Vorwort
»Was in der Jugend geschah, ist häufig die Folge von etwas, das sich im späteren Leben ereignete.«
Marten Toonder
Viel braucht es nicht, um Erinnerungen zu verändern. Manchmal reicht es schon, sie jemandem noch einmal zu erzählen.
In einer meiner frühesten Erinnerungen kommt meine Mutter in den Kindergarten, weil sie etwas mit der Erzieherin besprechen möchte. Die anderen Kinder sind schon nach Hause gegangen. Ich sitze neben der Kindergärtnerin auf der untersten Stufe der Treppe zum Spielplatz. Sie legt mir einen Arm um die Schultern, zieht mich kurz an sich und sagt zu meiner Mutter, sie würde mich gern noch ein Jährchen länger behalten.
Mehr als dieser Fetzen war es nicht. Ich hatte diese Erinnerung nie jemandem erzählt. Es gab keinen Anlass. Erst als ich um die dreißig war, kam das Gespräch einmal auf Kinder, die ein Jahr länger im Kindergarten blieben, und ich begann zu erzählen, auch ich sei ein Jahr länger geblieben, weil mich die Kindergärtnerin …
Da geriet meine Geschichte ins Stocken.
Da erst, während ich das erzählte, überlegte ich mit Schrecken: Aber das kann doch gar nicht sein, dass eine Kindergärtnerin ein Kind einfach ein Jahr länger bei sich behalten kann? Mitten im Satz dämmerte mir, dass dieses zusätzliche Jahr etwas mit der Schulreife zu tun gehabt haben musste; ich bin damals offensichtlich noch nicht reif genug gewesen!
Von einem Moment zum nächsten veränderte sich etwas in der Erinnerung, wie ein Kissen, das einen Knuff bekommt, damit es die passende Form annimmt. Jetzt ist der Erinnerung eine gewisse Scham beigemischt, das peinliche Gefühl, erst so spät begriffen zu haben, dass die Kindergärtnerin überhaupt nicht der Grund für die verlängerte Kindergartenzeit war.
Dass Erinnerungen einem solchen Knuff nachgeben müssen, ist vielleicht auch ihr Kern: Was eine Erfahrung oder ein Ereignis zu bedeuten hat, ist unter die Erinnerung gemischt, und mit einer neuen Interpretation des Erlebten verändert sich zugleich etwas in der Erinnerung. Die frühere Erinnerung an das Gespräch zwischen meiner Mutter und der Kindergärtnerin ist jetzt die Erinnerung daran geworden, wie ich mich einst daran erinnert habe, eine Erinnerung an eine Erinnerung, es ist nicht mehr die unversehrte Erinnerung von damals. Darum ist das Umschreiben und Abändern von Erinnerungen auch eine Form des Vergessens: In ihrem ursprünglichen Erleben sind die Erinnerungen nicht mehr länger zugänglich.
Frühe Erinnerungen scheinen mit Bleistift geschrieben zu sein. Man braucht seine erste Erinnerung nur ein paarmal erzählt zu haben, um zu merken, dass sie sich in eine Geschichte zu verändern beginnt. Es ist, als käme man nicht mehr an das ursprüngliche Erleben heran, als hätte die Umsetzung in Worte etwas verschwinden lassen. Aber auch die Erinnerungen von viel später, mit Tinte verfasst, bleiben empfindsam für das, was neue Interpretationen aus ihnen machen.
Als der in den Niederlanden berühmte Schriftsteller und Zeichner Marten Toonder Mitte siebzig war, baten ihn verschiedene Verleger, doch seine Autobiografie zu schreiben. Er zögerte. Die Vorstellung hatte ihm nie behagt. Allein schon das Nachdenken darüber bereitete ihm Unbehagen. Andererseits: Sein Vater hatte seine Autobiografie auch mit fünfundsiebzig geschrieben, wurde es nicht allmählich Zeit, in dessen Fußstapfen zu treten? Der Zweifel blieb. Was ihn bisher vor allem davon abgehalten habe, schrieb er 1986 in einem Brief an einen Zeichnerkollegen, sei, dass man bei einer Autobiografie wirklich nicht wisse, wo man anfangen solle. Eine gute Autobiografie sei mehr als eine Auflistung von Erinnerungen. Was einem im Leben geschehen sei, ist so miteinander verwoben, dass das, was man am Anfang schreibt, mit dem zu tun haben muss, was man in den darauffolgenden Kapiteln schreiben will. »Die Chronologie ist futsch«, ließ er seinen Kollegen wissen, denn »was in der Jugend geschah, ist häufig die Folge von etwas, das sich im späteren Leben ereignete«.[1]
Manche Sätze verdienen ein Buch.
Dass die Erfahrungen aus der Jugend dem Menschen, der man geworden ist, einen eigenen Stempel aufgedrückt haben, ist eine einfache Wahrheit. Was uns zu diesem einen, unverwechselbaren Individuum gemacht hat, bekam Form durch Kräfte, die in der persönlichen Vergangenheit auf uns eingewirkt haben. Aber die lässige Umkehrung, die Toonder dem gab, ist ebenso wahr: Was diese Erfahrungen gewesen sind, was sie für einen Menschen bedeutet haben, wie sie gedeutet werden mussten, hängt manchmal auch von dem ab, was man erst später im Leben versteht oder erfährt. Spätere Ereignisse oder Erkenntnisse können mit rückwirkender Kraft etwas in der eigenen Vergangenheit verändern.
Zeit wird oft mit einem Strom assoziiert. Ob dieser Strom nun gleichmäßig fließt, wie bei der Uhrzeit, oder mal beschleunigt und dann wieder verlangsamt, wie in der psychologisch empfundenen Zeit, es ist ein Strom, der in eine Richtung fließt. Was in diesem Strom vorbeigetrieben ist, kommt nicht mehr zurück. Vielleicht ist die Vorstellung der Zeit als ein Strom der Grund, warum wir bei Ereignissen in unserem eigenen Leben oder in dem anderer zuallererst an die Konsequenzen und Rückwirkungen für das später Kommende denken, so wie das, was stromaufwärts geschieht, auch Folgen für das Geschehen stromabwärts hat, aber nicht umgekehrt. Im Gedächtnis existiert diese Asymmetrie nicht. Darin erstrecken sich Konsequenzen immer in beide Richtungen der Zeit, sie verrücken nicht nur etwas in der Zukunft, sondern auch in der Vergangenheit.
Das Ereignis stromabwärts, Toonders »Vorfall im späteren Alter«, kann alles Mögliche sein. Jemand kann zu hören bekommen, er werde von einem Freund, Kollegen oder Partner betrogen und dieser Betrug dauere schon einige Jahre an. Das wird seine Erinnerungen an diese Zeit unsanft durchrütteln. In Missbrauchsfällen realisiert das Opfer manchmal erst im viel höheren Alter, was es in der Jugend wirklich erlitten hat. Was es als Kind bloß seltsam oder unverständlich fand, kann sich durch spätere Erkenntnisse in eine Erfahrung verwandeln, die noch nachträglich einen traumatisierenden Effekt hat. Menschen, die eine unsichere Jugend gehabt haben, können die Erinnerungen daran oft gerade dann am schwierigsten ertragen, wenn ihre Kinder in das Alter kommen, in dem sie selbst damals waren. Das zeigt ihnen eine neue Version ihrer eigenen Jugend, noch dunkler als die, mit der sie aufgewachsen sind. In all diesen Situationen kommt die Vergangenheit sozusagen hinterrücks wieder in Bewegung. Das neue Wissen führt dazu, dass eine ganze Serie von Erinnerungen ihre Gestalt verändert, und das kann über Jahre andauern.
In Halbe Wahrheiten geht es darum, was dieses Neuschreiben und Bearbeiten für die Zuverlässigkeit von Erinnerungen bedeutet – und vor allem: ob es überhaupt um die Zuverlässigkeit von Erinnerungen gehen kann. Die einzelnen Kapitel zeigen, dass sich in der Vergangenheit Registriertes und Gespeichertes nicht nur durch normales Vergessen verändert – durch das Verwischen von Spuren, das Zuwachsen von Pfaden, das Verschlicken von Rinnsalen –, sondern auch durch Erfahrungen im späteren Leben, die unseren Erinnerungen eine neue Bedeutung geben. Wenn es um unser Gedächtnis geht, sind die Begriffe Wahrheit und Lüge nicht sehr hilfreich: Erinnerungen können sich in unterschiedlichen Momenten im Leben widersprechen, ohne dass eine von ihnen unwahr zu sein braucht.
Manchmal weist ein DNA-Test nach, dass jemand einen anderen biologischen Vater hat, als er oder sie immer dachte, oder dass eines der Kinder von einem anderen gezeugt wurde. Das ist ein Ergebnis, das einem Menschen eine andere Lebensgeschichte geben kann. Wenn die Vermutung vor dem Test besteht, wie es oft der Fall ist, kann sich die persönliche Vergangenheit vorübergehend in verschiedene Versionen der Lebensgeschichte aufteilen, jeweils mit eigenen Erinnerungen und Interpretationen von Erinnerungen. Dass die Vergangenheit die Summe der Erinnerungen eines Menschen ist – auf den ersten Blick eine überzeugende Auffassung –, stimmt aber nicht.
Im Herbst 1995 musste sich der amerikanische Sozialarbeiter David Kaczynski der Wahrheit stellen, dass sein Bruder Ted der lang gesuchte »Unabomber« war, der in einer Terrorserie mit Briefbomben drei Menschen zu Tode gebracht und über zwanzig schwer verletzt hatte. Davids Erinnerungen – und die der Mutter Wanda – an ihre Vergangenheit mit Ted waren eine wichtige Informationsquelle für die forensischen Psychiater, die ihn begutachten sollten. Aber welchen Einfluss hatte das Wissen, dass er diese Verbrechen begangen hatte, auf ihre Erinnerungen an ihn? Was richtete das Bewusstsein, der Bruder oder die Mutter eines Serienmörders zu sein, in ihrem Gedächtnis an? Gab es überhaupt noch in ihrer ursprünglichen Form zugängliche Erinnerungen?
Die spätere Erkenntnis muss nicht immer eine dramatische Wirkung haben. Als ich nach rund vierzig Jahren die biblische Geschichte von Josef noch einmal las, stellte sich heraus, dass nicht mehr das zu lesen war, was früher dort stand. Erneutes Lesen kann einen solchen Effekt haben. Gerade weil der Text nicht verändert ist, verdeutlichen die Unterschiede zwischen dem erneut Gelesenen und dem, was dort laut Erinnerung stand, dem Leser etwas über die eigene Person. Sie konfrontieren ihn mit dem Menschen, der er einmal war und den er jetzt – mit der Distanz der dazwischenliegenden Jahre – sehen kann.
Der...