Bewegung und Sprache im Kontext frühkindlicher Bildungsprozesse
Kindertageseinrichtungen – Krippen und Kindergärten – haben einen eigenständigen Bildungsauftrag. Sie sollen Kindern – in Ergänzung zu der Familie – optimale Entwicklungsbedingungen bieten und ihnen alle Kompetenzen vermitteln, die das Kind befähigen, jetzige und künftige Lebenssituationen möglichst selbstständig bewältigen und ihr Leben aktiv gestalten zu können. Die Diskussion über Bildungschancen im Elementarbereich und die Erkenntnis, dass durch den frühen Besuch von Kindertageseinrichtungen die Bildungskarriere von Kindern nachhaltig beeinflusst wird, führte dazu, dass innerhalb der im Kinder- und Jugendhilfegesetz verankerten Trias „Betreuung, Bildung, Erziehung“ das Gewicht von der Betreuung und Erziehung zunehmend auf die Bildung verschoben wurde.
Bildung – die Basis für lebenslanges Lernen
Die von allen Bundesländern herausgegebenen Bildungs-, Orientierungs- und Erziehungspläne für den Elementarbereich thematisieren Bildung unter dem Aspekt der Förderung grundlegender Kompetenzen und Ressourcen, die Kindern ein stabiles Fundament für ihre Entwicklung vermitteln und sie befähigen, ein Leben lang zu lernen.
Sprache und Bewegung werden dabei in allen Bildungsplänen als wesentliche Bildungsbereiche genannt, sie werden jedoch fast immer nebeneinander behandelt, auf die Verknüpfung beider Bereiche wird nur selten hingewiesen.
Das folgende Kapitel befasst sich mit der Bedeutung von Sprache und Bewegung im Kontext frühkindlicher Bildungsprozesse.
2.1Bildung von Anfang an
Die Sichtweise auf die ersten Jahre des menschlichen Lebens hat sich in den letzten Jahrzehnten rapide verändert. Die ersten Lebensjahre gelten heute als die Zeit, in der der Mensch die rasantesten Entwicklungsfortschritte macht. Als Beispiel können dabei der Erwerb der Sprache und Entwicklungsprozesse der Motorik herangezogen werden (vgl. Kap. 4). Zum Zeitpunkt der Geburt ist das Gehirn unreif, nur die Basisfunktionen sind ausgebildet. Die Sinnesorgane beginnen Signale, wie Berührungen, Sprache, Geräusche, Farben und Formen, aus der Umwelt aufzunehmen – erst diese Erfahrungen stoßen die Vernetzung im Gehirn an. Von den bei der Geburt angelegten 100 Milliarden Nervenzellen und ihren Verbindungen bleiben schließlich diejenigen erhalten, die durch Übung und Erfahrung aktiviert werden. Indem das Kind seine Sinne nutzt, entwickelt und differenziert es sie weiter aus.
Lernprozesse sind abhängig von Erfahrungen
Bewegung und sinnliche Wahrnehmung spielen von Geburt an eine wesentliche Rolle für die gesamte Entwicklung. Neugier und Erkundungsbereitschaft bilden die Basis für die Exploration der sozialen und materialen Umwelt. Das Kind ist von Geburt an fähig, Theorien zu bilden, die es durch das eigene Handeln überprüft, verwirft, bestätigt, modifiziert. Lernprozesse laufen selbst initiiert, selbst organisiert und erfahrungsabhängig ab (vgl. Zimmer 2008, 212).
2.2Zum Verständnis von Bildung
Bildung setzt bereits mit der Geburt ein, sie findet an unterschiedlichen Orten und unter verschiedenen Rahmenbedingungen statt. Dabei trägt die Gesellschaft eine große Verantwortung, denn die Bildungschancen von Kindern müssen unabhängig von den Zufälligkeiten ihrer Lebensorte, den sozioökonomischen und kulturellen Lebensbedingungen ihrer Familien sein. Um dies zu erreichen, haben sich Bund und Länder 2002 verpflichtet, sich über Wege und Ziele frühkindlicher Bildung in Kindertageseinrichtungen zu verständigen und für Deutschland allgemeinverbindliche Ziele aufzustellen (vgl. Schuster 2006, 146). Die Bundesländer haben daraufhin die Erarbeitung von Bildungsprogrammen in Auftrag gegeben (siehe Kap. 2.6).
Bildungschancen verbessern
Die nationale und internationale Forschung kann immer deutlicher belegen, dass frühkindliche Bildung, Erziehung und Betreuung die Bildungschancen des einzelnen Kindes verbessert und die Grundlage erfolgreicher Bildungsbiografien ist. In diesem Kontext geraten auch die pädagogische Arbeit und die Rahmenbedingungen in Kindertagesstätten in den Blick: So kann z. B. die Qualität des besuchten Kindergartens einen Unterschied im kindlichen Entwicklungsstand von einem Jahr verursachen (vgl. Tietze, Rossbach & Grenner 2005).
Anforderungen an die frühkindlichen Bildungsinstitutionen ergeben sich aus der zunehmenden kulturellen Verschiedenheit, der sozialen Komplexität und dem immer rasanteren gesellschaftlichen Wandel, der häufig mit tiefgreifenden Veränderungen der Familienstrukturen verbunden ist. Die Notwendigkeit, sich auf diese neuen Anforderungen einzustellen und die pädagogischen Konzepte den komplexen Erfordernissen anzupassen, trug dazu bei, dass auch das Verständnis von Bildung neu reflektiert wurde. Stand bisher eher die Auffassung im Vordergrund, Bildung sei ein individuumszentrierter Prozess, der durch die Eigenaktivität des Kindes ausgelöst und gesteuert werde und einer lernanregenden, die kindliche Entwicklung stimulierenden Umgebung bedürfe, so werden zunehmend die kontextuellen Rahmenbedingungen der Bildungsprozesse diskutiert (Gisbert 2004, 9 f.).
Bildung als Selbstbildung
Bildung als soziale Ko-Konstruktion
Die Vorstellung, Bildung sei in erster Linie Selbstbildung, die vom Kinde ausgehe und sich dem direkten Einfluss von Pädagogen und familiären Bezugspersonen entziehe, wurde abgelöst durch die Definition von Bildung als sozialer Ko-Konstruktion, d. h. als einem Prozess, der im sozialen und kulturellen Kontext stattfindet und an dem Kinder, Eltern sowie pädagogische Fachkräfte aktiv beteiligt sind (vgl. Fthenakis 2002, Gisbert 2004).
Bildung gestaltetet sich als ein sozialer Prozess, an dem die Kinder ebenso wie die Erwachsenen beteiligt sind. Es muss nach wie vor darum gehen, das Selbstbildungspotenzial der Kinder zu unterstützen, wichtig ist aber auch die anregende Begleitung durch den Erwachsenen, der dazu beiträgt, dass Kinder ihr Interesse an der Welt aufrechterhalten, dass ihre Neugier sich entfalten kann und dass sie vielfältige Gelegenheiten haben, ihr Wissen über die Welt selbstständig zu konstruieren.
Bildung in diesem Sinne ist geprägt durch Wilhelm von Humboldt, einen Klassiker der Pädagogik, der Bildung als „Aneignung der Welt“ verstand.
Sich bilden heißt, sich ein Bild von der Welt machen. Das bedeutet jedoch auch immer, sich ein Bild zu machen von sich selbst und von den anderen in dieser Welt (Merkel 2005).
2.3Eigenaktivität und Selbsttätigkeit
Verfolgt man die aktuelle Diskussion um die frühkindliche Bildung, dann fällt auf, dass bei der Frage nach den Kompetenzen, die Kinder in den ersten Lebensjahren erwerben sollen, vor allem sprachliche, kognitive oder lernmethodische Kompetenzen im Vordergrund stehen. So wird in der Dokumentation des Modellversuchs „Zum Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen“ der Bereich Bewegung überhaupt nicht erwähnt (Laewen & Andres 2002). Eine Erhebung der Förderbarkeit und Bedeutung kindlicher Kompetenzen beschränkt sich auf sprachliche, mathematische, kognitive Fähigkeiten und bezieht dann ergänzend die Aspekte Sozialverhalten, Interessen und Lernbereitschaft von Kindern ein (vgl. Rossbach & Weinert 2008).
Selbstbildungspotenzial unterstützen
Obwohl immer wieder betont wird, dass Bildung abhängig sei von der Eigenaktivität des Kindes und von Gelegenheiten, die es zum Selberentdecken motivieren, wird dabei die entscheidende Rolle der Bewegung beim Gewinn von Erfahrungen und Erkenntnissen nur vereinzelt angesprochen.
Die Auffassung von Bildung als aktiver Aneignung der Welt hat Konsequenzen für die konkrete Gestaltung von Bildungsprozessen. Es kann nicht darum gehen, Kindern bestimmte Sachverhalte „beizubringen“, Kinder müssen vielmehr an Lernprozessen selbst beteiligt werden, indem sie möglichst viel selbstständig handeln, entdecken, experimentieren, sich mit allen Sinnen beteiligen können.
Gerd E. Schäfer (2003, 33) betont in seinen Thesen zur frühkindlichen Bildung insbesondere die Bedeutung sinnlicher Erfahrungen: „Frühkindliche Bildung ist zunächst ästhetische Bildung. Frühkindliche Bildung ist auf die eigenen Wahrnehmungen des Kindes angewiesen.“
2.4Sinnliche Erfahrungen als Ausgangspunkt für Bildungsprozesse
Differenzierung der Wahrnehmung
Frühkindliche Bildung geht aus von der sinnlichen Erfahrung. Kinder lernen, ihre Wahrnehmungsfähigkeit auszudifferenzieren. Diese ist Ausgangspunkt für forschendes Lernen. Aus den Erfahrungen formen Kinder Erwartungen, Theorien, Hypothesen. Sie machen sich Vorstellungen über mögliche Zusammenhänge und überprüfen diese, indem sie die Dinge genauer untersuchen (vgl. Schäfer 2003, Zimmer 2008c).
Das Kind ergreift eine Rassel, bewegt sie hin und her, um ihr...