II. Wie wird Weltethos begründet?
Es gibt in der Praxis sehr verschiedene Begründungen für ein gemeinsames Ethos. Ich unterscheide sieben Begründungen: pragmatische, philosophische, kulturanthropologische, politische, juristische, physiologisch-psychologische und religionswissenschaftliche. Der »persönliche Hintergrund«, der den Leser interessieren dürfte, ist, wie in der Einleitung angemerkt, nicht autobiographisch zu verstehen (der dritte Band meiner Memoiren wird darüber genaue Auskunft geben), sondern »forschungsgeschichtlich«: als knappe Rechenschaft über Vorarbeiten und Vorereignisse. Es möge deutlich werden, dass es sich im Folgenden nicht um leichtfüßig ad hoc formulierte Thesen, sondern um lange und hart erarbeitete und in vielen Auseinandersetzungen erprobte Erkenntnisse handelt. Ich setze ein mit einer pragmatischen Begründung, die auf viele Weisen möglich ist. Als Beispiel wähle ich den in letzter Zeit durch allerlei Skandale erschütterten Sport.
1. Pragmatische Begründung:
Gelingt Zusammenleben ohne ethische Maßstäbe?
Persönlicher Hintergrund: Am Anfang dieser Überlegungen stand ein Vortrag über Sportrecht meines rotarischen Freundes Dr. Alfred Sengle, Gerichtspräsident und Syndikus des Deutschen Fußballbundes (DFB). Noch vor verhältnismäßig wenigen Jahren ein relativ bescheidener Teil des Rechtes, hatte sich das Sportrecht in jüngster Zeit massiv ausgedehnt: Für manche Sportarten umfasst das Sportrecht bereits ganze Bücher.
(1) Jedes Spiel – vom Schachspiel bis zum Fußball – bedarf der Regeln
Kein Fußballspiel ohne Spielregeln. Nur durch Spielregeln entsteht jener Raum der Freiheit, in dem sich das Spiel entwickeln kann. Und gerade Fußball zeigt, wie auch andere Mannschaftsspiele, dass nur durch die Einhaltung der Regeln ein gutes, faires, schönes Spiel zustande kommt. Regeln nicht als Belastung, sondern als Befreiung!
(2) Fairplay, ein regelgerechtes Spiel, setzt die Beachtung ethischer Normen voraus
Schiedsrichter, üblicherweise Muster von Fairness, haben in jüngster Zeit durch Korruption und Manipulation von Spielergebnissen einen bisher untadeligen Berufsstand unter Generalverdacht gebracht. Radrennfahrer und ihre medizinischen, sportlichen und psychologischen Betreuer lassen durch pharmazeutische Manipulationen nicht nur einzelne Vertreter des Radsports als Betrüger und Lügner erscheinen, sondern haben den Profiradsport als Ganzen als unsportlich, unfair, unmoralisch in Misskredit gebracht. Es geht hier nicht nur um Verletzungen des Sportrechts, das in den letzten Jahrzehnten immer detaillierter und komplizierter geworden ist, sondern um die Verletzung elementarer Grundwerte menschlichen Anstands: Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit, Solidarität, Humanität. Es geht um den Verrat an der Idee, dem Geist des Sports, der immer öfter kommerziellen Interessen geopfert zu werden droht.
(3) Der globale Sport braucht ein globales Ethos
Der Sport hat zwar eigene Regeln, braucht aber keine Sonderethik. Er braucht sich nur an die allgemeinen Grundsätze zu halten, die für alle Bereiche des Lebens – für Politik, Wirtschaft, Kultur, öffentliches und privates Leben – gelten. Diese ethischen Regeln, die sich in der Menschheit langsam durchgesetzt haben und von den verschiedenen religiösen und philosophischen Traditionen formuliert und angemahnt werden, verstehen sich in der heutigen säkularisierten, individualistischen und pluralistischen Welt vielfach nicht mehr von selbst. Sie müssen wieder neu zum Bewusstsein gebracht werden, angefangen bei Familie, Kindergarten und Schule.
(4) Die vier Imperative der Menschlichkeit finden auch im Sport ihre Anwendung
In meiner Rede zu »Welt-Sport-Ethos« habe ich diese vier Imperative folgendermaßen erklärt:
2. Philosophische Begründung:
Inwiefern spricht die Vernunft für ein Weltethos?
Persönlicher Hintergrund: Es war seit jeher meine Überzeugung, dass nicht nur die Religion, sondern auch die Philosophie ein gemeinsames elementares Grundethos der Menschen begründen kann und soll. Vor meinem Theologiestudium hatte ich in Rom mit Leidenschaft sechs Semester Philosophie studiert und über Jean-Paul Sartres Existenzialismus als Humanismus meine philosophische Lizentiatsarbeit geschrieben (1951). Nach meinem theologischen Doktorat habe ich mich eingehend mit Hegels Philosophie beschäftigt (vgl. »Menschwerdung Gottes« 1970). Seither habe ich mich immer wieder mit großen Philosophen der Moderne befasst. Und so habe ich denn schon 1978 in meinem primär philosophischen Buch »Existiert Gott? Antwort auf die Gottesfrage der Neuzeit« in einem Kapitel über »Grundvertrauen als Basis der Ethik« ausführlich begründet: Auch nichtreligiöse Menschen können ihr Leben an ethischen Werten orientieren. Alle diese Impulse gingen mit vielen anderen ein in das Buch »Projekt Weltethos« (1990).
(1) Voraussetzungen für das Projekt Weltethos in der Philosophie des 20. Jahrhunderts
Im Sinn des Pragmatismus von William James und John Dewey ließ sich der Standpunkt vertreten: Angesichts des weltanschaulichen Pluralismus soll man unlösbare Fragen vermeiden und keine Überwindung der rivalisierenden Weltbilder und Ideologien oder gar eine Einheit der Religionen anstreben. Vielmehr soll man, ungeachtet aller ideologischer Differenzen, durch die pragmatische Lösung dringender Probleme die Gegensätze zwischen den Weltbildern mildern. Dies könnte langfristig Gemeinsamkeiten auch und gerade im Ethos herstellen. Der Krieg der Weltbilder bzw. Ideologien sollte so jedenfalls befriedet werden.
(2) Wie erreicht man Übereinstimmung?
Das Projekt Weltethos ist offen für eine rationale Begründung der Ethik, wie sie etwa Karl-Otto Apel (von der analytischen Philosophie herkommend) und Jürgen Habermas (von der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule aus) unternehmen. Habermas versucht von der menschlichen Kommunikations- und Argumentationsgemeinschaft her Normen zu entwickeln, die auch in einer modernen Demokratie unbedingt gelten sollten: Die Vernunft ist Prinzip einer gewaltlosen Kommunikation. Auf argumentativem Weg soll in einem herrschaftsfreien Diskurs ein einigender gesellschaftlicher Konsens erreicht werden. Es besteht indes die Gefahr, dass die Modernisierung der Gesellschaft entgleist, die demokratische Bindekraft geschwächt und die vorausgesetzte Solidarität ausgezehrt wird. Religion, für die Frankfurter Schule ursprünglich ohne gesellschaftliche Relevanz, gewinnt so für Habermas immer größere Bedeutung: für eine Aufklärung über uns selbst bezüglich der Bedingungen, die unser Leben menschenwürdig und nicht trostlos machen.
– Rawls’ Konzept politischer Gerechtigkeit, verstanden als Fairness, konzentriert sich auf die Ebene des Rechts, von der er ethische Regeln deduziert. Das Weltethos aber bezieht von vornherein die ethische Dimension mit ein.
– Rawls abstrahiert bewusst von konkreten Kontexten und Situationen, bleibt generell und institutionell. Das Weltethos aber ist mehr konkret und individuell ausgerichtet.
– Rawls’ Theorie ist programmatisch säkularistisch und will, im Gegensatz gerade zu Habermas, religiöse Argumente aus der politischen Debatte ausschließen. Das Weltethos jedoch argumentiert zwar säkular, bleibt aber offen für die Religionen, ohne parteiisch zu sein gegenüber einer bestimmten Religion oder nichtreligiösen Weltanschauung.
– Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit beschränkt sich auf die nationale Perspektive; erst zwei Jahrzehnte später versuchte er, nicht ganz überzeugend, seine Theorie auch auf die Prinzipien und Normen des internationalen Rechts und der internationalen Beziehungen auszuweiten (vgl. J. Rawls, »The Law of Peoples«, New York 1999). Das Weltethos hat von vornherein eine globale Perspektive.
(3) Pragmatische Anerkennung
Nun könnte man die verschiedenen philosophischen Ethiken auf die ihnen zugrunde liegenden Normen hin untersuchen. Möglicherweise stimmen sie mit denen des Weltethos mehr oder weniger überein. Aber angesichts einer möglichen Uneinigkeit der Philosophen und angesichts der Abstraktheit ihrer von der Allgemeinheit meist kaum verstandenen ethischen Traktate empfiehlt Hans-Martin Schönherr-Mann, pragmatisch den empirischen Befund aus der Religionsgeschichte anzuerkennen: »Angesichts dessen, dass ein solches Konzept für ein Weltethos bereits vorliegt, dem obendrein die Vertreter der Weltreligionen auf ihrem Kongress 1993 in Chicago zustimmten, sollte man philosophisch eher prüfen, ob man den dort propagierten ethischen Orientierungen nicht zustimmen kann. Im Zentrum der Weltethos-Erklärung stehen nämlich folgende vier Prinzipien: Gewaltlosigkeit und Ehrfurcht vor dem Leben verbunden mit dem Gebot, nicht zu töten; Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung verbunden mit dem Gebot, nicht zu stehlen;...