A Einführung
1 Rahmenbedingungen in der sozialpsychiatrischen Praxis
Dagmar Hoehne
1.1 Theoretische Einführung
Essstörungen (Anorexia nervosa und Bulimia nervosa) sind bei insbesondere weiblichen Jugendlichen Störungsbilder mit hoher Prävalenz und stellen in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis ca. 10 % des Inanspruchnahmeklientels dar. Es werden hier bereits Vorläufer einer Essstörung gesehen sowie alle Schweregrade des Störungsbildes in den verschiedenen Altersstufen. Aus der Literatur ist bekannt, dass sich bereits in der frühen Adoleszenz genau die problematischen Einstellungen und Verhaltensweisen der Mädchen entwickeln, die letztlich zu einem Vollbild einer Essstörung führen (Herpertz et al. 2008). Dies kann im ambulanten Bereich eine Chance bieten, vor Ausprägung des Vollbilds der Störung bereits frühzeitig Interaktionsmuster und Einstellungen der Jugendlichen und ihrer Familien zu beleuchten und gegebenenfalls im Sinne einer indizierten Prävention niedrigschwellige therapeutische Angebote zu machen. Insbesondere frühe psychoedukative Angebote, wie Elterngruppen, sowie Trainings sozialer Fertigkeiten für Kinder und Jugendliche und familienbasierte Interventionen sind dabei hilfreich. Oft ist eine Gruppe mit psychoedukativer Zielsetzung als sogenannte IGEL-Leistung ein niedrigschwelliges Angebot an die Eltern zum Einstieg. Sie können hierfür eher gewonnen werden als die Jugendlichen selbst.
Bei einem bereits manifesten Störungsbild einer Anorexie oder Bulimie entsprechend den Kriterien des ICD-10 bzw. DSM-IV ist ein langfristig angelegtes Therapiekonzept notwendig, welches sowohl ambulante als auch gegebenenfalls stationäre Maßnahmen mit einbezieht. Da es sich um chronische Verläufe handelt, sollte eine langfristige Anbindung an eine Praxis erfolgen, mit der Funktion des Case Managements im Sinne einer therapeutischen Führung unter Einbezug aller notwendigen Aspekte. Durch das multiprofessionelle Team einer sozialpsychiatrischen Praxis ist gewährleistet, dass alle Aspekte einer Essstörungstherapie bereitgehalten und individuell angepasst werden können.
Es besteht fachlicher Konsens, dass sich bei der Behandlung von Essstörungen ein multimodaler Therapieansatz aus Gewichtsstabilisierung oder »Gewichtsrehabilitation«, Normalisierung der Essgewohnheiten, Psychoedukation sowohl der Patientin als auch der Familie, Einzelpsychotherapie, Gruppenpsychotherapie und familientherapeutischen Interventionen bewährt hat (DGKJP S1-Leitlinien 2007; S3-Leitlinie Essstörungen 2011). Daneben gilt es, häufige Komorbiditäten wie depressive Störungen, Zwangsstörungen und Angststörungen im Blickfeld zu behalten und gegebenenfalls (bei noch im Toleranzbereich befindlichem Gewicht) eine begleitende medikamentöse Behandlung einzuleiten. Durch eine enge und abgestimmte Zusammenarbeit mit der zuständigen stationären Kinder- und Jugendpsychiatrie und/oder -psychosomatik ist es möglich, bei Eintreten der Indikation zur stationären Behandlung rasch zu reagieren und keine langen Wartezeiten in Kauf nehmen zu müssen. Diese strukturierte Zusammenarbeit ist eine unabdingbare Voraussetzung für das Konzept einer ambulanten Essstörungstherapie, die allen Beteiligten Sicherheit vermittelt und im Rahmen einer Gesamtkonzeption eine deutlich verbesserte Akzeptanz bei den Betroffenen erzeugt. Die in diesem Buch vorgestellte Gruppentherapie von essgestörten Jugendlichen im ambulanten Setting ist in eine Gesamtkonzeption der Behandlung eingebettet und setzt eine erste Auseinandersetzung mit der Erkrankung in der Einzelpsychotherapie oder im Rahmen eines klinischen Aufenthaltes voraus. Insofern sehen wir sie als Intervall im Rahmen eines längeren Therapieprozesses, der einen Baustein im Gesamtprozess darstellt.
Bezüglich der Verursachung von Essstörungen werden biologische, soziokulturelle, familiäre und individuelle Faktoren diskutiert (Herpertz et al. 2008). Zu den individuellen Faktoren zählen insbesondere ein niedriger Selbstwert, Perfektionismus, dysfunktionale Gedanken und Impulsivität (insbesondere bei Bulimie) sowie ein ausgeprägt negatives Körperbild. Dazu kommt die Auseinandersetzung mit der Lebensphase der Adoleszenz und dem häufig damit verbundenen Autonomie-Abhängigkeits-Konflikt, der im Rahmen einer problematischen innerfamiliären Situation mit hohen elterlichen Erwartungen zur Symptomausprägung führt. Es ist Aufgabe der Einzeltherapie diese vorliegenden Muster individuell zu erarbeiten und korrektive Erfahrungen anzuregen. Die Gruppentherapie ermöglicht zusätzlich die Chance, über die dort wirksamen Faktoren in der Interaktion mit den anderen Betroffenen die soziale Isolation zu beenden, über Modelllernen neue Muster auszuprobieren und unter therapeutischer Anleitung den Selbstwert zu korrigieren. Gerade im Jugendalter hat die Auseinandersetzung in der Gruppe der Gleichaltrigen einen hohen Wirkungsgrad, der durch eine alleinige Einzeltherapie nicht erzeugt werden kann (Fiedler 2005). Die jugendtypische Auseinandersetzung mit der eigenen Identität sowie die größer werdende Distanz zu den Eltern (Fegert et al. 2009) und andererseits Auseinandersetzungen mit den Gleichaltrigen sind Entwicklungsaufgaben, die jeden treffen, aber speziell bei Essgestörten auf Grund ihrer sozialen Isolation und dysfunktionalen Muster zu einer Selbstwertkrise führen. Die gute Integration in eine Gruppe von Gleichaltrigen erweist sich im Verlauf als Basis für einen positiven Selbstwert (Tarrant et al. 2006) und erleichtert die weiteren Behandlungsschritte, könnte sogar therapeutische Ressourcen einsparen helfen.
Wir haben uns für eine geschlossene Gruppe entschieden, die als Intervall einer Gesamtbehandlung durchgeführt werden kann. Grundsätzlich ist auch eine offene Gruppe denkbar (Michler et al. 2007), im ambulanten Bereich einer sozialpsychiatrischen Kassenpraxis aber eher schwierig umsetzbar. Sowohl davor als auch danach, im Bedarfsfall auch während der Gruppentherapie findet eine einzeltherapeutische Behandlung statt. Auch die Kontrolle der Gewichtssituation sowie der Erbrechenshäufigkeit ist durchgehend gewährleistet.
Das 2-Therapeuten-Prinzip wurde bewusst gewählt, da dadurch ein individualisierteres Vorgehen ermöglicht wird. In den einzelnen Therapiemodulen wird deutlich, wobei dieses Vorgehen hilfreich ist. Ferner kann jederzeit eine gegenseitige Intervision erfolgen und können kritische Situationen wie auch die Bildung von Koalitionen und Außenseiterphänomene verhindert werden. Die Gruppengröße sollte sechs Patientinnen nicht unterschreiten, um gerade für den Bereich des Modelllernens und der Rollenspiele ausreichend Interaktionsmöglichkeiten zu haben.
1.2 Ambulantes Therapiekonzept in der sozialpsychiatrischen Praxis
1.2.1 Einleitung
Die Gruppentherapie von Essstörungen in der sozialpsychiatrischen Praxis (SPV) ist eingebettet in ein Gesamtkonzept der Behandlung von jugendlichen Essstörungen unter den gegebenen ökonomischen Voraussetzungen einer Kassenpraxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie (KJPP). Sie ist Teil eines Gesamtbehandlungsplanes (Abb. 1), welcher an die jeweilige Ausgangslage (Schweregrad, Compliance und Motivationslage, elterliche Besorgnis, Alter der Patientin) mit der Patientin und ihrer Familie angepasst wird. Dabei orientiert sich dieser an den Leitlinien der Fachgesellschaft und weist einen multimodalen Therapieansatz auf. Neben Ernährungsberatung und Psychoedukation, auch mit der Zielsetzung einer Stabilisierung des Gewichtes und Reduktion der Erbrechenshäufigkeit, findet im Rahmen des multiprofessionellen Ansatzes in der SPV-Praxis Einzelpsychotherapie sowie Elternarbeit in unterschiedlicher Ausprägung statt. Dies wird durch ein gruppentherapeutisches Angebot vervollständigt, welches aus unserer Erfahrung heraus die Fortschritte der anderen Maßnahmen festigt und einen wesentlichen Anteil an der Verbesserung der sozialen Kompetenzen und der Stabilisierung des Selbstwertes und der realistischen Selbsteinschätzung hat. Die verschiedenen Bausteine der Therapie werden in ihrer Rollenverteilung bezüglich der verschiedenen Akteure und mit definierten Verantwortlichkeiten innerhalb und außerhalb der Praxis festgelegt, so dass diese eine jeweils klare Zuschreibung haben und damit etwaigen Spaltungstendenzen oder auch Tendenzen der Problemvermeidung und zu Delegationsketten entgegengewirkt wird. Dies hat sich aus unserer Sicht bewährt, um den Familien und der Betroffenen von Anfang an die Bedeutung der verschiedenen Bausteine zur Gesundung zu verdeutlichen, den Behandlungssrahmen abzustecken und auch die Begrenzungen einer ambulanten Versorgung eindeutig zu klären. In diese Verantwortlichkeit wird die zuständige stationäre Kinder- und Jugendpsychiatrie von Anfang an mit einbezogen in Form einer Stationsführung, da sehr häufig auch eine stationäre Phase notwendig werden kann, insbesondere bei anorektischen Patientinnen. Auch der Haus- und/oder Kinderarzt ist Teil des Konzeptes, an ihn wird der somatische Teil delegiert. Durch dieses Netz an Verantwortlichkeit und Kompetenz fällt es Eltern deutlich leichter, partiell loszulassen und damit den Prozess der Autonomisierung zu akzeptieren. Auch im Falle einer Verschlechterung kann rasch gehandelt werden und alle Beteiligten kennen ihre Verantwortlichkeit.
Abb. 1: Struktur des Therapeutischen Gesamtkonzeptes zur Behandlung von Essstörungen in der sozialpsychiatrischen KJPP-Praxis
1.2.2 Ärztliche Begleitung
Erstgespräch
Meist erfolgt die Anfrage zur Therapie durch die Eltern, teilweise auch durch die Jugendlichen selbst (eher bei Bulimie), den Haus- und/oder...