1.
LIEBE DIE MENSCHEN
„Guten Abend, Brüder und Schwestern!“
Mit dem ersten Papst aus Lateinamerika hat in der römisch-katholischen Kirche eine neue Ära begonnen. Das hat sich schon in seiner ersten unmittelbaren Begegnung mit den Menschen gezeigt, am 13. März 2013 um 20.22 Uhr, als Jorge Mario Bergoglio auf der Loggia des Petersdoms in Rom erschienen ist. „Habemus papam“ war die Ankündigung – und gekommen ist ein Mensch wie du und ich. Einer, der sich von Anfang an nicht als eine abgehobene Autorität verstand, sondern dessen Name Programm ist: Franziskus, abgeleitet von Franz von Assisi. Ein „Poverello“ will er sein, ein Armer unter den Menschen, einer, der die Menschen mag, und einer, der staunen kann vor den Wundern dieser Welt, wie es Franz von Assisi in seinem berühmten und bis heute berührenden „Sonnengesang“ getan hat.
Mit seinen ersten Worten, mit seiner ersten kurzen Ansprache hat Papst Franziskus die Herzen der Menschen erobert, die auf dem Petersplatz versammelt waren:
„Brüder und Schwestern!
Guten Abend!
Ihr wisst, es war die Aufgabe des Konklaves, Rom einen Bischof zu geben. Es scheint, meine Mitbrüder, die Kardinäle, sind fast bis ans Ende der Welt gegangen, um ihn zu holen. … Aber wir sind hier. … Ich danke euch für diesen Empfang. Die Diözese Rom hat nun ihren Bischof. Danke. Zunächst möchte ich ein Gebet sprechen für unseren emeritierten Bischof Benedikt XVI. Beten wir alle gemeinsam für ihn, dass der Herr ihn segne und die Mutter Gottes ihn beschütze.
Und jetzt beginnen wir diesen Weg – Bischof und Volk –, den Weg der Kirche von Rom, die den Vorsitz in der Liebe führt gegenüber allen Kirchen; einen Weg der Brüderlichkeit, der Liebe, des gegenseitigen Vertrauens. Beten wir immer füreinander. Beten wir für die ganze Welt, damit ein großes Miteinander herrsche. Ich wünsche euch, dass dieser Weg als Kirche, den wir heute beginnen und bei dem mir mein Kardinalvikar, der hier anwesend ist, helfen wird, fruchtbar sei für die Evangelisierung dieser schönen Stadt.
Und nun möchte ich den Segen erteilen, aber zuvor bitte ich euch um einen Gefallen. Ehe der Bischof das Volk segnet, bitte ich euch, den Herrn anzurufen, dass er mich segne: das Gebet des Volkes, das um den Segen für seinen Bischof bittet. In Stille wollen wir euer Gebet für mich halten.
Jetzt werde ich euch und der ganzen Welt, allen Männern und Frauen guten Willens, den Segen erteilen. [Segen]
Brüder und Schwestern, ich verabschiede mich von euch. Vielen Dank für den Empfang. Betet für mich und bis bald! Wir sehen uns bald: Morgen möchte ich die Mutter Gottes aufsuchen und sie bitten, ganz Rom zu beschützen. Gute Nacht und angenehme Ruhe.“
Für mich ist es die wichtigste Voraussetzung für den Beruf und die Berufung des Priesters oder Bischofs – oder des Papstes, des Bischofs von Rom –, dass du die Menschen magst. Wir erleben das in der lateinamerikanischen Situation sehr deutlich. Es gibt eine gar nicht so geringe Zahl von jüngeren Priestern, die – ähnlich wie bei evangelikalen und pfingstlerischen Gemeinschaften – vor allem ihr Amt hervorheben. Sie verstehen sich als die aus dem Volk herausgenommenen Männer, die kraft ihrer Weihe die Sakramente spenden. Und es gibt die vielen anderen, ich nenne sie die Priester des Volkes. Das sind die, die bei den Menschen und mit den Menschen leben. Auch sie spenden die Sakramente, aber sie teilen mit dem Volk Gottes die Sorgen des Alltags. Sie verklären die Armut nicht zynisch, indem sie ein reiches Leben im Paradies des Jenseits versprechen.
Als ich zum Bischof der Diözese Xingu in Amazonien bestellt wurde, fragte ich vor der Bischofsweihe meine Leute, was sie von ihrem Bischof erwarten. Die Antwort der Laien, Frauen und Männer, die an der Versammlung teilnahmen, war: „Bitte, leite die Diözese nicht von einem Schreibtisch aus, sondern komm hinaus zu uns, damit du an deinem eigenen Leib erfährst, wie wir leben, was unsere Sorgen und Nöte sind, unsere Trauer und Angst, aber auch unsere Freude und Hoffnung.“ Ich kann einen Menschen nur wirklich lieben, wenn ich sein Umfeld kenne, wenn ich weiß, woher er kommt, wie er lebt und wohin er strebt.
Schon als Jesuit, als Priester, als Bischof und schließlich als Kardinal in Buenos Aires hat Jorge Mario Bergoglio diesen Geist der Geschwisterlichkeit gelebt. Das macht seine persönliche Glaubwürdigkeit aus. Für Papst Franziskus ist es kein PR-Gag, keine Show für die Fernsehkameras aus aller Welt, wenn er auf einer seiner Reisen mitten im Pulk offizieller Staatskarossen in einen mausgrauen Mittelklassewagen steigt. Es ist nicht für die „Auslage“, sondern es ist für ihn selbstverständlich, dass er beim Optiker nicht eine komplett neue Brille kauft, sondern nur Gläser mit der neuen Dioptrie in die alte Fassung einpassen lässt.
Der Zweck ist erfüllt, mehr ist nicht notwendig, denkt Franziskus, und vermittelt damit zwei Botschaften: Das Notwendige ja, das Überflüssige nein. Ich will – und muss in meinem Amt – gut sehen, aber ich bin kein Teil einer Konsum- und Wegwerfgesellschaft, die das ohne weiteres noch Brauchbare achtlos in den Müll wirft.
Ein Evangelium, das froh macht
Papst Franziskus ist ein Mensch, der eine frohe Gelassenheit ausstrahlt. Sie kommt aus einem Verständnis des Evangeliums, das zuerst die frohe Botschaft, die gute Nachricht sieht und erst darauf aufbauend die Konsequenzen, die sich in der Lebensführung als Rechte, aber naturgemäß auch als Pflichten daraus ergeben. Bei Franziskus besteht nie ein Zweifel, was er will, was er für menschenwürdig und erstrebenswert hält. Aber diese Haltung kommt nicht als eine von oben daher, als eine nur belehrende und fordernde, eventuell sogar mit erhobenem Zeigefinger.
Die Kirche war bis weit in das 20. Jahrhundert hinein in erster Linie die Hierarchie. Diese wurde als Mutter und Lehrerin der Gläubigen verstanden. Über die Stellung und Berufung der Laien in der Kirche gab es kaum theologische Abhandlungen. Die Laien waren so etwas wie Konsumenten dessen, was der Klerus ihnen vorsetzte, praktisch ohne Mitspracherecht. Unbedingter, sich unterwerfender Gehorsam der kirchlichen Obrigkeit gegenüber war gefordert.
Das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965) sieht nun an erster Stelle das Volk Gottes. In der Dogmatischen Konstitution über die Kirche „Lumen gentium“ ist nach einem einleitenden Kapitel über das Mysterium der Kirche das zweite große Kapitel dem Volk Gottes gewidmet. Erst im dritten Kapitel geht es um die Amtsträger, die nicht eine isolierte, abgehobene Kaste bilden, sondern im Dienste ebendieses Volkes Gottes stehen. Nach diesem dritten Kapitel über die Amtsträger kommt ein weiteres über die Laien. Es geht also nochmals um das Volk Gottes, denn das Wort Laie kommt ja vom griechischen laós (Volk) bzw. laikós (zum Volk gehörig). In diesem Kapitel steht dann auch der wunderbare Satz: „Wie die Laien Christus zum Bruder haben, der, obwohl aller Herr, doch gekommen ist, nicht um sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen (vgl. Mt 20,28), so haben sie auch die geweihten Amtsträger zu Brüdern“ (LG 32).
Es hat noch Jahrzehnte gedauert, bis diese Umkehrung der Verhältnisse Fuß gefasst hat. Wirklich vollzogen, intensiviert und gelebt wird dieses Kirchenbild von Papst Franziskus. Bereits in seinem ersten programmatischen Apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium“ über die „Freude des Evangeliums“ hat er mit Blick auf die Gläubigen geschrieben:
„Der heilige Thomas von Aquin betonte, dass die Vorschriften, die dem Volk Gottes von Christus und den Aposteln gegeben wurden, ‚ganz wenige‘ sind. Indem er den heiligen Augustinus zitierte, schrieb er, dass die von der Kirche später hinzugefügten Vorschriften mit Maß einzufordern sind, ‚um den Gläubigen das Leben nicht schwer zu machen‘ und unsere Religion nicht in eine Sklaverei zu verwandeln, während ‚die Barmherzigkeit Gottes wollte, dass sie frei sei‘. Diese Warnung, die vor einigen Jahrhunderten gegeben wurde, besitzt eine erschreckende Aktualität. Sie müsste eines der Kriterien sein, die in Betracht zu ziehen sind, wenn über eine Reform der Kirche und ihrer Verkündigung nachgedacht wird, die wirklich erlaubt, alle zu erreichen. (EG 43)“
Das erinnert an die Auseinandersetzungen, die Jesus mit den religiösen Autoritäten seiner Zeit geführt hat. „Sie legen den Menschen schwere Lasten auf“ (Mt 23,4), kritisierte er – und hielt sein Evangelium der Freude dagegen: „Meine Bürde ist leicht“ (Mt 11,30). Für Papst Franziskus kommt zuerst die Frohbotschaft. Alles andere folgt daraus, sofern es aus der prinzipiellen und bedingungslosen Heilszusage Gottes an den Menschen ableitbar ist.
Das Jahr der Barmherzigkeit
Ein konkreter programmatischer Ausdruck dieser Haltung...