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Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft

To Have Or to Be?

AutorErich Fromm
VerlagEdition Erich Fromm
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl145 Seiten
ISBN9783959120029
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,99 EUR
Zu der kurzen Frage 'Haben oder Sein?' entwickelt Erich Fromm in diesem Buch eine tiefgründige Gesellschaftsanalyse, in der er zwei grundsätzliche Existenzformen herausarbeitet: die egoistisch-gewinnorientierte des Besitzens und Verfügens über Dinge und Menschen (Haben) und die altruistisch-solidarische des gebenden Erlebens (Sein). Fromm zeigt, dass unser gegenwärtiges Gesellschafts- und Wirtschaftssystem durch Egoismus, Selbstsucht und Habgier bestimmt ist und unweigerlich zerstörerische Folgen für Mensch und Natur mit sich bringt. Im zweiten Teil des Buches vermittelt er dem Leser durch viele Beispielen Ideen, wie er sich vom 'Haben' in Richtung 'Sein' und damit hin zu einem neuen Menschen entwickeln kann. Im dritten Teil von 'Haben oder Sein' beschreibt Fromm die Voraussetzungen für einen fundamentalen Wandel in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, um die gegenwärtigen Krise zu überwinden und von einer Orientierung am Haben zu einer am Sein zu gelangen. Aus dem Inhalt: Erster Teil: Zum Verständnis des Unterschieds zwischen Haben und Sein •Auf den ersten Blick •Haben und Sein in der alltäglichen Erfahrung •Haben und Sein im Alten und Neuen Testament und in den Schriften Meister Eckharts Zweiter Teil: Analyse der grundlegenden Unterschiede zwischen den beiden Existenzweisen •Die Existenzweise des Habens •Die Existenzweise des Seins •Weitere Aspekte von Haben und Sein Dritter Teil: Der neue Mensch und die neue Gesellschaft •Religion, Charakter und Gesellschaft •Voraussetzungen für den Wandel des Menschen und Wesensmerkmale des neuen Menschen •Wesensmerkmale der neuen Gesellschaft

Erich Fromm, Psychoanalytiker, Sozialpsychologe und Autor zahlreicher aufsehenerregender Werke, wurde 1900 in Frankfurt am Main geboren. Der promovierte Soziologe und praktizierende Psychoanalytiker widmete sich zeitlebens der Frage, was Menschen ähnlich denken, fühlen und handeln lässt. Er verband soziologisches und psychologisches Denken. Anfang der Dreißiger Jahre war er mit seinen Theorien zum autoritären Charakter der wichtigste Ideengeber der sogenannten 'Frankfurter Schule' um Max Horkheimer. 1934 emigrierte Fromm in die USA. Dort hatte er verschiedene Professuren inne und wurde 1941 mit seinem Buch 'Die Furcht vor der Freiheit' weltbekannt. Von 1950 bis 1973 lebte und lehrte er in Mexiko, von wo aus er nicht nur das Buch 'Die Kunst des Liebens' schrieb, sondern auch das Buch 'Wege aus einer kranken Gesellschaft'. Immer stärker nahm der humanistische Denker Fromm auf die Politik der Vereinigten Staaten Einfluss und engagierte sich in der Friedensbewegung. Die letzten sieben Jahre seines Lebens verbrachte er in Locarno in der Schweiz. Dort entstand das Buch 'Haben oder Sein'. In ihm resümierte Fromm seine Erkenntnisse über die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Am 18. März 1980 ist Fromm in Locarno gestorben.

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Leseprobe

Einführung:
Die große Verheißung, das Ausbleiben ihrer Erfüllung und neue Alternativen


Das Ende einer Illusion

Die große Verheißung unbegrenzten Fortschritts – die Aussicht auf Unterwerfung der Natur und auf materiellen Überfluss, auf das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl und auf uneingeschränkte persönliche Freiheit – das war es, was die Hoffnung und den Glauben von Generationen seit Beginn des Industriezeitalters aufrechterhielt. Zwar hatte die menschliche Zivilisation mit der aktiven Beherrschung der Natur durch den Menschen begonnen, aber dieser Herrschaft waren bis zum Beginn des Industriezeitalters Grenzen gesetzt. Von der Ersetzung der menschlichen und tierischen Körperkraft durch mechanische und später nukleare Energie bis zur Ablösung des menschlichen Verstandes durch den Computer bestärkte uns der industrielle Fortschritt in dem Glauben, auf dem Wege zu unbegrenzter Produktion und damit auch zu unbegrenztem Konsum zu sein, durch die Technik allmächtig und durch die Wissenschaft allwissend zu werden. Wir waren im Begriff, Götter zu werden, mächtige Wesen, die eine zweite Welt erschaffen konnten, wobei uns die Natur nur die Bausteine für unsere neue Schöpfung zu liefern brauchte.

Männer und in zunehmendem Maß auch Frauen erlebten ein neues Gefühl der Freiheit. Sie waren Herren ihres eigenen Lebens; die Ketten der Feudalherrschaft waren zerbrochen, sie waren aller Fesseln ledig und konnten tun, was sie wollten. So empfanden sie es wenigstens. Und obwohl dies nur für die Mittel- und Oberschicht galt, verleiteten deren Errungenschaften andere zu dem Glauben, die neue Freiheit werde schließlich allen Mitgliedern der Gesellschaft zugutekommen, wenn die Industrialisierung nur im gleichen Tempo voranschreite. Sozialismus und Kommunismus wandelten sich rasch von einer Bewegung, die eine neue Gesellschaft und einen neuen Menschen anstrebte, zu einer Kraft, die das Ideal eines bürgerlichen Lebens für alle aufrichtete: der universale Bourgeois als Mann und Frau der Zukunft. Leben erst alle in Reichtum und Komfort, dann, so nahm man an, werde jedermann schrankenlos glücklich sein. Diese Trias von unbegrenzter Produktion, absoluter Freiheit und uneingeschränktem Glück bildete den Kern der neuen Fortschrittsreligion, und eine neue irdische Stadt des Fortschritts ersetzte die „Stadt Gottes“. Ist es verwunderlich, [II-274] dass dieser neue Glaube seine Anhänger mit Energie, Vitalität und Hoffnung erfüllte?

Man muss sich die Tragweite dieser großen Verheißung und die phantastischen materiellen und geistigen Leistungen des Industriezeitalters vor Augen halten, um das Trauma zu verstehen, das die beginnende Einsicht in das Ausbleiben ihrer Erfüllung heute auslöst. Denn das Industriezeitalter ist in der Tat nicht imstande gewesen, seine große Verheißung einzulösen, und immer mehr Menschen werden sich folgender Tatsachen bewusst:

  • dass Glück und größtmögliches Vergnügen nicht aus der uneingeschränkten Befriedigung aller Wünsche resultieren und nicht zu Wohl-Sein (well-being) führen;
  • dass der Traum, unabhängige Herren über unser Leben zu sein, mit unserer Erkenntnis endete, dass wir alle zu Rädern in der bürokratischen Maschine geworden sind;
  • dass unsere Gedanken, Gefühle und unser Geschmack durch den Industrie- und Staatsapparat manipuliert werden, der die Massenmedien beherrscht;
  • dass der wachsende wirtschaftliche Fortschritt auf die reichen Nationen beschränkt blieb und der Abstand zwischen ihnen und den armen Nationen immer größer geworden ist;
  • dass der technische Fortschritt sowohl ökologische Gefahren als auch die Gefahr eines Atomkrieges mit sich brachte, die jede für sich oder beide zusammen jeglicher Zivilisation und vielleicht sogar jedem Leben ein Ende bereiten können.

Als Albert Schweitzer am 4. 11. 1954 zur Entgegennahme des Friedensnobelpreises nach Oslo kam, forderte er die ganze Welt auf: „Wagen wir die Dinge zu sehen wie sie sind. Es hat sich ereignet, dass der Mensch ein Übermensch geworden ist. (...) Er bringt die übermenschliche Vernünftigkeit, die dem Besitz übermenschlicher Macht entsprechen sollte, nicht auf. (...) Damit wird nun vollends offenbar, was man sich vorher nicht recht eingestehen wollte, dass der Übermensch mit dem Zunehmen seiner Macht zugleich immer mehr zum armseligen Menschen wird. (...) Was uns aber eigentlich zu Bewusstsein kommen sollte und schon lange vorher hätte kommen sollen, ist dies, dass wir als Übermenschen Unmenschen geworden sind.“ (A. Schweitzer, 1966, S. 118-120).

Warum hat sich die große Verheißung nicht erfüllt?

Dass sich die große Verheißung nicht erfüllt hat, liegt neben den systemimmanenten ökonomischen Widersprüchen innerhalb des Industrialismus an den beiden wichtigsten psychologischen Prämissen des Systems selbst, nämlich 1. dass das Ziel des Lebens Glück, d.h. ein Maximum an Lust sei, worunter man die Befriedigung aller Wünsche oder subjektiven Bedürfnisse, die ein Mensch haben kann, versteht (radikaler Hedonismus); 2. dass Egoismus, Selbstsucht und Habgier – Eigenschaften, die das System fördern muss, um existieren zu können – zu Harmonie und Frieden führen. [II-275]

Radikaler Hedonismus wurde bekanntlich in verschiedenen Epochen der Geschichte von den Reichen praktiziert. Wer über unbegrenzte Mittel verfügte, wie beispielsweise die Elite Roms und die der italienischen Städte in der Renaissance sowie die Englands und Frankreichs im 18. und 19. Jahrhundert, der versuchte, seinem Leben durch unbegrenztes Vergnügen einen Sinn zu geben. Doch obwohl dies in bestimmten Kreisen zu bestimmten Zeiten die gängige Praxis war, entsprang sie mit einer Ausnahme nie der Theorie des „Wohl-Seins“, die von den großen Meistern des Lebens in China, Indien, dem Nahen Osten und Europa formuliert worden war.

Die Ausnahme ist der griechische Philosoph Aristipp, ein Schüler des Sokrates (1. Hälfte des 4. Jh. v. Chr.), der lehrte, dass das Ziel des Lebens der Genuss eines Optimums an körperlichen Freuden sei, und dass Glück die Summe des genossenen Vergnügens sei. Das Wenige, was wir über seine Philosophie wissen, verdanken wir Diogenes Laertius, doch es reicht aus, um zu belegen, dass Aristipp der einzige radikale Hedonist war, für den die Existenz eines Verlangens die Basis für das Recht auf seine Befriedigung und damit für die Verwirklichung des Lebenszieles, der Lust, ist.

Epikur kann kaum als Vertreter dieser Art von Hedonismus, wie Aristipp sie vertrat, gesehen werden. Obwohl Epikur die „reine“ Lust als das höchste Ziel ansieht, bedeutet dies für ihn die „Abwesenheit von Schmerz“ (aponia) und „Seelenruhe“ (ataraxia). Laut Epikur kann Vergnügen im Sinne der Befriedigung von Begierden nicht das Ziel des Lebens sein, denn auf solche Lust folge zwangsläufig Unlust, und dadurch entferne sich der Mensch von seinem wahren Ziel, der Abwesenheit von Schmerz. (Epikurs Theorie weist viele Parallelen zu jener Freuds auf.) Dennoch scheint Epikur im Gegensatz zur Position des Aristoteles einen gewissen Subjektivismus vertreten zu haben, soweit die widersprüchlichen Darstellungen der Epikuräischen Philosophie eine endgültige Interpretation zulassen.

Keiner der anderen großen Meister lehrte, dass die faktische Existenz eines Wunsches eine ethische Norm konstituiere. Ihnen ging es um das optimale Wohl-Sein (vivere bene) der Menschheit. Das wichtigste Element ihres Denkens ist die Unterscheidung zwischen solchen Bedürfnissen (Wünschen), die nur subjektiv wahrgenommen werden und deren Befriedigung zu momentanem Vergnügen führt, und solchen Bedürfnissen, die in der menschlichen Natur wurzeln und deren Erfüllung menschliches Wachstum fördert, das heißt Wohl-Sein (eudaimonia) hervorbringt. Mit anderen Worten, es ging ihnen um die Unterscheidung zwischen rein subjektiv empfundenen und objektiv gültigen Bedürfnissen – wobei ein Teil der ersteren das menschliche Wachstum behindert, während letztere im Einklang mit den Erfordernissen der menschlichen Natur stehen.

Die Theorie, dass das Ziel des Lebens die Erfüllung eines jeden menschlichen Wunsches sei, wurde nach Aristipp unmissverständlich erstmals wieder von den Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts ausgesprochen. Diese Auffassung konnte leicht aufkommen, als das Wort „Profit“ aufhörte „Gewinn für die Seele“ zu bedeuten (wie in der Bibel und auch noch bei Spinoza) und stattdessen materiellen, finanziellen Gewinn bezeichnete. Dies geschah in jener Epoche, als das Bürgertum nicht nur seine politischen Fesseln abwarf, sondern auch alle Bande der Liebe und Solidarität, und zu glauben begann, wer nur für sich selbst sei, sei mehr er selbst, nicht weniger. Für [II-276] Hobbes ist Glück das ständige Weiterschreiten von einer Begierde (cupiditas) zur nächsten; La Mettrie empfiehlt sogar Drogen, da diese wenigstens die Illusion von Glück vermittelten; für de Sade ist die Befriedigung grausamer Impulse allein schon deshalb legitim, weil sie vorhanden sind und nach Befriedigung verlangen. Dies waren Denker, die im Zeitalter des endgültigen Sieges der bürgerlichen Klasse lebten. Was einst die unphilosophische Praxis der Aristokratie gewesen war, wurde nun zur Praxis und Theorie der Bourgeoisie.

Viele ethische Theorien sind seit dem 18. Jahrhundert entwickelt worden – teils angesehenere Formen des Hedonismus, wie der Utilitarismus, teils strikt antihedonistische Systeme wie...

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