1 Leitmerkmal Bewegungsstörungen
Fallbeispiel
Die 30-jährige Frau E. stellte eines Morgens beim Blick in den Spiegel fest, dass sie ein „schiefes“ Gesicht hat. Das rechte Augenlid ließ sich nicht ganz heben (Ptosis). Vor einem halben Jahr hatte sie den Zahnarzt aufgesucht, weil sie Probleme hatte, zähes Fleisch zu kauen, doch wurde kein Befund erhoben. Unabhängig davon registrierte die junge Frau, die den Haushalt und zwei kleine Kinder versorgt, dass sich ihre Freunde von ihr zurückziehen.
Eine Bekannte, die sie daraufhin ansprach, meinte, dass sie einfach wenig Interesse an anderen zeige und gefühlskalt reagiere. Damit wies sie auf die reduzierte Mimik der 30-Jährigen hin. In den letzten Wochen kam hinzu, dass ihr das Treppensteigen schwer fiel und ihr Mann einmal sagte, sie solle doch nicht immer so schlurfend gehen. Seit einiger Zeit bemerkte Frau E. zudem, dass längeres Fernsehen sie anstrengte und sie manchmal die Dinge doppelt sah. Ein Termin beim Augenarzt war schon vereinbart, als nun erste Lähmungserscheinungen im Bereich der Mimik auftraten.
Frau E. wurde bei Verdacht auf eine systemische Muskelerkrankung in eine neurologische Klinik aufgenommen.
Beobachtung und Untersuchung
Störungen des Bewegungsablaufs sind meist nicht allein durch ihr Erscheinungsbild einem eindeutigen Krankheitsbild zuzuordnen. In jedem Fall muss eingehend geklärt werden, wann erstmals Auffälligkeiten aufgetreten sind und wie sich diese genau geäußert haben. Das Muster der sich rasch verschlechternden Muskelausfälle bei Frau E. im Bereich der mimischen und der Kaumuskulatur, der Augenmuskeln und der Beine ließ bald an eine Myasthenia gravis denken. Denn v. a. junge Frauen um die 30 sind von dieser Autoimmunkrankheit betroffen. Bei der Untersuchung fand sich eine im Vergleich zur Muskulatur von Armen, Schultern und Rumpf deutliche Hypotrophie der Muskeln der Oberschenkel. Die Elektromyografie ergab eine pathologisch beschleunigte Ermüdung der Muskeln. Zu den weiteren bildgebenden Verfahren, die eingesetzt wurden, gehörten die zerebrale Computertomografie (CT) und die Magnetresonanztomografie (MRT) des Gehirns. Dabei galt es v. a., einen Schlaganfall, zerebrale Blutungen und eine Multiple Sklerose auszuschließen. Durch Laboruntersuchungen auf Entzündungszeichen und zum Nachweis von Antikörpern bei Immunreaktionen ließ sich die Diagnose Myasthenia gravis rasch sichern. Im Blut konnten die auslösenden Antikörper dieser ursächlich ungeklärten Autoimmunkrankheit nachgewiesen werden. Die Antikörper richten sich gegen die Rezeptoren (für Azetylcholin) an der motorischen Endplatte, jener Synapse, die den Impuls der zentralnervösen motorischen Erregung auf den Muskel überträgt. An dieser Autoimmunreaktion ist der Thymus beteiligt, wobei die auslösenden Faktoren nicht geklärt sind. Infektionen, aber auch chronischer Schlafmangel können eine Rolle spielen. Im Fall der Patientin konnten keine eindeutigen Entstehungsfaktoren nachgewiesen werden.
Hintergründe und weitere Diagnostik
Bewegungsstörungen können sich an allen Muskeln isoliert zeigen, betreffen aber meist zusammengehörende Muskelgruppen. Ursachen können zentralnervöse Störungen, aber auch Erkrankungen der Gelenke, der Muskeln oder der peripheren Nerven sein. Besteht eine Bewegungs- oder Gangstörung, sollten zunächst grundlegende anamnestische Fragen geklärt werden (s. Algorithmus S. 17).
Zentralnervöse Ursachen
Degenerative Erkrankungen des ZNS gehen immer mit einer veränderten, eingeschränkten Beweglichkeit und oft mit der Entwicklung einer Demenz einher. Ein typisches Beispiel hierfür ist Morbus Alzheimer. Bewegungsstörungen entstehen auch immer dann, wenn das Zusammenspiel von Gleichgewicht und optischen Informationen an die Sinneszentren und das Kleinhirn gestört ist, oder bei Erkrankungen der Rückenmarksbahnen. Tremor, Hypo- oder Akinese und Rigor (Tab. 1) weisen auf einen Morbus Parkinson hin. Häufig werden Schmerzen in den Extremitäten als Frühsymptom beobachtet, die auf degenerative Veränderungen der Wirbelsäule zurückgeführt werden. Das charakteristische Vollbild der Erkrankung entwickelt sich zunächst langsam. Eine unruhige Mimik mit blitzartig einschießenden Hyperkinesien entwickelt sich häufig zur Chorea Huntington. Die insgesamt verlangsamten Bewegungen mit Sprachstörungen und allgemeiner Unruhe können eine Demenz vortäuschen. Beim Tourette-Syndrom treten tic-artige Zuckungen im Gesicht auf, die oft mit unkontrollierten, zwanghaften zotigen Äußerungen verbunden sind. Immer sind auch psychogene Gangstörungen auszuschließen.
Skelett- oder Gelenkerkrankungen
Häufig sind degenerative Veränderungen der Gelenke Ursache von Bewegungsstörungen, die unter Belastung zunehmend mit Schmerzen einhergehen und bei Ruhe oder nachts – im Gegensatz zur entzündlichen Arthritis – abklingen. Bei klinisch erkennbaren Arthrosen lässt sich bei Bewegung des Gelenks ein Knirschen und Reiben des zerstörten Knorpels fühlen. Fortschreitende Arthrosen führen zur Gelenkfehlstellung (Arthrosis deformans). Verbreitete Arthrosen sind die des Hüftgelenks (Coxarthrose) und die des Kniegelenks (Gonarthrose). Als auslösende Faktoren kommen mehrere Krankheiten in Betracht:
- Immunkrankheiten, z. B. rheumatoide Arthritis (chronische Polyarthritis), Arthritis bei Kollagenosen (beispielsweise Psoriasis-Arthritis),
- Stoffwechselstörungen, z. B. Gicht, Diabetes mellitus,
- Vitaminmangel, z. B. Mangel an Vitamin C (subperiostale Blutungen), Osteomalazie bei Mangel an aktivem „Hormon Vitamin D“ (Störung der Aktivierung von Vitamin D bei chronischer Niereninsuffizienz),
- hormonelle Erkrankungen, Hyperparathyreoidismus, Hypothyreose oder Cushing-Syndrom (Überfunktion der Nebennierenrinde oder über längere Zeit hoch dosierte Kortisontherapie),
- Durchblutungsstörungen mit aseptischen Knochennekrosen.
Tab. 1: Bewegungsstörungen
Ataxie | Störung der Bewegungskoordination durch Erkrankungen des Rückenmarks oder des Kleinhirns (Cerebellum) |
Akinese und Hypokinese | Gestörter Ablauf natürlicher, harmonischer Bewegungen. Der Patient muss immer wieder zu gewollten Bewegungen ansetzen, wobei diese verlangsamt ablaufen und erst verzögert beginnen. Charakteristisch für Morbus Parkinson |
Chorea | Griechisch für „Tanz“; umschreibt verschiedene unwillkürliche Bewegungen, die der Patient nicht unterdrücken kann. Typisches Beispiel: Chorea Huntington (Veitstanz) |
Dystonie | Unwillkürliche, länger anhaltende Muskelkrämpfe |
Faszikulationen | Unkontrollierte, plötzliche Muskelkontraktionen, v. a. bei Erkrankungen der motorischen Vorderhornzellen (bei spinaler Muskelatrophie) |
Lähmung (Parese): | Funktionsausfall eines Muskels mit sehr unterschiedlicher Ursache. Der vollständige Funktionsausfall wird auch als Paralyse oder Plegie bezeichnet (Abb. 1). |
zentrale Lähmung | Erhöhte Eigen- und abgeschwächte Fremdreflexe, Auftreten einer Hemiparese oder Spastik von Muskelgruppen und/oder pathologischer Reflexe wie Babinski-Zeichen |
periphere Lähmung | Abgeschwächte Reflexe, herabgesetzter Muskeltonus, typisches radikuläres Verteilungsmuster, häufige Faszikulationen, Muskelatrophie innerhalb weniger Wochen |
Myoklonie | Rasch einsetzende, unwillkürliche Muskelzuckungen, ausgelöst durch bestimmte Bewegungen oder äußere Reize, z. B. auch die natürlichen Zuckungen vor dem Einschlafen |
Rigor | Erhöhter Dehnungswiderstand bei hohem Muskeltonus, der bei passiver Dehnung rhythmisch unterbrochen wird (Zahnradphänomen). Neben Tremor und Hypokinese gilt der Rigor als Leitmerkmal des Morbus Parkinson |
Spastik | Erhöhter Muskeltonus mit eingeschränkter Beweglichkeit bei zentraler Lähmung, z. B. nach Schlaganfall. Betroffen sind v. a. Muskelgruppen, die besonders gegen die Schwerkraft wirken müssen. |
Tremor | Unwillkürliches Zittern, das in Ruhe oder bei zielgerichteten Bewegungen (Intentionstremor) auftritt. |
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