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Gute Hirten führen sanft

Über Menschenregierungskünste

AutorUlrich Bröckling
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl425 Seiten
ISBN9783518751442
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR

Die Soziologie der Menschenregierungskünste beobachtet Gesellschaft als Arrangement von Selbst- und Fremdführungsstrategien. In seinem neuen Buch analysiert Ulrich Bröckling übergreifende Handlungsorientierungen wie Planung, Prävention und Resilienz, Verfahren der Konfliktbearbeitung, kommunikative Technologien, Programme der Kontraktpädagogik sowie Konzepte subtiler Verhaltenslenkung, wie sie etwa unter dem Label des »Nudging« propagiert werden. Auf Krisen sozialer Integration reagieren diese Methoden mit der Stärkung ihrer Selbststeuerungspotenziale. Statt auf Zwang oder Strafmaßnahmen setzen sie auf Kontextsteuerung und kybernetische Rückkopplungsschleifen.



<p>Ulrich Bröckling ist Professor für Kultursoziologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.</p>

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Leseprobe

7Vorwort


Aufsatzsammlungen sind Bestandssicherungen. Sie führen Verstreutes zusammen und machen schwer Erreichbares zugänglich. Im guten Fall ergänzen und kommentieren die Beiträge einander und lassen Verbindungslinien hervortreten, die sonst verborgen geblieben wären. Statt sich in bloßer Addition zu erschöpfen oder mit Syntheseansprüchen zu überfordern, schaffen sie Konstellationen. Dazu bedarf es freilich konvergierender Frageperspektiven.

Die hier zusammengestellten Aufsätze treffen sich in ihrer Ausrichtung auf eine Soziologie der Menschenregierungskünste. Den – von Michel Foucault übernommenen – Terminus der Menschenregierungskünste wird man in Fachlexika vergeblich suchen; es handelt sich weder um einen eingeführten Schlüsselbegriff soziologischer Theorie noch um einen vertrauten Gegenstandsbereich soziologischer Forschung. Die Sache selbst ist der Soziologie jedoch alles andere als fremd: Die Menschenregierungskünste grenzen sowohl an das an, was in der soziologischen Tradition seit Max Weber als Lebensführung gefasst wird, wie auch an das, was in den angewandten Sozialwissenschaften Social Engineering heißt. Während Weber jedoch Lebensführung auf ihre ethische Dimension engführt und sich vor allem für die Relationen zwischen ursprünglich religiösen Normen, individuellen Handlungsorientierungen und gesellschaftlichen Ordnungsgefügen interessiert, fragt die Soziologie der Menschenregierungskünste nach den Machtverhältnissen, die sich in den disparaten Arrangements der Fremd- und Selbstführung realisieren. Im Unterschied zu den Sozialingenieuren wiederum geht es ihr nicht darum, individuelle Handlungsmuster und organisationale Abläufe zu optimieren oder gesellschaftliche Friktionen abzubauen. Ihr Einsatz ist kritisch: Statt Programme des guten Regierens auszubuchstabieren, untersucht sie, über welche Rechtfertigungsordnungen und Plausibilisierungsstrategien sich diese Programme legitimieren, auf welche Wissensformationen sie sich stützen und welche Wahrheitsansprüche sie geltend machen. Der Begriff des Regierens meint in diesem Kontext mehr und anderes als das Tätigkeitsfeld staatlicher Administrationen. Er wird in der weiten Bedeutung verwendet, den er in der frühen Neuzeit hatte 8und der im französischen Wort gouverner noch deutlicher anklingt: Regieren bezieht sich auf das planvolle Einwirken auf das Verhalten anderer und das eigene Verhalten, anders ausgedrückt, auf »die Gesamtheit von Prozeduren, Techniken, Methoden, welche die Lenkung der Menschen untereinander gewährleisten«.[1] Regiert werden neben dem politischen Gemeinwesen auch Seelen, Kinder, Arbeitslose, Kranke, Familien, Haushalte, Unternehmen und Ökosysteme, regiert werden nicht zuletzt die Einzelnen durch sich selbst. Von organisationssoziologischen Zugängen oder Policy-Analysen hebt sich die Soziologie der Menschenregierungskünste dadurch ab, dass es ihr weniger darum zu tun ist, wie tatsächlich in dieser oder jener Situation regiert wurde. Das Augenmerk richtet sich vielmehr auf die Kunst des Regierens, »d. h. die reflektierte Weise, wie man am besten regiert, und zugleich auch das Nachdenken über die bestmögliche Regierungsweise«.[2] Rekonstruiert werden Grammatiken der Selbst- und Fremdführung, nicht subjektive Sinnwelten, Verhaltensroutinen oder Verschiebungen in der Sozialstruktur.

Die Mehrzahl der hier zusammengestellten Texte widmet sich zeitgenössischen Dispositiven der Menschenführung. In einigen Fällen wird ihre Untersuchung durch Kontrastierung mit historischen Dispositiven erweitert. Analysiert werden übergreifende Handlungsorientierungen wie Planung, Prävention und Resilienz, Verfahren der Konfliktbearbeitung wie Mediation, kommunikative Basistechnologien wie das Feedback, Programme der Kontraktpädagogik oder Strategien subtiler Verhaltenslenkung, wie sie unter dem Label eines Libertären Paternalismus propagiert werden. Andere Aufsätze beschäftigen sich mit ökonomischen Modellen der Rationalisierung des menschlichen Lebens, wettbewerblichen Steuerungsmechanismen sowie Therapiekonzepten, welche die subjektiven Folgen eines radikalisierten Wettbewerbs abfedern sollen. Gemeinsam ist diese Modellen, Mechanismen und Konzepten die Ausrichtung auf eine »Verwissenschaftlichung des Sozialen«:[3] 9Sie transformieren alltägliche Praktiken und Kommunikationsformen, etwa der Vorsorge für die Zukunft (Planung, Prävention, Resilienz), des Schlichtens von Konflikten (Mediation, Familienkonferenz), der Verständigung und Evaluation (Feedback), der Peer-Bindungen (militärische Kleingruppenforschung) oder der Verhaltenssteuerung durch Anreizsysteme (Nudging) in methodisch angeleitete, von eigens dafür ausgebildeten Experten betriebene, systematisch beforschte und institutionell abgestützte Sozial- und Selbsttechnologien. Auf als dysfunktional erfahrene Störungen und Krisen sozialer Integration oder extreme Belastungssituationen reagieren sie durch die Stärkung von Selbststeuerungspotenzialen. Mittels gezielter Eingriffe von außen versuchen sie Individuen, einzelne gesellschaftliche Gruppen oder ganze Populationen in die Lage zu versetzen, ihre Belange selbständig und eigenverantwortlich zu regeln. So zielen Programme präventiver Risikominderung ebenso wie Mediationsverfahren oder die verhaltensökonomische Modellierung von Entscheidungsalternativen auf ein Höchstmaß an Freiheit und sorgen sich im gleichen Maße um deren rechten Gebrauch. Anstelle von Zwangsmechanismen oder Strategien des Überwachens und Strafens setzen sie auf Kontextsteuerung und kybernetische Rückkopplungsschleifen.

Das Augenmerk richtet sich – der Titel des Bandes deutet es an – vor allem auf »sanfte« Selbst- und Sozialtechnologien, die über freiwillige Mitwirkung, personale Bindungen, den zwanglosen Zwang des besseren Arguments oder ökonomische Anreize operieren. Dieser Fokus impliziert keineswegs die Annahme, dass die Integration zeitgenössischer Gesellschaften weitgehend ohne Zwang und Gewalt auskäme. Im Gegenteil. Anders allerdings als repressive Strategien und Programme, deren Untersuchung eine lange Tradition etwa im Rahmen der Soziologie sozialer Kontrolle besitzt, haben partizipative und konsensorientierte Integrationsregime bislang deutlich weniger Aufmerksamkeit erfahren und sind insbesondere kaum im Hinblick auf die in ihnen wirksamen Machtmechanismen untersucht worden.

Die hier versammelten Aufsätze analysieren die ausgewählten Strategien und Programme der Fremd- und Selbstführung entlang von drei Achsen: Sie präparieren erstens ihre Problemdefinitionen, die unterstellten Wirkmechanismen, Ziele und Versprechen (Rationalitäten) heraus, zweitens die zur Verhaltenslenkung in Anschlag 10gebrachten Verfahrensweisen und Regeln (Technologien) und drittens die damit verbundenen Adressierungen und Zurichtungen der Subjekte sowie die diesen zugrunde liegenden Anthropologien (Subjektivierungsweisen). Die Grundlage meiner Einzelanalysen bilden Programmschriften, Handbücher und Arbeitsmanuale sowie psychologische, pädagogische und sozialwissenschaftliche Studien, die theoretische Begründungen für die unterschiedlichen gouvernementalen Strategien liefern, ihre Relevanz und die Dringlichkeit ihrer Implementierung betonen und vor allem praktische Hinweise zu ihrer Umsetzung geben. Mein methodisches Vorgehen ist diskursanalytisch, allerdings handelt es sich bei den untersuchten Textkorpora um Diskursstränge, die unmittelbar auf die Veränderung individueller wie kollektiver Handlungsmuster abzielen und zu diesem Zweck detailliert soziale Praktiken beschreiben und auf diese einwirken sollen. Nicht die Ordnungen des Sagbaren stehen also im Vordergrund, sondern die intendierten Transformationen des Verhaltens. Im Unterschied zu den meisten praxistheoretischen Zugängen richtet sich der Fokus jedoch nicht darauf, welchen Regeln und Regelmäßigkeiten die Menschen in ihrem Verhalten tatsächlich folgen (und welche Regelwidrigkeiten und Unregelmäßigkeiten sich dabei fortlaufend ereignen). Vielmehr frage ich danach, welche Begründungen dafür angeführt werden, dass die Menschen sich in bestimmter Weise verhalten sollen, welche Techniken sie dazu in die Lage versetzen sollen, aber auch, welche Überforderungen, Exklusionsmechanismen und Schuldzuschreibungen den Strategien und Programmen eingeschrieben sind.

Flankiert werden die Einzelstudien auf der einen Seite von zwei Aufsätzen, welche die Perspektive einer Soziologie der Menschenregierungskünste theoretisch explizieren: Der erste greift den Titel des Bandes auf und zeichnet nach, in welchem Maße das Nachdenken über Menschenführung auf die Bilderwelt vom Hirten und seiner Herde zurückgreift und welche Aspekte dieses Metaphernfelds jeweils aktualisiert werden. Der zweite Aufsatz skizziert das Forschungsprogramm einer Problematisierung der Menschenregierungskünste als soziologische Antwort auf anthropologische Fragen. Auf der anderen Seite stehen einige kürzere Beiträge, die das Verhältnis von Soziologie und Kritik ausloten und fragen, welche Formen des Gegen-Verhaltens die Regime der Verhaltensführung provozieren. Sie beschließen den Band.

11Die meisten der hier versammelten Arbeiten wurden bereits an anderer Stelle veröffentlicht. Für diese Neupublikation wurden sämtliche Beiträge überarbeitet und erweitert. Für sorgfältige Lektüre und Kommentierung einzelner Aufsätze danke ich Martin Bauer, Christian Dries, Justus Heck, Stefan Kaufmann, Susanne Krasmann, Matthias Leanza, Tobias Schlechtriemen, Doris Schweitzer, Martial Staub, Barbara Wewel sowie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern meines Forschungskolloquiums. Wibke Liebhart hat das gesamte Manuskript vor der...

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