Gustav Mahler – ein Lebensbild
Gustav Mahler wurde am 7. Juli 1860 in Kalischt, einem Dorf im abseits gelegenen Grenzgebiet zwischen Böhmen und Mähren, geboren. Seine Eltern, Bernhard und Marie Mahler, gehörten dem jüdischen Kleinbürgertum an und suchten sich beharrlich in den Kaufmannsstand emporzuarbeiten. Das Streben nach einer höheren gesellschaftlichen Stellung war für dieses Kleinbürgertum insofern von besonderer Bedeutung, als es, mitten unter Deutschen und Tschechen lebend und doch von ihnen wie durch eine unsichtbare, aber nicht durchlässige Wand getrennt, allen möglichen Vorurteilen und Diffamierungen ausgesetzt war. Wie empfindlich der Sohn Gustav noch im reifen Alter mit den Umständen seiner Herkunft umging, zeigt ein Brief an Richard Specht, einen Wiener Kritiker und Musikschriftsteller, der 1905 die erste Biographie Mahlers veröffentlichte: »Die ›Schank‹ (die Sie meinen Eltern vindizieren) scheint mir eine etwas triviale Spezifizierung. Ich glaube, daß der Kaufmannsstand meinen Vater zur Genüge bezeichnet« (Briefe, S. 295).
Die »Assimilation« war den Juden in den westlichen Teilen des habsburgischen Vielvölkerstaates eher möglich als den in gleichsam nationaler Abgrenzung lebenden jüdischen Schichten im Osten des Riesenreiches. Und als sich nach 1860, vor allem infolge des verlorenen Italien-Krieges von 1859, die habsburgische Regierung zu liberalen Zugeständnissen gezwungen sah, durch welche das wirtschaftlich immer stärker werdende Bürgertum beschwichtigt werden sollte, siedelte die Familie Mahler (im Dezember 1860) in die Handels- und Industriestadt Iglau (Jihlava) über. Hier wohnten in der Mehrheit Deutsche. Mahler besuchte das Gymnasium, ohne sich jedoch durch besonderen Lerneifer oder Aufgeschlossenheit auszuzeichnen. Dagegen fühlte er sich bald zur Musik hingezogen, zu den Liedern und Tänzen der tschechischen Bevölkerung und zu den merkwürdig aufreizenden Märschen des in der Nähe einquartierten österreichischen Militärs. Die Spuren dieser Erlebnisse sollten sich im gesamten späteren Schaffen Mahlers nicht mehr verlieren: Klänge und Wendungen aus der Volks- und Militärmusik gehören zum Fundus seiner Ausdruckswelt, der Lieder wie der Sinfonien.
In Iglau erhält Mahler ersten Musikunterricht. Im Klavierspiel muß er bald beachtliche Fähigkeiten erworben haben, denn bereits mit zehn Jahren tritt er erstmals öffentlich auf. Der Rezensent des Lokalblattes geht mehr als freundlich auf dieses Ereignis ein, und der Vater wittert im Erfolg des Sohnes eine Gelegenheit, Lohn und Ansehen auf einem Gebiet zu erlangen, dem die Familie aus Neigung ohnehin zugetan war. 1871 schickt man Mahler nach Prag, um ihm neben dem Gymnasialunterricht eine bessere musikalische Ausbildung zu ermöglichen. Doch dieser Schritt auf dem Weg zum »Wunderkind« geht fehl: mehr als mangelhafte schulische Leistungen und eine bedrückende Atmosphäre im Haus der Wirtsleute veranlassen den Vater, seinen Sohn wieder nach Iglau zurückzuholen. Die Sommerferien der folgenden Jahre verbringt Mahler stets auf dem Land, als Gast auf verschiedenen Gutshöfen. 1875 begegnet er im böhmischen Moravan dem Gutsverwalter Gustav Schwarz, der selbst ein leidenschaftlicher Musikfreund ist. Beeindruckt von den pianistischen Fähigkeiten des jungen Mannes, sorgt Schwarz mit Zustimmung des Vaters dafür, daß Mahler noch im September das Studium am berühmten Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien aufnimmt.
In jenen Jahren ist Wien nicht nur die Hauptstadt eines weiträumigen Reiches, sondern längst auch ein europäisches Zentrum der Kultur, vor allem der Musik und des Theaters. Aber die Stadt wurde zugleich und immer stärker ein Hort des Konservatismus, in den politisch-sozialen Bereichen wie in der Kultur. Mahler lernte nun das klassische Repertoire der Oper, des Konzerts und des Theaters in Aufführungen kennen, deren Niveau im damaligen Europa als unvergleichlich galt. Doch dieses Niveau verband sich eben nicht selten mit der Abwehr neuer Strömungen in der Kunst, die, wie etwa der Naturalismus oder der Impressionismus, von anderen Zentren, von Berlin und Paris, ausgingen, und die in Wien in der Tat kaum ein Echo fanden. Indem hier die Klassik – Mozart, Beethoven, Weber, Rossini, Goethe, Schiller, Grillparzer – zum Maßstab künstlerischen Schaffens gemacht wurde, drohte es auf einen akademisch verwalteten Klassizismus abzusinken. Im Streit zwischen Wagnerianern und Brahmsianern war in Wien noch bis in die neunziger Jahre hinein die akademische Partei, die sich auf Brahms berief, tonangebend. Doch es fehlten bis dahin noch die jüngeren Kräfte, die dem Konservatismus erfolgreich hätten entgegentreten können. Dies war dann die Sache von Hugo von Hofmannsthal, Peter Altenberg, Hermann Bahr, Gustav Klimt, Josef Hoffmann und – Gustav Mahler.
So erlebte der Student Mahler ein glanzvolles, aber scheinbar hoffnungslos in der Tradition befangenes Wien, das seinen Ruhm aus der aufwendigen Pflege des Erbes bezog, welcher erkauft und damit auch immer gefährdet war durch die Ignoranz gegenüber dem Neuen, Zeitgemäßen und Zukunftsvollen. Darin dürfte vielleicht auch der Grund zu sehen sein, daß Mahler seine frühen Wiener Erlebnisse nahezu verschweigt und auf seine außerhalb des Konservatoriums betriebenen Studien bestenfalls ironisch zu sprechen kommt: »In meinem 17. Jahre die Universität in Wien bezogen und statt der Vorlesungen (philos. Fac.) – den Wiener Wald fleißig besucht« (Briefe, S. 182).
Mahler studiert Klavierspiel und Komposition, Dirigieren ist noch kein selbständiges Unterrichtsfach. Mit verschiedenen Persönlichkeiten, berühmten oder nachmals berühmten, kommt er in Kontakt, zu einigen entwickeln sich freundschaftliche Beziehungen: zu Anton Bruckner und Hugo Wolf, zu dem Musikwissenschaftler Guido Adler oder zu dem exzentrischen Dichter Siegfried Lipiner. Zwar sind uns einige Einzelheiten aus Mahlers Studienjahren bekannt – daß er als Pianist und Komponist einige Male mit Preisen ausgezeichnet wurde; daß er einen Klavierauszug der 3. Sinfonie Anton Bruckners anfertigte und daß er, wie aus dem obigen Zitat hervorgeht, ab Herbst 1877 an der Universität Vorlesungen in Philosophie und Musikgeschichte hörte. Doch vom Eigentlichen, den Kompositionen, wissen wir nur wenig. Mahler hat sie fast sämtlich vernichtet. Nachweislich hat er Lieder, eine Violinsonate, ein Klavierquartett und -quintett und zumindest eine Sinfonie geschrieben sowie sich mit verschiedenen Opernplänen beschäftigt. Allerdings wurde noch während der Studienzeit sein »opus 1«, die Kantate Das klagende Lied, begonnen.
Nachdem Mahler im Sommer 1878 das Konservatorium mit glänzenden Abschlußzeugnissen verlassen hatte, beabsichtigte er, sich ganz der Komposition zu widmen und seinen Lebensunterhalt zunächst noch durch privaten Musikunterricht zu bestreiten. Es scheint, daß er in diesen Monaten nicht daran dachte, die Kapellmeisterlaufbahn einzuschlagen – er fühlte sich zum Komponisten berufen. Doch der subjektive Anspruch des Zwanzigjährigen gerät in Konflikt mit den bescheidenen Lebensumständen, so daß er gezwungen ist, im Mai 1880 einen »General-Revers« zu unterschreiben, der dem Wiener Theateragenten Gustav Lewy für fünf Jahre »die ausschließliche Vertretung meiner sämmtlichen theatralischen Angelegenheiten« (Blaukopf/Roman, S. 158) überträgt. Bereits für den Sommer erhält Mahler durch Lewy ein erstes Engagement. Als »Kurkapellmeister« im oberösterreichischen Bad Hall hat er drei- bis viermal wöchentlich Possen, Operetten und auch Konzerte zu dirigieren. Die mehr als bescheidene Leistungsfähigkeit der Musiker und die auf Mahler gewiß grotesk wirkenden Umstände einer »Kurunterhaltung«, der er zu dienen hatte, ließen ihn nach Ablauf der Verpflichtung fluchtartig nach Wien zurückkehren. Das deprimierende Sommererlebnis aber stärkte seine Überzeugung, nur als Komponist einen angemessenen Wirkungskreis zu finden. Und so bewarb sich Mahler im November 1880 mit dem Klagenden Lied um den Beethoven-Preis der Gesellschaft der Musikfreunde, von dessen Verleihung er sich den entscheidenden Durchbruch als Komponist versprach. Doch die Jury, der neben Josef Hellmesberger und Karl Goldmark auch Johannes Brahms angehörte, lehnte die Kantate ab, und es scheint, daß diese Enttäuschung wesentlich zu Mahlers Entschluß beigetragen hat, seine künstlerische Zukunft zumindest für die nächsten Jahre nun doch an die Kapellmeisterlaufbahn zu binden.
Im September 1881 geht er an das »Landschaftliche Theater« in Laibach (Ljubljana), wo er erstmals auch Opern zu leiten hat: Mozarts Zauberflöte, Webers Freischütz, Rossinis Barbier von Sevilla, Verdis Troubadour, Gounods Margarethe und andere sowie auch eine Reihe von Operetten. Zweifellos waren die künstlerischen Verhältnisse in Laibach gegenüber Bad Hall entschieden besser. Mahler verfügte immerhin über zwölf Solisten, einen Chor und ein Orchester, dem allerdings nur achtzehn Musiker angehörten. Der Schlußsatz in einer Rezension von Mahlers Debüt am 26. September mit dem...