetzt Freunde, radelte los in Richtung Ostsee. Wir hatten uns ordentlich verproviantiert; in einem 4-Mann-Zelt, ohne Boden, Matten oder Luftmatratzen, das wir gemeinsam finanziert hatten, wollten wir schlafen. Stroh und Gras und Heu (und Dreck und Sand) zum „Polstern“ des Bodens würden wir schon finden. Die erste Etappe führte von Süd nach Nord durch den Harz. Auto-Verkehr gab’s so gut wie nicht, nur in den größeren Städten Sachsen-Anhalts fuhren Lastwagen und zum Teil Straßenbahnen. Das Wetter war so la la, kein Wind, aber leichter Nieselregen, so fuhren wir durchs flache nördliche Vorharz- und das anhaltinische Land, durch Halberstadt und Magdeburg, ohne mehr als einen Blick auf diese einst schönen, jetzt noch sehr zertrümmerten Städte zu werfen, bis nördlich von Genthin, wo wir ungestört am Rand eines Stoppelfeldes im Zelt übernachteten. Stroh lag genug herum, wir fanden brauchbares Holz für das Kaffee-Feuer am nächsten Morgen, dem Aufbruch nach Berlin.
Berlin - wir kamen in die geteilte, aber noch nicht getrennte, ehemalige deutsche Hauptstadt, die rechtlich von den 4 Alliierten regiert wurde, der westliche Teil faktisch von den 3 Westmächten, der östliche allein von den Russen. Wir radelten auf dem normalen, später undenkbaren Weg: der Reichsstraße 1, durch Potsdam, auch in Berlin immer weiter auf der 1 durch die noblen Viertel bis nach Schöneberg. Die große Stadt in ihrem Westteil verschlug uns Kleinstädtern den Atem: die breiten, baumbeschatteten Alleen, die Geschäfte mit den überquellenden Auslagen und ihren Bergen von Obst in Ständen, draußen auf den Bürgersteigen. Und hell und sauber und voll strahlender Farben schien uns hier alles in zu sein, von den Villen über die großen Wohnblöcke bis zu den Schaschlik-und Zigarettenbuden auf vielen Straßen. Einer der Jungs blieb dann in Westberlin, wir übrigen drei konnten bei seinen Verwandten mit übernachten. Am anderen Morgen fuhren wir weiter: über den Potsdamer Platz, durchs Brandenburger Tor, völlig unbehelligt, die Linden hinunter, übern Alexanderplatz und hinein in die unvollendete Stalinallee: eine vierspurige Straße mit breitem Mittelstreifen. Da fuhren fast nur Dreck verspritzende Baustellenfahrzeuge und das Ganze sah aus, als hätte man ein milieufremdes, ein sowjetisches Architekturmodell ins Gigantische aufgeblasen und in den märkischen Sand gesetzt. Diese ästhetisch reaktionären Bauten beeindruckten uns wenig; gegenüber dem Westen erschien uns der stalinistische Protz eher als menschenfeindlich. DDR-offiziell wurde mit geschönten Bildern verbreitet, daß vor allem Arbeiter in den Riesenblöcken wohnten, die über den imposanten Komfort aus dem Staunen und der Dankbarkeit für die „Partei der Arbeiterklasse“ nicht herauskamen.
Wir sahen zu, daß wir die „Hauptstadt“ hinter uns brachten, Luft und freie Landschaft gewannen, um bald im Meer baden zu können; und so fuhren wir flugs an einer Reihe von Seen ohne hinzuschauen vorbei, durch Prenzlau hindurch, am Abend um Pasewalk unter Mühen auf poltrig-hartem Kopfsteinpflaster herum, um da in der Nähe noch einmal im Zelt zu übernachten. Am anderen Morgen aßen wir ein paar Brote mit Kunsthonig und tranken Milch. So fühlten wir uns gestärkt, um bald Anklam und damit das Tor zu Usedom und von da, nach ca. 40 Kilometern auf glatter Straße, Ahlbeck zu erreichen, wo wir in einem Krüppel-Kiefer-Wäldchen hinter den...