232. Soziale Ungleichheit
Das Museum im Neandertal zeigt am Ende der Ausstellung ein nacktes Baby, das im Zentrum seiner Familie liegt. Das Baby ist von Schattenrissen umgeben, auf deren Vorderseite die Familie der Neandertaler und auf deren Rückseite vergleichbare Verwandte heute abgebildet sind. Der Vergleich soll zeigen, dass es in der Frühgeschichte der Menschheit Familien gab, die den heutigen ähneln. Ob das richtig ist, sei dahingestellt. Man kann jedoch vermuten, dass Kinder damals wie heute mehr Aufmerksamkeit erfuhren als in manch anderen Zeitaltern der Geschichte. Wer mit 20 bis 25 Verwandten alleine in einer menschenleeren Wildnis lebt, wird jedes einzelne Kind wichtig finden. Wahrscheinlich ist außerdem, dass Rollenverteilungen flexibel waren, weil in einer Kleinstgruppe alle auf wechselseitige Hilfe angewiesen sind. Man kann sich schlecht vorstellen, dass eine junge Frau, die gut sehen konnte, am Feuer sitzen blieb, um einem kurzsichtigen Mann das Jagen zu überlassen. Solche Projektionen in die Frühzeit faszinieren das Publikum. Und da historische und interkulturelle Vergleiche zeigen, dass es im Familienleben nichts gibt, was es nicht gibt, sind diese Vermutungen ebenso plausibel wie ihr Gegenteil.
Für die Ungleichheitssoziologie funktioniert ein solcher historischer Vergleich nicht. Sie interessiert sich für die objektiven Handlungsbedingungen, die Menschen vorfinden (vgl. Hradil 1987; Schwinn 2004), die ihnen Chancen bieten, ihre Lebensziele zu verwirklichen (Sen 1985), und die sie zugleich einschränken (Bourdieu 1987; Giddens 1995a). Die Handlungsbedingungen heutiger Menschen sind nicht nur deutlich anders als die der Neandertaler. Sie werden auch durch differenziertere soziale Formationen hervorgebracht. Zum Beispiel ist das Baby, das heute geboren wird, nicht nur Kind einer (Patchwork-)Familie, sondern auch Staatsbürger. Es wird nicht nur in einen Clan, sondern in eine Vielzahl sozial differenzierter Teilsysteme der Gesellschaft hinein sozialisiert – was sich z. B. zeigt, wenn die Großeltern schon nach wenigen Tagen das erste Sparbuch eröffnen oder wenn die Großmutter das Baby in einem ehemaligen »Homeland« am Rande Südafrikas betreut, während die Mutter bei einer weißen Familie in Kapstadt als Dienst24mädchen arbeitet. Eine Gemeinsamkeit ist vielleicht, dass sich das heutige Kind ebenso wie das damalige nicht aussuchen kann, in welche Verhältnisse es hineingeboren wurde. Aber auch hier endet der Vergleich schnell, denn die Lebensbedingungen der Neandertaler waren primär von natürlichen Umständen wie dem Wetter, der Fruchtbarkeit ihrer Umwelt und der Gesundheit der Familienmitglieder geprägt, während heutige Ungleichheiten weniger auf eine objektive Knappheit verfügbarer Ressourcen als vielmehr auf deren sozial institutionalisierte ungleiche Verteilung zurückgehen.
Wir können nicht ausschließen, dass das Kind der Neandertaler auf seinen Onkel neidisch war, weil dieser gut jagen konnte und das beste Essen bekam. Wahrscheinlicher ist, dass es froh war, einen solchen Onkel zu haben, denn mit einem guten Jäger in der Familie hatten alle mehr zu essen. Anthropologische Arbeiten über Jäger und Sammler zeigen, dass Verteilung in diesen Gesellschaften egalitären Prinzipien folgte (Binmore 2006, S. 6 f., FN 2), während sich komplexe Strukturen sozialer Ungleichheit mit einer größeren Zahl von Menschen und dem Ackerbau entwickelten. Im europäischen Mittelalter wurden Kinder als Bauern, Mägde, Diebe oder auch Fürsten geboren, und dann blieb es trotz einzelner Aufstiege (Herlihy 1973) meist dabei. Da Ungleichheit gottgegeben erschien, waren eine übergreifende Solidarität und abstrakte Überlegungen, dass alle Menschen gleichgestellt sein sollten, abwegig.[1]
Erst im Übergang zur Moderne hat sich dann wieder ein Anspruch auf Solidarität entwickelt, der nicht zwischen Ständen unterscheidet, sondern alle Menschen, die in einer Welt leben, umfasst. Mit dem wichtigen Unterschied, dass die eine Welt nicht aus 25 Menschen, sondern aus einer großen und heterogenen Masse besteht, die als »Nation« von Gleichen imaginiert wird. Mit dem Aufstieg des Bürgertums und den nationalen und liberalen Revolutionen entstanden abstrakte und breit geteilte Gleichheitsideale, denen zufolge alle Bürger eines Gemeinwesens[2] gleiche Rechte ha25ben und über genügend Geld und Bildung verfügen sollten, damit sie politisch mitwirken können (Marshall 1950). Das war die Geburtsstunde der Soziologie sozialer Ungleichheit, denn man muss an die Gleichheit von Menschen glauben, um mittels empirischer Forschung zwischen ihnen zu vergleichen.
Die Soziologie sozialer Ungleichheit bestätigt das Argument der politischen Theorie, dass kollektiv bindende Entscheidungen nur dann getroffen und legitimiert werden können, wenn sich Bürger (und Bürgerinnen) als Gleiche gegenübertreten. Damit ist sie ein Kind unserer Zeit, und sie ist eng an die Institution des nationalen Wohlfahrtsstaats geknüpft. Außerdem richtet sie ihr Augenmerk auf sozial verursachte Ungleichheiten, in der Annahme, dass diese von staatlichen Institutionen verändert und an ein wie auch immer formuliertes Gleichheitsideal angenähert werden können (Berger und Schmidt 2004). Dabei übernimmt sie die Janusköpfigkeit der Institution Nationalstaat, denn der Nationalstaat ermöglicht zwar in seinem Inneren Solidarität unter Gleichen (Nussbaum 2008), ist aber nach außen scharf abgegrenzt. Die Soziologie analysiert Ungleichheit zwischen Bürgern und das mit Hilfe von Daten, die in und vom Nationalstaat gesammelt werden. Bisher hat sie wenig Aufwand betrieben, um veränderten Gleichheitsidealen in Zeiten der Globalisierung gerecht zu werden.
Dieses Kapitel führt in zentrale Debatten der Soziologie sozialer Ungleichheit ein. Die großen Theorien der Ungleichheitssoziologie stellen eine institutionelle Sphäre – meist die Ökonomie – ins Zentrum, und sie leiten soziale Ungleichheit insgesamt von diesem einen »Hauptwiderspruch« ab (2.1). Damit orientieren sie sich an Marx, der annahm, dass Ungleichheiten durch die Produktionsweise hervorgebracht würden und dass die Stellung einer Person im Produktionsprozess ausschlaggebend für deren Lebenschancen sei.
Die Marxsche Klassentheorie ist ein zentraler Bezugspunkt ungleichheitssoziologischen Denkens, und Marx setzt sich intensiver als spätere Autoren mit der Möglichkeit einer grenzüberschreitenden Klassenbildung auseinander (vgl. Marx und Engels 1969 [1848]-a, S. 60-1). Die soziologische Diskussion nach Marx zeigt 26allerdings, dass die Identifikation einer Ursache nicht ausreichend ist, um die Mehrzahl der Ungleichheiten und der ungleichheitsgenerierenden sozialen Prozesse zu erfassen. Wenn man akzeptiert, dass es verschiedene Dimensionen sozialer Ungleichheit gibt, die nicht alle auf einen Nenner gebracht werden können, steht man vor der zweiten und der dritten Frage, die in diesem Kapitel behandelt werden: Welche Differenzen sollten eigentlich als Ungleichheiten beschrieben werden? Oder etwas anders gewendet: Wie sollte Gerechtigkeit verstanden werden (2.2)? Heben sich die verschiedenen Ungleichheiten wechselseitig auf, oder verdichten sie sich zu sozialen Strukturen und »Klassen« (2.3)?
Die meisten Antworten auf diese Fragen sind in ihrer Geltung eingeschränkt, weil sie die Gesellschaftstheorie im Allgemeinen und das Problem sozialer Ungleichheit im Besonderen nur im Rahmen des Nationalstaates denken. Das eigentliche Anliegen dieses Buches ist es daher, Theorien zu nutzen, die für die Frage nach Ungleichheit in Zeiten der Globalisierung Anknüpfungspunkte bieten (2.4).
2.1 Erklärungen für soziale Ungleichheiten
Von Ungleichheit konnte erst die Rede sein, als Unterschiede nicht mehr als gottgegeben oder natürlich wahrgenommen wurden, sondern als sozial verursacht. Damit entwickelte sich dann auch die Frage, welche sozialen Institutionen durch welche sozialen Prozesse Ungleichheiten hervorbringen. Als Materialist ging Marx davon aus, dass die gesellschaftliche Arbeitsteilung der vorherrschenden Produktionsweise auf einer historischen Entwicklungsstufe entspricht (Marx und Engels 1969 [1848]-a). Zum Beispiel bringt die ackerbauende Produktionsweise den Feudalismus mit der Unterscheidung zwischen (adeligen) Grundbesitzern und Leibeigenen hervor. Nachdem sich Städte als Orte spezialisierter Tätigkeiten in Handel und Industrie vom Land differenziert hatten, entstand eine weitere Form der Arbeitsteilung zwischen den in Zünften organisierten Handwerkern und dem städtischen Pöbel. Mit der Ausdifferenzierung zwischen Produktion und Verkehr kommt es zusätzlich zur Arbeitsteilung zwischen Handwerk und Kaufleuten (vgl. Marx und Engels 1969 [1848]-a, S. 52).
27Während Marx im historischen Rückblick mehrere Formen der Arbeitsteilung identifiziert, setzt er für die Industrialisierung einen Widerspruch zentral: Auf der einen Seite stehen die Kapitalisten, die über die Produktionsmittel verfügen und sich durch Ausbeutung Mehrwert aneignen können. Auf der anderen Seite steht die Masse der Lohnabhängigen, die auf die Veräußerung ihrer Arbeitskraft angewiesen sind. Mit dieser Begrifflichkeit hat Marx Ausbeutung als zentrale Ursache für sozial verursachte Ungleichheiten im Kapitalismus erkannt. Wenn Tauschbeziehungen so organisiert sind, dass eine Seite die Bedingungen diktiert und sich auf Kosten der anderen Seite bereichert, sind sie ausbeuterisch. Dass Ausbeutung ein wichtiger Mechanismus der Ungleichheitsgenese ist, ist bis heute Konsens (Therborn 2013, S. 57-58), auch wenn sich die...