Jeder, der sich mit Pferden beschäftigt, wird zwangsweise über den Begriff „Gymnastizierung“ stolpern. Aber was bedeutet es eigentlich, ein Pferd zu gymnastizieren?
In den letzten Jahren entwickelte sich glücklicherweise auch bei den „Freizeitreitern“ das Bewusstsein, dass jedes Pferd von der Gymnastizierung profitieren kann. Seitengänge sind schon längst kein Privileg der Dressurreiter mehr. Als Freizeitreiter ist man keinem Wettbewerb ausgesetzt, es existieren keine Regelwerke und Vorschriften. Die Regeln werden allein von den Pferden vorgegeben! Es liegt in der Verantwortung des Menschen, das Pferd so zu gymnastizieren, dass es möglichst bis ins hohe Alter ohne Schmerzen und Schäden am Bewegungsapparat in der Lage ist, einen Reiter auf seinem Rücken zu tragen.
Jede Änderung der Richtung, Geschwindigkeit oder Gangart des Pferdes ist eine Balanceverschiebung. Das heißt: Erst das Spiel mit dem Gleichgewicht ermöglicht es dem Pferd, gewisse Bewegungen auszuführen und dementsprechend zu reagieren.
Ein flüchtendes Pferd wird sein Gewicht in Richtung Schultern verschieben, ein in die Enge getriebenes Pferd setzt sich auf die Hinterhand, um sich blitzartig verteidigen zu können.
Beobachtet man Pferde beim Spiel auf der Weide, so wird man auch hier sehr gut sehen können, wie sie im Wechselspiel zwischen Angriff und Verteidigung ihre Balance verschieben. Mit Leichtigkeit und Lebensfreude trainieren sie Reflexe, Muskeln, Geschicklichkeit und den Gleichgewichtssinn. Im täglichen Spiel gymnastizieren sie sich selbst, um schließlich im (heute rein hypothetischen) Kampf ums Überleben den entscheidenden Vorteil gegenüber den Feinden zu haben oder als Hengst vielleicht doch einmal eine Herde für sich in Anspruch zu nehmen.
Es steckt also in der Natur des Pferdes, sich zu gymnastizieren – beste Voraussetzungen für uns Menschen, dies zu fördern und zu unterstützen.
Aus der Sicht des Pferdes kommt aber noch ein wichtiger Aspekt zum Tragen: Mit Verbesserung der Biegsamkeit, der Muskeltätigkeit und der Tragkraft vollzieht sich beim Pferd auch eine psychische Veränderung. Es wird kräftiger, selbstbewusster und weiß dann auch seine neu gewonnenen Fähigkeiten einzusetzen.
Das selbstbewusste Pferd – es wächst, innerlich wie äußerlich.
Mit jeder Übung werden die Pferde geschmeidiger, das Vertrauen in den eigenen Körper wächst, die Balance wird verbessert und die Tragkraft geschult. Je mehr die Hinterhand gymnastiziert wird, desto mehr verlagert sich das Gleichgewicht in Richtung Hanken. Es findet eine Wechselwirkung zwischen körperlicher und seelischer Verfassung statt: Der Fluchtgedanke wird mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt, weg von den Schultern, das Selbstbewusstsein des Pferdes wächst und wird so zum Schlüsselpunkt der Gymnastizierung aus der Sicht des Pferdes!
Die Dressur hat es sich zur Aufgabe gemacht, natürliche Bewegungen der Pferde zu kultivieren, zu verfeinern und zu entwickeln. So liegt jeder körperlichen Haltung auch eine Emotion zugrunde. Ein Pferd in versammelter Haltung ist in einem anderen psychischen Zustand als ein Pferd, das grasend auf der Weide steht. Der Ausgangspunkt ist also die emotionale Gemütslage des Pferdes, die in der körperlichen Haltung ihren Ausdruck findet.
Ziel und Absicht der Dressurreiter ist die höchste Vollendung der Ausbildung des Pferdes. Ein Sinn für das Pferd entsteht aber nur, wenn es sich durch Freude an der eigenen Bewegung, durch Selbstvertrauen und durch Stolz so präsentieren kann, dass sich diese Bewegungen in Lektionen der Hohen Schule äußern.
Als Freizeitreiter sollte deshalb nicht unbedingt die Dressur, sondern die Gymnastizierung im Vordergrund stehen. Eine Gymnastizierung, die für das Pferd Sinn ergibt, die das Pferd begreift und es als Nebeneffekt dazu befähigt, den Reiter unbeschadet tragen zu können. Aus dieser Sicht heraus ist es ein ziemlich einfacher Weg, sein Pferd zu stärken und zu trainieren. Denn das Pferd „erfühlt“ die Gymnastik, „erfühlt“ das Wachsen seiner Fähigkeiten, beseelt diese Bewegungen mit Emotion, entwickelt den Willen, sich noch mehr zu kräftigen.
Der Mensch hat durch Erfahrung, Beobachtung und Wissenschaft schnell herausgefunden, wie ein Pferd gehen muss, damit es gymnastiziert wird: Biegen, Beugen, Schulterherein, Traversalen und Piaffen sind Begriffe, die der Mensch geschaffen hat, die der Dressurreiter als „Lektion“ versteht. Der Reiter weiß, dass der Körper des Pferdes überhaupt nicht dafür geschaffen ist, eine Last auf seinem Rücken zu tragen: Eine waagerechte Wirbelsäule bietet nicht die beste Voraussetzung, um Last aufzunehmen. Also muss der Mensch einschreiten und dem Pferd helfen. Leider verkommen diese Hilfen oftmals zu mechanischen Zwängen, und der Sinn der Hilfengebung verkehrt sich in sein Gegenteil. Man behindert und stört das Pferd.
Was aber nun, wenn das Pferd die Regeln der Hilfen vorgibt? Da wären zuerst anatomische Voraussetzungen wie Alter, Exterieur, Fehlstellungen, Entwicklungsstand und Bemuskelung. Als Mensch muss man lernen zu sehen und zu entscheiden, was dem Pferd guttut und positiv auf den Körper, auf Muskeln, Gelenke und Sehnen wirkt. Was fällt ihm leicht, wo benötigt es Hilfe? Worauf muss man achten, damit man seinem Pferd nicht schadet?
Der zweite Punkt sind die psychischen Voraussetzungen: Charakter, Stimmung und Erfahrung – kurz: Interieur. Ist es zum Beispiel sinnvoll, ein ängstliches Pferd im Galopp durch das Viereck zu scheuchen?
Wenn das Pferd einen Sinn in der Gymnastizierung sieht, dann wird alles plötzlich ganz einfach! Schulterherein ist dann nicht mehr nur eine Lektion der Klasse M, sondern ein wirksames Mittel zur Stärkung der Hinterhand, zur Entwicklung der Muskulatur und nicht zuletzt ein weiterer Schritt zu einem stolzen, selbstbewussten und bis ins hohe Alter gesunden Pferd. Der Nebeneffekt für den Reiter ist, dass das Pferd so gekräftigt wird, dass es schließlich wirklich in der Lage ist, Gewicht auf seinem Rücken zu tragen: ohne Schmerzen, ohne Dauerschäden, ohne Fluchtgedanken. Freilich kann man dann diese Bewegung kultivieren, verfeinern und bis zur Vollendung entwickeln, aber sie wird niemals zu einer seelenlosen Übung verkommen. Dressurreiten auf der Basis pferdegerechter Gymnastik kann auch zu einem wunderschönen Erlebnis für das Pferd werden.
„Wenn man das Pferd in die Haltung bringt, die es selbst annimmt, wenn es sich das schönste Ansehen geben will, so erreicht man, dass das Pferd des Reitens froh und prächtig, stolz und sehenswert erscheint.“
Dieser oft zitierte Satz stammt vom griechischen Reitmeister Xenophon aus seinem Werk „Über die Reitkunst“. Beschreibt er nicht sehr eindrucksvoll das Wesen der Gymnastizierung? Der Mensch kann dem Pferd helfen, die schönste Haltung einzunehmen. Froh, prächtig und stolz – dahinter stehen Emotionen, die nicht erzwungen werden können. Dazu muss ein Fundament gebaut werden, von dem alles ausgeht. Eine solche Grundlage bietet die Arbeit an der Hand.
Und was bewirkt die Gymnastizierung im Detail? Nun, sie fördert:
• Losgelassenheit,
• Geschmeidigkeit,
• Muskelaufbau,
• Gleichgewicht,
• Körperbewusstsein,
• Selbstvertrauen.
Im Spiel muss man sich die Losgelassenheit nicht erarbeiten – man bekommt sie geschenkt.
Ein großer Vorteil gegenüber dem Reiten ist, dass sich der Mensch bei der Handarbeit im Gesichtsfeld des Pferdes befindet. Allein diese Präsenz gibt dem Pferd schon ein gewisses Maß an Sicherheit und Führung.
Wer kennt nicht dieses Phänomen? Man sitzt auf dem Pferd, und dieses erschreckt sich vor irgendetwas: einem Rascheln, einem ungewöhnlichen Objekt oder in vielen Fällen einem dem Menschen unerklärlichen „Etwas“. Das Pferd weigert sich nun standhaft, weiterzugehen. Bestenfalls bleibt es einfach stehen, im schlechtesten Fall will es umdrehen und davonstürmen.
Versuche, das Pferd mit Stimme, Gerte oder Sporen am Objekt der Angst vorbeizutreiben,
schlagen oft fehl. Sitzt man stattdessen ab und führt das Pferd an der Gefahrenquelle vorbei, so überwindet es meist sehr schnell seine Furcht.
Was geschieht in solchen Momenten? Wenn sich das Pferd erschreckt, spannt auch der Reiter unbewusst seine Muskeln an. Dies spürt das Pferd, fühlt sich in seiner Furcht bestätigt, und eine Reaktion zieht die nächste mit sich. Sobald beim Reiter der erste Schreck überwunden ist, setzt meist Ärger ein, die Reitermuskulatur kann sich wieder nicht entspannen, das Pferd beruhigt sich nicht.
Wenn der Mensch aber nun absteigt und ins Gesichtsfeld des Pferdes tritt, so ist bereits ein Grund zur Aufregung beseitigt: der Reiter im Sattel. Meist folgt das Pferd dem Reiter, den er als ranghöheres Herdenmitglied akzeptiert. Außerdem hat das Pferd nun einen „Schild“ vor sich, der vor der vermeintlichen Gefahr schützt. Die Anspannung ist verschwunden, der Mensch strahlt endlich die Ruhe aus, die das Pferd in solchen Momenten braucht, und gibt seinem Partner sogleich eine...