Kapitel: 2
Ruth fühlte sich sofort wieder daheim. Luise und Hannchen waren glücklich und Ruth versprach, bestimmt brav zu sein und ihre Oma nicht zu ärgern. Sie hatten ja jetzt auch etwas mehr Platz. Luise hatte ein Sofa erstanden, auf dem Ruth schlafen konnte. Oma und Enkelin saßen nachmittags oft zusammen, wenn Ruth ihre Hausaufgaben gemacht hatte und klönten. Ruth ging nun in die Friedel – Schrön –Schule. Der Weg dorthin war nicht weit. Sie ging gerne in die Schule. Mittlerweile wurde die Schiefertafel nicht mehr gebraucht. Es wurde bereits in Hefte geschrieben und man musste sehr gut aufpassen, dass man keine Tintenkleckse machte. Manches hatte sich gegen früher stark verändert. Der Milchmann mit seiner Kanne, aus der er die bestellte Milch in die Gefäße, die vor den Türen standen füllte, kam nicht mehr. Stattdessen gab es die Milch auf Lebensmittelmarken und das auch nur in zugeteilten Mengen. Auch den schönen „Platz“, das wunderbare Weißbrot, gab es nur noch sehr, sehr selten. Wie war das doch schön am Sonntagmorgen, eine Schnitte zu bekommen. Zuerst bestrichen mit Butter, dann Quark und als Abschluss Marmelade obendrauf, herrlich! Ein Luxus geworden. Der kleine Eisschrank war zu einem Vorratsschrank umfunktioniert worden, da kein Stangeneis mehr geliefert wurde. Wie hatten sich die Kinder gefreut, wenn der Eismann mit seinem Dreirad-Auto kam, mit einer spitzen Harke die langen quadratischen Stangen aus der Ladefläche nach vorne zog. Er hievte die Stange auf seine Schulter, die mit einem Lederschurz gegen die Kälte geschützt war und lieferte die Stangen aus. Im Moment wo er die Stange mit der Harke bearbeitete, flogen immer ein paar Bröckchen Eis auf die Straße und die Kinder stürzten sich darauf. Dieses Eis, es schmeckte einfach köstlich. Auch die „ Stutenkerle“, die der Nikolaus brachte, Weißbrot in menschlicher Form, gespickt mit Rosinenaugen und einer kleinen Tonpfeife auf dem Leib, gab es nicht mehr. Nur noch Erinnerung, wie die Kinder unter der Kellertreppe zusammen hockten, irgendeinen Tee in die Pfeifchen stopften und diese Wiesenmahd voller Genuss mehr verhusteten als rauchten. Leider hielten die Pfeifchen nicht lange. Bis Weihnachten hatte das letzte seinen Geist aufgegeben. Alles vorbei. Stattdessen kam immer öfter der „Klüngelskerl“ (Eisenwarensammler) der mit seinem Wagen Altmetall sammelte, das zur Produktion von Waffen eingeschmolzen wurde. Der Blockwart machte den Leuten vorher unmissverständlich klar, dass auch das kleinste Stück Metall für den Endsieg gebraucht würde.
Onkel August, Hannchen`s Jüngster, den sie im stillen Benjamin nannte, kam einmal in der Woche und half den Frauen bei schwereren Arbeiten, wie Holz hacken oder Kohlen herein tragen. Onkel August war Bergmann und von seinem Deputat Kohle bekamen die Frauen immer welche ab. Onkel August war sehr schlank, man konnte sogar sagen dünn. Hannchen`s Bemühungen, etwas Fett an diese dürre Gestalt zu bekommen, waren leider nicht von Erfolg gekrönt, obwohl sie sich die größte Mühe gab. Sie kochte meist Wirsing, Bohnen oder Weißkohleintopf mit mehreren „Arbeiterkoteletts“, das waren Bauchscheiben, die paniert und wie Koteletts gebraten wurden. Er konnte eine große Schüssel davon essen. Es war erstaunlich. Die Bergleute bekamen zusätzlich zu den Lebensmittelkarten Schwerstarbeiterkarten. Daher war es kein Problem für Hannchen Fleisch für den Eintopf zu bekommen. Onkel August fuhr immer mit dem Fahrrad. Wenn er wieder heim musste, bettelte Ruth:
„Lass mich doch auch mal fahren.“ Er hielt dann das Rad fest und Ruth versuchte durch den Rahmen die Pedale zu erreichen. Für ein paar Meter schaffte sie es tatsächlich, das Rad in Bewegung zu setzen, dann wurde es ihr zu anstrengend.
Wie früher, vor dem Krieg, gingen Oma und Enkelin freitags in die Schrebergarten -Siedlung am Postreitweg zu Frau Blöcher. Hannchen brachte die Kartoffelschalen und Gemüseabfälle dorthin. Es war jedoch nicht mehr so wie einst. Frau Blöcher konnte kein Schwein mehr halten, nur noch ein paar Kaninchen. Um ein Schwein fett zu bekommen, reichten die Abfälle nicht mehr aus. Es hatte sich auch sonst vieles verändert. Die Gartennachbarn redeten nicht mehr so ungezwungen miteinander. Manche hatten den Garten aufgegeben, waren weggezogen und niemand wusste genau wohin. Neue Pächter waren hinzu gekommen, überzeugte Nazis. Man musste sehr vorsichtig sein mit seinen Reden. Vor dem Krieg pachteten meist Arbeiter und kleine Angestellte die Parzellen. Sie verbrachten die Wochenenden in ihren Gärten, zogen Gemüse, hielten Kaninchen, die man auch streicheln durfte, und der eine oder andere mästete sogar ein Schwein. Man hielt zusammen, tauschte Werkzeuge aus und pflegte manchen Schwatz über den Gartenzaun. Im Garten von Frau Blöcher gab es eine Schaukel für deren Enkelkinder. Ruth freute sich auf jeden Freitag, denn sie durfte ebenfalls schaukeln und beim Abschied bekam Hannchen meist einen Blumenstrauß.
Dass die Pächter dieser Schrebergartensiedlung schon immer eine gewisse Aufmüpfigkeit gegenüber der herrschenden politischen Meinung pflegten, wusste Ruth natürlich nicht. Dann hörte sie doch einmal, als Gartennachbarn zusammen standen und tuschelten:
„Ja der, der war auch ein Kommunist. Er ist weggekommen und keiner weiß genau, wohin.“ Ruth dachte nur, Kommunist zu sein ist ja wohl etwas ganz Schlimmes, fast wie ein Mörder. Dann ist es wohl richtig, wenn er weg kommt. Die Geschichte ging ihr nicht so schnell aus dem Kopf. Sie dachte sehr darüber nach, was es damit auf sich haben könnte. Eines samstags, Luise und Ruth waren auf dem Weg ins Friedrichsbad, um wie üblich das wöchentliche Wannenbad zu nehmen, fragte Ruth ihre Mutter, was das nun ist, ein Kommunist. Luise überlegte kurz, bevor sie antwortete:
„Weißt du, es sind Menschen wie du und ich, nur haben sie eine andere politische Meinung und für Politik bist du wirklich noch nicht alt genug. Also, tu mir den Gefallen und denke über solche Sachen nicht weiter nach, und vor allen Dingen rede mit keinem Menschen darüber.“
Ruth hatte sich schnell eingewöhnt. Aus den ehemaligen Spielkameraden bildete sich wieder eine Clique. Lediglich der kleine Karl aus der gegenüber liegenden Wohnung machte eine Ausnahme. Er war auch nicht mehr klein, sondern bereits beim Jungvolk. Er benahm sich ziemlich altklug und brachte seine dort gemachten Erfahrungen der Clique näher. Daher kam auch seine Weisheit, eine deutsche Frau schminkt sich nicht, sie ist sittsam und schenkt dem Führer möglichst viele Kinder. Mit derartigem Wissen konnte er bei den jüngeren Kindern nicht punkten. Deren Interesse hielt sich verständlicher Weise in Grenzen. Sie machten sich nur einen Jux daraus. Wenn sie wirklich mal eine geschminkte Frau sahen, riefen sie ihr hinterher:
„Vorsicht, hier darfst du nicht küssen, Vorsicht, hier ist frisch gestrichen.“
Viel mehr imponierte ihnen die Uniform, die er nun trug, das Fahrtenmesser, das er stolz herum zeigte sowie die tollen Geschichten von einer Freizeit auf dem Land während der großen Ferien, vom Lagerfeuer, von den schönen Liedern, und dass sie mit einem Holzgewehr geübt hätten, Feinde zu erschießen. Sobald er groß genug wäre, würde er sich freiwillig melden, um unser bedrohtes Vaterland zu verteidigen. Leider müsse er noch lange warten, denn er wäre ja erst zwölf. Hätte er gewusst, dass sich im November 1942 langsam die Katastrophe von Stalingrad ankündigte und zwei Jahre später 16- und 17- Jährige eingezogen wurden, wäre sein Wunsch in Erfüllung gegangen.
Als Ruth daheim davon erzählte und auch noch den Wunsch äußerte, ein BDM-Mädchen zu werden, (Bund Deutscher Mädchen, ein Gegenstück zum Jungvolk der Jungen), denn die bekamen auch eine Uniform, war Ruths Mutter sprachlos. Nachdem sie ihre Fassung wieder gefunden hatte, sagte sie:
„Das hat ja noch ein bisschen Zeit, warte ab, bis du älter bist.“
Trotz vermehrtem Fliegeralarm fanden die Kinder noch Zeit, miteinander zu spielen. Doch wenn die Sirenen ertönten, rannten alle schnell heim. Etwas Zeit war meistens noch, um den kleinen Koffer mit den allernotwendigsten Sachen zu holen und in den Luftschutzkeller zu flüchten. Es war schrecklich. Die Menschen saßen voller Angst in diesen Schutzräumen, deren Schutz völlig unzureichend war. Bei jedem Einschlag einer Bombe zuckten die Leute zusammen und dachten nur‚ hoffentlich kommen wir aus diesem Keller wieder lebendig heraus. Einmal stolperte ein Soldat, der wohl Fronturlaub hatte, in den Keller und schrie:
„Schlimmer als im Osten!“ Erst wenn die Sirenen Entwarnung heulten, konnte man sich herauswagen und erleichtert aufatmen, wenn das Haus noch stand. Schäden wie kaputte Fensterscheiben oder teilweise abgedeckte Dächer, zählte man schon nicht mehr. Sicher, es gab auch bessere Schutzräume, sogenannte Bunker aus Beton, doch nicht genug. So gingen Hannchen, Luise und Ruth meist in den Luftschutzkeller in ihrem Haus.
Das Weihnachtsfest 1942 wurde sehr traurig, denn es war das erste Fest ohne Opa. Luise hatte sogar ein kleines Weihnachtsbäumchen ergattert. Sie war sehr stolz, als sie mit dem Baum nach Hause kam. Ruth durfte beim...