|13|1 Geschichte und Entwicklung der Psychoonkologie
Uwe Koch, Jimmie C. Holland und Anja Mehnert
Eine systematische Entwicklung der Psychoonkologie ist international ab Mitte der 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts zu beobachten. Die gravierenden Veränderungen im Gesundheitswesen (u. a. rasante medizintechnologische Entwicklungen, großer Wissenszuwachs, Verknappung der finanziellen Ressourcen, Veränderungen des Spektrums vieler Erkrankungen in Richtung auf chronische Erkrankungen) gingen auch einher mit wachsenden Ansprüchen der Patienten an die Gestaltung der Arzt-Patienten-Kommunikation. Das paternalistische Modell der Arztrolle verlor schrittweise an Bedeutung, Patienten entwickelten höhere Ansprüche im Sinne eines stärker patientenorientierten und von Partizipation geprägten Arztverhaltens. Diese Veränderung von Einstellungen tangierte auch den Umgang mit Krebs. Das vorher häufig tabuisierte und stigmatisierende Wort „Krebs“ wurde zunehmend im Kontext mit der Diagnose einer Krebserkrankung ausgesprochen und die mit dieser Diagnose verbundenen Gefühle der Patienten konnten häufiger angesprochen werden. Ein zweites Stigma, das die Berücksichtigung von psychologischen Aspekten einer Krebserkrankung lange einschränkte, betraf die negative Haltung gegenüber psychischen Problemen und psychischen Erkrankungen. Auch hier sind inzwischen deutliche Einstellungsveränderungen in der Bevölkerung im Sinne einer größeren Offenheit festzustellen.
In den letzten 30 Jahren entwickelte sich die Psychoonkologie zu einer Teildisziplin der Onkologie wie auch der psychosozialen Medizin. Sie kann sich inzwischen auf eine breite Basis gesicherten Wissens stützen und damit substantiell zur Versorgung von Krebspatienten beitragen. Das heute verfügbare breite Spektrum psychoonkologischer Interventionen reicht von Strategien zur Veränderung von mit einem Krebsrisiko verbundenen Lebensstilen im Sinne der Primär- und Sekundärprävention und zur Verbesserung des Gesundheitsverhaltens z. B. bei der Teilnahme an Krebsfrüherkennungsmaßnahmen über den Umgang mit psychischen Problemen im Zusammenhang mit einem erhöhten genetischem Krebsrisiko, Maßnahmen zur Reduktion psychischer Belastungen und Symptomkontrolle (insbesondere bezogen auf den Umgang mit Ängsten, Depression, Schmerz oder Fatigue) bis hin zum Umgang mit den psychosozialen Folgen bei Langzeitüberlebenden nach einer Krebserkrankung (Cancer Survivorship) oder den Umgang mit den psychologischen Aspekten der Palliativversorgung. Heute, zu Beginn des 3. Jahrtausends, ist die Psychoonkologie eine der am klarsten definierte |14|Subdisziplin innerhalb der psychosozialen Dienste im Krankenhaus und ein Modell für die erfolgreiche Anwendung von Verhaltens- und Sozialwissenschaften in der Medizin. (vgl. Holland & Weiss, 2010; Watson et al., 2014).
1.1 Die Entwicklung der Psychoonkologie im internationalen Raum
Holland und Weiss (2010) nennen in ihrer Darstellung der Geschichte der Psychoonkologie als Wurzeln u. a. die Thanatologie-Bewegung in den frühen Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts, Feinbergs Ansätze zur Psychotherapie mit sterbenden Patienten am Karolinska-Institut in Stockholm Mitte der 50er-Jahre, richtungsweisende Aktivitäten von Sutherland und anderen am Memorial Sloan-Kettering Cancer Center (MSKCC; Sutherland et al., 1952; Bard & Sutherland, 1955; Dyk & Sutherland, 1956) sowie von Shands und anderen am Massachusetts General Hospital in den USA (Shands et al., 1951; Abrams & Finesinger, 1953).
Als weitere wichtige Entwicklungen beginnend in den 60er-Jahren sind die Arbeiten von Elisabeth Kübler-Ross (1969) zur Kommunikation mit Sterbenden und Cecily Saunders (Saunders & Baines, 1991) im Rahmen der Londoner Hospiz Bewegung zu nennen. In den 1970er-Jahren beginnen erste, meist kleinere Gruppen psychoonkologische Aktivitäten in verschiedenen europäischen Ländern. Als Pioniere sind hier u. a. zu nennen: Christina Bolund in Stockholm, Kati Muszbek in Budapest, Margit von Kerekjarto in Hamburg, Darius Razavi in Belgien, Steven Greer gefolgt von Maggie Watson in London und später dann Peter McGuire in Manchester. Als weitere wichtige Entwicklungen sind das Project Omega von Avery Weisman (1993) und die Etablierung des WHO „Collaborating Center for Quality of Life Research“ ab 1987 mit Fritz van Damm und später mit Neil Aaronson zu nennen (vgl. Aaronson, 1987).
Zu Beginn der 1980er-Jahre begannen sich weltweit Fachgesellschaften im Bereich der Psychoonkologie zu formieren. Im Jahr 1982 wurde die British Psychosocial-Oncology Society (BPOS), 1985 die Canadian Psychosocial Society (CAPO) und 1986 die American Psychosocial Oncology Society (APOS) gegründet. In dieser Zeit entstanden auch in Deutschland zwei Fachgesellschaften (s.u.). Auf der internationalen Ebene wurde auf Initiative von Jimmie Holland 1984 zunächst die von der amerikanischen Psychoonkologie deutlich geprägte International Psycho-Oncology Society (IPOS) gegründet. Im Sinne eines europäischen „Gegengewichts“ entstand 1987 die European Psycho-Oncology Society (ESPO), die ab Ende der 80er-Jahre regelmäßig europäische Kongresse für Psychoonkologie veranstaltete. Nach dem elften und letzten Kongress der ESPO in Heidelberg (Kongresspräsidentin: Monika Keller) strukturierte sich die ESPO |15|Ende 2001 um. Aus der Fachgesellschaft für Individualmitglieder wurde eine Dachorganisation von Fachgesellschaften, die European Federation of Psycho-Oncology Societies (EFPOS), die aber wenige Jahre nach ihrer Gründung ihre Aktivitäten einstellte.
Unter der Federführung von IPOS wurde 1992 der erste Weltkongress für Psychoonkologie in Beaune durchgeführt (Kongresspräsident: Robert Zittoun). Es folgten Kongresse in Kobe (1995), in New York (1996) und 1998 erstmals in Hamburg (750 Teilnehmer, Kongresspräsident: Uwe Koch). Es schlossen sich Weltkongresse in Melbourne (2000), Banff (2003), Kopenhagen (2004), Venedig (2006), London (2007), Madrid (2008), Wien (2009), Quebec (2010), Antalya (2011), Brisbane (2012), Rotterdam (2013), Lissabon (2014) und Washington DC (2015) an.
Im Jahr 1983 erschien erstmals das Journal of Psychosocial Oncology. Herausgeber war James R. Zabora. Zentralere Bedeutung für das Fach erlangte die von Jimmie Holland und Maggie Watson ab 1992 herausgegebene Zeitschrift Psycho-Oncology. Stark zur Identitätsbildung hat weiterhin das 1989 erstmals von Jimmie Holland und Julia Rowland herausgegebene Handbook of Psycho-Oncology beigetragen, das inzwischen in der überarbeiteten dritten Auflage erschienen ist. Das Gleiche gilt für die von IPOS kontinuierlich vergebenen Forschungspreise: der Arthur M. Sutherland Award, der Bernhard Fox Memorial Award, der Hiroomi Kawano New Investigator Award und der Noemi Fisman Award for Lifetime Clinical Excellence.
Auch einzelne Publikationen haben das Bild der Psychoonkologie in der (wissenschaftlichen) Öffentlichkeit stark mitgeprägt. David Spiegel (1989) und Fawzy und Kollegen (1993) fanden bei unterschiedlichen Gruppen von Krebskranken (Brustkrebspatientinnen, Melanom-Patienten) bei Teilnahme an psychoonkologischen Interventionsprogrammen Vorteile bezüglich der Überlebenszeit. Diese Ergebnisse, die sich in den nachfolgenden Replikationsuntersuchungen so nicht bestätigen ließen, haben Diskussionen über psychoonkologische Themen weit über die Fachgrenzen hinweg hervorgerufen.
Aus der seit Mitte der 1990er-Jahre stark durch IPOS geprägten Weiterentwicklung der internationalen Psychoonkologie sind insbesondere noch einige weitere Aktivitäten zu nennen. So wurde Ende der 90er-Jahre die IPOS Psychosocial Academy gegründet. Sie bietet mit internationalen Dozenten vor jedem der inzwischen jährlich durchgeführten Weltkongresse ein umfangreiches Workshop-Programm an. Darüber hinaus ist das IPOS Multilingual Core Curriculum in Psycho-Oncology, ein webbasiertes mehrsprachiges Fortbildungsprogramm zu nennen. Systematisch strukturierte und didaktisch gut konzipierte Vorlesungen zu zentralen Themen der Psychoonkologie werden relevanten Zielgruppen in verschiedenen Sprachen angeboten. 2006 wurde unter dem Dach von IPOS die Fe|16|deration of Psycho-Oncology Societies begründet. Sie versteht sich als Austauschort der verschiedenen nationalen psychoonkologischen Fachgesellschaften.
1.2 Meilensteine der Entwicklung der Psychoonkologie in Deutschland
Die Entwicklung der Psychoonkologie in Deutschland ist auch vor dem Hintergrund des Entwicklung der Psychosozialen Medizin und hier insbesondere der Psychosomatik und der Medizinischen Psychologie zu verstehen (vgl. Weiner, 1990; Adler et al., 2011). Auf der...