In Kapitel 1 wurde gezeigt, warum sich pädagogische Qualität von den Bedürfnissen des Kindes ableiten muss. Bevor in Kapitel 3 auf deren Umsetzung in der frühpädagogischen Praxis und Aufgaben der außerfamiliären Bezugspersonen eingegangen wird, sind zunächst entwicklungspsychologische Grundlagen zu klären, insbesondere die Fragen,
▶ was die die wichtigsten Entwicklungsschritte und Grundbedürfnisse von Kleinkindern sind
▶ wie sich Bindungsbeziehungen in den ersten Lebensjahren entwickeln
▶ welche Bedeutung Bindungsbeziehungen für die Stressregulation haben und
▶ wie sich die Erfahrungen in den ersten drei Lebensjahren auf die Gehirnentwicklung und die weitere Kompetenzentwicklung auswirken.
2.1 Entwicklung als Aufgabe
Das Verständnis der Entwicklung über den gesamten Lebenslauf ist ein Verdienst der Entwicklungspsychologie, aus der die sogenannte Psychologie der Lebensspanne hervorgegangen ist. Das Konzept stellt einzelne Entwicklungsabschnitte wie z. B. die frühe Kindheit und Entwicklungsthemen wie z. B. das Lernen in Zusammenhang mit der gesamten lebenslangen Entwicklung. Dies kommt auch beim »lebenslangen Lernen« zum Ausdruck (Baltes 1990; Oerter/Montada 2008). Ein Lebensspannen-Konzept umfasst alterstypische Entwicklungsaufgaben wie beispielsweise den Übergang von der Familie in die Kindertageseinrichtung, deren Bewältigung oder Nicht-Bewältigung die weitere Entwicklung maßgeblich beeinflussen kann. Von Geburt an stellt sich dem Individuum eine Reihe von Entwicklungsaufgaben, deren sukzessive, möglichst erfolgreiche Bewältigung als Grundlage für eine gesunde Entwicklung und als Basis für die Erlangung immer komplexer werdender Kompetenzen gesehen wird. Diese Entwicklungsaufgaben stehen in Zusammenhang mit der jeweiligen kulturellen Umwelt.
»Eine Entwicklungsaufgabe ist eine Aufgabe, die sich in einer bestimmten Lebensperiode des Individuums stellt. Ihre erfolgreiche Bewältigung führt zu Glück und Erfolg, während das Versagen des Individuums unglücklich macht, auf Ablehnung durch die Gesellschaft stößt und zu Schwierigkeiten bei der Bewältigung späterer Aufgaben führt« (Havighurst 1982, S. 2).
Sensitive Perioden nutzen
Innerhalb der Lebensspanne gibt es Zeiträume, die besonders geeignet erscheinen, bestimmte Lernprozesse oder Entwicklungsaufgaben zu bewältigen, sogenannte »sensitive Perioden«. Zwar bilden Entwicklungsaufgaben keine in sich abgeschlossenen zeitlichen Einheiten – sie können auch zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt bearbeitet werden und greifen zeitlich ineinander über. In den sensitiven Perioden erfolgt deren Bewältigung jedoch mit dem geringsten Aufwand. Die Anforderungen haben einen unterschiedlichen Verbindlichkeitsgrad; manche müssen unbedingt bewältigt werden (z. B. Kontrolle der Ausscheidungsorgane, soziale Kontaktfähigkeit, Spracherwerb), andere sind eher als Chancen zu sehen, die das Individuum ergreifen kann oder nicht. Schließlich gibt es Entwicklungsangebote, die für manche Individuen nicht realisierbar sind – sei es aufgrund mangelnder Kompetenz oder infolge familiärer und restriktiver sozioökonomischer Bedingungen.
Die gelungene Bewältigung von Entwicklungsaufgaben in einem Lebensabschnitt schafft die Grundlage für günstigere Entwicklungsbedingungen in den folgenden Lebensabschnitten (Waters/Sroufe 1983). Voraussetzung dafür, dass die alterstypischen Entwicklungsaufgaben gut bewältigt werden, ist jedoch die Erfüllung der seelischen Grundbedürfnisse. Im ersten Lebensjahr geht es vor allem um die Erfüllung des Grundbedürfnisses nach Bindung. Nach dem Aufbau der Bindungsbeziehungen stehen im zweiten und dritten Lebensjahr die Grundbedürfnisse nach Autonomie und Kompetenzerleben stärker im Vordergrund.
Alter | Aufgabenbereich | Aufgabe der Bezugsperson |
0 bis 3 Monate | Physiologische Regulation | Behutsame Pflegeroutinen |
3 bis 6 Monate | Handhabung von Spannungen | Sensitive, kooperative Interaktion |
6 bis 12 Monate | Aufbau einer effektiven Bindung | Erreichbarkeit Bereitschaft zu antworten |
12 bis 18 Monate: | Erfolgreiche Exploration | Sicherer Bezugspunkt |
18 bis 30 Monate | Individuation (Autonomie) | Nachhaltige Unterstützung |
Tabelle 2.1 Einteilung der Entwicklungsaufgaben (Waters/Sroufe 1983, zit. n. Oerter/Montada 1998, S. 123).
In der psychologischen und pädagogischen Fachsprache hat sich der Gebrauch des Fachbegriffs »Entwicklungsaufgabe« erweitert und meint immer das Zusammenwirken von individueller Leistungsfähigkeit, kulturellen Erwartungen und individuellen Zielsetzungen. Der positive, motivationale Charakter der Herausforderung wird betont, auf den das Individuum mit einem Zuwachs an Kompetenzen – mit Entwicklungsfortschritten – reagiert. Wichtig ist dabei, dass die Umwelt dem Entwicklungsstand angemessene Ressourcen zur Verfügung stellt, z. B. durch verlässliche Beziehungen und eine anregungsreiche Umgebung.
2.2 Körperliche und seelische Grundbedürfnisse
Auch wenn das Bild vom Kind heute die vielfältigen Kompetenzen, die Kinder von Geburt an mitbringen, und die beachtliche eigene Aktivität ihrer Bildungsentwicklung in den Vordergrund stellt, so sind Kinder gerade in den ersten Lebensjahren gleichzeitig auch sehr verletzbar und völlig von der liebevollen, beständigen Pflege und Versorgung durch vertraute Bezugspersonen abhängig.
Seit den Untersuchungen von René Spitz (1945) zum Hospitalismus wissen wir, dass die Befriedigung der physischen Grundbedürfnisse (Hunger, Durst, körperliche Hygiene, Schutz vor Kälte oder Hitze) nicht ausreicht, um eine gesunde Entwicklung von Kindern zu gewährleisten. Voraussetzung hierfür ist vielmehr eine angemessene Befriedigung der psychischen Grundbedürfnisse. Neugeborene, Säuglinge und Kleinkinder sind ganz auf die Befriedigung der Grundbedürfnisse durch ihre soziale Umwelt angewiesen. Nach den beiden amerikanischen Motivationsforschern Deci und Ryan (1995) unterscheiden wir dabei die drei psychischen Grundbedürfnisse Bindung, Kompetenzerleben und Autonomieerleben. Im weiteren Entwicklungsverlauf geht es bei der Befriedigung des Bindungsbedürfnisses um das Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit oder menschlicher Nähe. Werden die Grundbedürfnisse nach Bindung, Kompetenz und Autonomie ausreichend befriedigt, kann sich das Kind aktiv mit seiner Umwelt auseinandersetzen und die alterstypischen Entwicklungsaufgaben gut bewältigen.
Das Grundbedürfnis nach Bindung steht für das Bedürfnis, enge zwischenmenschliche Beziehungen einzugehen, sich sicher gebunden zu fühlen und sich als liebesfähig und liebenswert zu erleben. Dem Grundbedürfnis nach Kompetenz liegt der Wunsch nach einer effektiven Interaktion mit der Umwelt zugrunde, durch die positive Ergebnisse erzielt und negative verhindert werden können. Autonomie steht für das Grundbedürfnis nach freier Bestimmung des eigenen Handelns und selbstbestimmter Interaktion mit der Umwelt (Deci/Ryan 1992). Der Mensch hat die angeborene motivationale Tendenz, sich mit anderen Personen in einer sozialen Umwelt verbunden zu fühlen, in dieser Umwelt effektiv zu wirken und sich dabei persönlich als autonom und initiativ zu erfahren.
Elterliches Engagement
Gewährung von Freiheit und Wahlmöglichkeiten
In den ersten Lebensjahren sind Kinder darauf angewiesen, dass auch ihre psychischen Grundbedürfnisse von ihrer unmittelbaren sozialen Umwelt befriedigt werden. Das Grundbedürfnis nach Bindung wird zunächst von den Eltern beantwortet. Hierbei sind wiederum drei Aspekte grundlegend: elterliches Engagement, Struktur und Unterstützung von Autonomie. Elterliches Engagement steht für eine Beziehung zum Kind, die von Freude und Interesse am Kind geprägt ist, in der Gefühle offen ausgedrückt werden können und die Bezugsperson emotional und zeitlich verfügbar ist. Fehlendes elterliches Engagement reicht dagegen von mangelnder Feinfühligkeit bis zu Vernachlässigung und Misshandlung. Struktur wiederum ist notwendig, um die Kompetenz eines Kindes zu fördern. Sie umfasst an den Entwicklungsstand angepasste Herausforderungen, aber auch Hilfestellung beim Erwerb von neuen Strategien. Das Gegenteil von Struktur – Chaos – ist charakterisiert durch Unvorhersagbarkeit, Über- oder Unterstimulation, einem Mangel an Kontrolle und Unterstützung beim Erreichen von Zielen (Skinner/Wellborn 1994). Autonomie unterstützendes Verhalten beinhaltet die Gewährung von Freiheit und Wahlmöglichkeiten bei einem Minimum an Regeln, sodass eigene Ziele erkannt und verfolgt werden können. Autonomie wird auch als Entwicklungsschritt verstanden, als Übergang zu selbst reguliertem Verhalten (Deci/Ryan 1995), der jedoch nicht unabhängig von der Umwelt geschehen kann und somit sehr beeinflussbar ist (Ryan/Kuhl/Deci 1997). Die...