Leseprobe VORWORT Wer waren die vielen Millionen Männer, die als Soldaten der Wehrmacht und Waffen-SS Hitlers unseligen Krieg um Weltmacht und Lebensraum führten? Sie kamen aus der »arischen« Mehrheitsgesellschaft der NS-Diktatur, aus allen Schichten, Regionen und Konfessionen. Jene, die überlebten, prägten anschließend die Nachkriegszeit als Unternehmer und Arbeiter, Beamte und Angestellte, Politiker und sogar wieder als Soldaten. Vor allem aber gehörten sie zu unseren Familien, waren sie unsere Väter, Großväter und Urgroßväter oder deren Brüder und Schwäger. Manche von ihnen leben noch, aber ihre Zahl nimmt Jahr für Jahr ab, und bald wird es nicht mehr möglich sein, sie persönlich zu befragen, ihnen zuzuhören oder auf ihr Schweigen zu stoßen. Noch trägt nahezu jeder nichtjüdische Deutsche und Österreicher ein Stück Erinnerung an die Soldatengeschichten im Zweiten Weltkrieg in sich, genährt durch die mündliche Überlieferung der Beteiligten oder ihrer nächsten Nachfahren. Für die Soziologen ist dieses »kommunikative« Gedächtnis - neben dem »kulturellen«, durch Bücher, Fernsehsendungen und Museen bewahrten - ein wichtiger Bestandteil unserer kollektiven Erinnerung an den Krieg. Doch was wissen wir von unseren Angehörigen, die mit der Waffe in der Hand für eine ungerechte, ja verbrecherische Sache kämpften? Was ist uns bekannt von ihrem Verhalten, von ihrem Denken und Fühlen im Krieg? Die Suche nach den Verwandten ist immer auch eine Suche nach uns selbst, ein Ausloten von Grenzen, Identitäten und Ambivalenzen. Neben Neugierde gehört auch Mut dazu, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen, zumal sie schmerzhaft sein kann: der geliebte Vater, Großvater ... Die Wegweiser und Markierungssteine dieser Suche sind verwittert und unzuverlässig. Oft sind alte Briefe und Fotos überliefert, die kaum zu dechiffrieren sind. Häufig aber bleiben nur die Nachkriegserzählungen, die wir verstehen, denen wir aber nicht trauen und nicht trauen können. Bis tief in die Enkelgeneration hinein sind sie noch präsent, die Geschichten vom Soldatsein. In ihnen ging es kaum um Kampf, Tod und Verbrechen, sondern in der Regel um gute Kameraden und kleine Abenteuer. Das Beschwiegene und Ausgeblendete war offensichtlich, aber nicht sichtbar. Die Ahnung, dass da noch viel mehr im doppelten Wortsinn Belastendes war, blieb allgegenwärtig und wurde bestärkt durch die seltenen Momente, in denen das selektive Erzählmuster durchbrochen wurde, in denen unterdrückte Segmente der Erinnerung, meist nur kurz und schnell wieder kontrolliert, an die Oberfläche drangen und sich in Worten und Emotionen äußerten. Welches Kind, welcher Enkel wagte zu insistieren und zu fragen: Was hast du selbst Schreckliches erlebt - und angerichtet? Warst auch du ein Nazi? Der Umweg über das öffentliche Geschichtsbewusstsein vom Krieg der Wehrmacht war lange Zeit wenig hilfreich. Das kollektive Gewissen der Aufbaugeneration sollte nicht durch das Bohren in den offenen Wunden eines verbrecherischen Krieges beunruhigt werden. Die Strafverfolgung sowie die wissenschaftliche und moralische Aufarbeitung konzentrierten sich auf die Haupttäter und dabei vor allem auf die engsten Gefolgsleute Hitlers aus Partei und SS, während die kompromittierten Vertreter der alten Eliten - Offiziere, Diplomaten, Ministerialbeamte, Juristen, Wissenschaftler, Unternehmer - bald nach den Nürnberger Prozessen wieder in Ruhe gelassen und gesellschaftlich rehabilitiert wurden. Die meisten Täter und Helfer der NS-Diktatur blieben unbehelligt. Für die riesige Mehrheit etablierte sich ein Opfernarrativ, gefördert durch zahlreiche Artikel und Filme, Reden und Romane: Ein Teufel namens Hitler habe mit seiner kleinen verbrecherischen Clique »die« Deutschen verführt und ins Unglück getrieben. Sinnbild dafür war das »heroische« Leiden und Sterben der von bösen Mächten erst in den Krieg gehetzten und dann im Stich gelassenen Landser. Dass deutsche Soldaten nicht nur Opfer, sondern auch Täter waren, wurde in dieser dominierenden Nachkriegserzählung ausgelassen. Die deutsche Geschichtswissenschaft hielt sich bei den Protagonisten der NS-Unrechtspolitik vornehm zurück und schenkte nachgeordneten Akteuren wie den einfachen Soldaten keine Beachtung. Seit den 1960er-Jahren wurden die kritischen Fragen nach deutschen Massenverbrechen und individuellen Verantwortungen lauter, doch die Historiker beschäftigten sich unter dem Einfluss der neuen Sozialwissenschaften inzwischen lieber mit überindividuellen Strukturen als mit Menschen. Das Bedürfnis der Öffentlichkeit nach leicht verständlichen Antworten wurde erst 1995 durch die Wanderausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944 « befriedigt. Sie fielen so schockierend aus, dass eine bis heute nachwirkende Debatte folgte. Die von Hannes Heer verantwortete Wehrmachtsausstellung erklärte ebenso suggestiv wie pauschal die gesamte Wehrmacht zum »marschierenden Schlachthaus« und alle ihre Soldaten zu NS- Tätern, die aus ideologischer Überzeugung massenhaft zu Kriegsverbrechern und Mördern geworden seien. Auch wenn die Ausstellung wegen gravierender Mängel durch eine neue, seriöse Version ersetzt werden musste, hat sie das Geschichtsbild von der Wehrmacht und ihren Soldaten nachhaltig geprägt. Sie hat Diskussionen angeregt - in der Gesellschaft, in der Wissenschaft, in den Familien. Inwieweit sie den Dialog mit den Beteiligten eher vergiftete als förderte, da sich nun jeder ehemaliger Wehrmachtsangehörige unter Generalverdacht gestellt sah, muss offen bleiben. Die historische Forschung jedenfalls profitierte vom Schub der öffentlichen Debatte. Auf die Frage, wie viele Soldaten an Kriegs- und NS-Verbrechen beteiligt waren, wusste sie allerdings keine Antwort - dieses Problem ist empirisch kaum zu lösen. Doch auch die Suche nach den Rahmenbedingungen, Wahrnehmungsmustern und Motivlagen, die aus dem »normalen« Handeln von Soldaten die Übergriffe und Exzesse in extremen politisch-ideologischen und militärischen Konstellationen werden ließen, gestaltete sich schwierig. Der Zeithistoriker, der den Biografien und Mentalitäten der einfachen Soldaten auf den Grund gehen will, stößt ebenso auf Quellenprobleme wie der nach der NS-Vergangenheit in seiner Familie fragende Nachgeborene. Die Militärakten besitzen einen anderen Fokus, die Nachkriegserinnerungen sind zigfach gefiltert, die Feldpost unterlag der Zensur und Selbstzensur, Tagebücher liegen selten vor. So war die Entdeckung der Vernehmungs- und Abhörprotokolle vieler Tausend deutscher (und italienischer) Kriegsgefangener in britischem und amerikanischem Gewahrsam ein Glücksfall, der Bewegung in die Erforschung der Soldaten unterhalb der bereits hinreichend untersuchten Generalselite bringt. Das Material erlaubt einen neuen Blick auf die Mentalität und das Rollenverständnis deutscher Soldaten. Hier sprechen Kameraden miteinander über den Krieg, kurz nach den Ereignissen, vermeintlich unter sich, daher ungeschützt und, trotz aller Anpassung an den Gesprächspartner, ohne die Rücksichten der Feldpost und gegenüber ihren Angehörigen. Eine Gruppe von Wissenschaftlern, geleitet vom Historiker Sönke Neitzel und dem Sozialpsychologen Harald Welzer, nahm sich der Auswertung dieses spektakulären Funds an. Das erste größere Resultat ihrer Arbeit war das gemeinsam von Neitzel und Welzer verfasste Buch Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, das 2011 erschien und für großes Aufsehen sorgte. Die Interpretation der beiden Autoren ist auf ihre Weise nicht weniger pointiert als die These der Wehrmachtsausstellung. Hannes Heer und sein Team orientierten sich an der historischen Sozialwissenschaft, für die das Denken und Handeln des Individuums durch die Gesellschaft und die in ihr vorherrschende Ideologie determiniert wird. Neitzel und Welzer argumentieren dagegen vor allem militärsoziologisch und sozialpsychologisch. Für sie ist die entgrenzte Kriegführung der Wehrmacht weniger in der NS-Ideologie als in der konkreten Lebenswelt und unmittelbaren Sinneswahrnehmung der Soldaten angelegt. Im Wettstreit der Paradigmen Intention versus Situation entscheiden sie sich für die handlungsleitende Bedeutung situativer Faktoren. Demnach wurden die deutschen Soldaten zu Tätern, weil sie Soldaten waren und sich im Referenzrahmen »Krieg« so verhielten, wie sich Soldaten unter vergleichbaren Bedingungen eben verhalten. Soldatische Gewaltpraktiken bis hin zu Verbrechen können über diesen Zugang als - quasi normale - anthropologische Konstanten und universale Automatismen gedeutet werden, verursacht durch situative und soziale Dynamiken. Folgt man dieser Sicht, so spielen ideologische Dispositionen und vorgeprägte Wahrnehmungen höchstens eine untergeordnete Rolle. Zeigen sich im Sonderbereich des Krieges tatsächlich stets dieselben soldatischen Verhaltensmuster, auch im Verüben von Verbrechen, dann verliert der Krieg der Wehrmacht seinen besonderen Charakter, sogar in seinen schlimmsten Auswüchsen an der Ostfront. Vereinfacht gesagt, werden die Soldaten nach der einen These zu Mördern, weil sie Nazis, nach der anderen, weil sie Soldaten sind. Solche generalisierenden Deutungsangebote fordern die Forschung zu Ergänzungen, Korrekturen und Differenzierungen heraus. So war es mit der fehlerbehafteten Wehrmachtsausstellung, und so ist es mit dem anregenden Soldaten-Buch von Neitzel/Welzer, das zwar auf ungleich höherem Niveau argumentiert, aber in seiner zuspitzenden Thesenfreudigkeit ebenfalls zum Widerspruch reizt. Es spricht für das innovative Potenzial und wissenschaftliche Selbstverständnis der von Neitzel und Welzer geleiteten Projektgruppe, dass jetzt einer ihrer Mitarbeiter die Diskussion auf eine neue Ebene hebt und dabei zu abweichenden Ergebnisse kommt. Das Buch von Felix Römer ist alles andere als ein Aufguss des Erfolgstitels Soldaten, es ist von ganz eigener Klasse und Originalität. Der Autor, seit seiner hochgelobten Dissertation zum »Kommissarbefehl« einer der besten Kenner der Wehrmacht, liefert dem Entwurf von Neitzel/Welzer die notwendige Feinarbeit nach, ohne die übergreifenden Fragen aus den Augen zu verlieren. Dass ihm dies gelingt, nötigt umso größeren Respekt ab, wenn man den Umfang des von ihm erstmals ausgewerteten Materials bedenkt: Die über hunderttausend Seiten an US-amerikanischen Vernehmungsberichten und Abhörprotokollen umfassen etwa zwei Drittel der britischen und amerikanischen Akten, die vom Mainzer Projekt ausgewertet werden. Man kann dieses Buch auf verschiedene Weise lesen - und wird doch stets alle Varianten verbinden, um ein Gesamtbild zu erhalten. Es ist erstens ein aufregendes Lesebuch mit neuen, hoch interessanten Selbstzeugnissen deutscher Soldaten, zweitens eine tiefgründige Mentalitätsgeschichte der Landser sowie der unteren und mittleren Offiziere bis zum Regimentskommandeur, drittens eine souveräne Zusammenfassung des Forschungsstands über die Wehrmacht. Der Leser wird mit den Bedingungen der Gefangenschaft und mit dem Abhörlager Fort Hunt in Virginia vertraut gemacht, erhält tiefe Einblicke in die politisch-ideologischen und militärischen Dispositionen, erfährt aus erster Hand vom Kitt der Kameradschaft sowie von der Verantwortung des Truppenführers und wird schließlich mit den Wahrnehmungen, Deutungen und Realien von Krieg, Kampf, Tod und Verbrechen konfrontiert. Der Autor behandelt das gesamte Spektrum der in den öffentlichen Debatten um die Wehrmacht teilweise mehr angerissenen als beantworteten Fragen. Er unterscheidet dabei genau zwischen den verschiedenen Kriegsschauplätzen, Waffengattungen, Truppenteilen und Diensträngen. Auch dadurch entgeht Felix Römer der Gefahr, den U-Boot-Kapitän im Atlantik, den Luftwaffenpiloten in Italien und den Panzergrenadier an der Ostfront in einen Topf zu werfen und alle individuellen oder kollektiven, funktionalen oder intentionalen Unterschiede mit dem alten Topos »Krieg ist Krieg« einzuebnen. Im erwähnten Meinungsstreit, ob Intention oder Situation als Treibsätze des Handelns deutscher Soldaten im Zweiten Weltkrieg höher zu veranschlagen seien, nimmt Römer eine mittlere und zugleich vermittelnde Position ein, die zwar nicht so spektakulär ist wie manche steilen Thesen, dafür aber umso größere Plausibilität besitzt. Das Reden der Soldaten vom Krieg lässt Rückschlüsse darauf zu, dass nicht nur die universelle Logik sozialer und situativer Zwänge das Verhalten bestimmte, sondern auch die Wirkungskraft kultureller Prägungen, gesellschaftlicher Deutungsmuster und individueller Standpunkte. Dem Handeln der Soldaten waren enge Grenzen gesetzt, umso niedriger der Rang desto mehr, doch innerhalb des vorstrukturierten Rahmens gab es graduelle Spielräume. Wie man sie nutzte, entschied häufig darüber, ob man in seinem Verantwortungsbereich die Regeln des »Normalkriegs« beachtete oder die kriminellen Freibriefe des »Vernichtungskriegs« umsetzte. Die größte Leistung des meisterlichen Buchs von Felix Römer liegt vielleicht darin, dass in ihm die deutschen Soldaten als denkende und handelnde Subjekte gezeigt und analysiert werden, nicht als bloße Objekte oder gar willenlose Roboter universaler Mechanismen. Die Rückkehr des Akteurs ist verbunden mit einer höheren Gewichtung seiner Individualität und damit auch seiner persönlichen, spezifischen und abgestuften Verantwortung für bestimmte Gewaltpraktiken. Das ist ein Plädoyer gegen das Verschwinden der Täter aus der geschichtlichen Betrachtung - und gegen die nivellierende und relativierende Legitimierungsfloskel, dass Krieg eben Krieg sei. Den deutschen Soldaten widerfährt Gerechtigkeit, indem ihre Selbstzeugnisse als Spiegel ihrer Mentalitäten und Erlebnisse ernst genommen werden - als Zeugnisse nicht allein passiven Erduldens, sondern auch aktiven, im Extremfall verbrecherischen Mitgestaltens. Das offene Gespräch mit unseren Verwandten, die der Wehrmacht oder Waffen-SS angehörten, das Gespräch, das uns die Augen für die Mentalität und das Geschehen in diesem schrecklichen Krieg geöffnet, das unser Verständnis für unsere Familienmitglieder und letztlich für uns selbst geschärft hätte, dieses Gespräch werden die meisten Leser nicht geführt haben und nicht mehr führen können, aus welchen Gründen auch immer. Die Überlagerungen des Erinnerns in den vielen Jahrzehnten, die seither vergangen sind, standen und stehen ohnehin gegen den Erkenntniswert dieser Kommunikation. Umso sprechender ist der vielstimmige Chor, der uns in diesem Buch entgegentritt. In ihrer teilweise schonungslosen Offenheit lesen sich die zeitnahen Äußerungen der Kriegsgefangenen wie Splitter der ungeführten Gespräche mit den ehemaligen Soldaten. Dieses Buch ist ein doppeltes Angebot. Es lädt dazu ein, über die klug abwägende Interpretation des Autors nachzudenken. Und zugleich konfrontiert es uns mit dem Originalton von Männern, die unsere Väter, Großväter und Urgroßväter sein könnten. Man sollte sich auf beides einlassen. Johannes Hürter München, im August 2012 I EINLEITUNG Onkel Kurt war der erste Erwachsene, den ich als Heranwachsender weinen sah. Onkel Kurt war eigentlich mein Großonkel, hieß Kurt Elfert, und zugleich war er der erste Wehrmachtsveteran, den ich kennenlernte. Als Jugendlicher besuchte ich ihn oft, wir spielten Schach und redeten, ich sah in ihm den Großvater, den ich nie hatte. Doch ein Wort reichte, und seine Fröhlichkeit verwandelte sich auf einen Schlag in namenlosen Kummer, dann sprach er nicht mehr, sondern bebte und weinte: Russland. Einmal erwähnte ich es in einem völlig anderen Zusammenhang, mein Bruder Flo reiste zum Schüleraustausch nach Sankt Petersburg. Doch das bloße Wort war schon zu viel, sofort schnürte sich in Onkel Kurt alles zusammen, und er rang um Fassung. Seine Erzählungen erstickten jedes Mal schnell in den Tränen. Um sich zu sammeln, bekundete er oft seinen Hass auf das Militär und seine Sympathie für das russische Volk. Doch was er erlebt hatte, erfuhr ich nie. Später sah ich auch andere alte Männer weinen. Einen von ihnen traf ich im Freiburger Militärarchiv, wo er auf der Suche nach seiner eigenen Geschichte war. Sein Weinen war jedoch anders als das von Onkel Kurt. In die entsetzlichen Erinnerungen an sterbende Kameraden und grauenhafte Nahkämpfe mit Bissen in Halsschlagadern mischte sich auch die stolze Selbstgewissheit, im östlichsten Panzer gefahren zu sein. Andere Wehrmachtsveteranen dagegen weinten nie. Unser Nachbar Günter zum Beispiel, warum auch. In seiner Erinnerung dominierte Vergnügliches, wie seine Liebschaft mit der Tochter des Standortkommandanten in Kiel. Ursprünglich wollte er zur Waffen-SS, wurde aber Etappensoldat und blieb es bis zuletzt, die Front sah er nicht ein einziges Mal. Ein anderer Günter, ein weiterer Verwandter, konnte sogar vom Kampf erzählen, ohne zu weinen. Seine Stimme veränderte sich auch nicht, als er beschrieb, wie er als junger SS-Soldat bei Kriegsende während der Schlacht um Wien mit seinem Gewehr Rotarmisten abschoss. Den Vater meines Vaters konnte ich dagegen nie nach seinen Erlebnissen fragen. Denn Erwin Römer fiel im Alter von 36 Jahren am 3. Mai 1945, nachdem er bereits im September 1939 zu den Waffen gerufen worden war. Niemand weiß, warum er im Oktober 1939 - wenige Wochen nach seiner Einberufung - die Aufnahme in die NSDAP beantragte.1 Und niemand kann sagen, wie er an jenem Morgen in dem kleinen bayerischen Ort Waging nahe des Chiemsees so kurz vor Kriegsende doch noch sein Leben verlor. Die Sterbeurkunde des Waginger Krankenhauses besagt nichts weiter, als dass er »verblutet (gefallen)« sei.2 Die ausführliche Pfarrchronik des Ortes verzeichnet unter dem fraglichen Datum keine Gefechte. Erwähnt wird einzig ein nächtlicher Fehlalarm »mit der Kirchenglocke« und »großer Streit« zwischen anwesenden SS-Truppen und anderen Wehrmachtseinheiten - um die Frage, ob der Ort noch verteidigt werden solle.3 Die ersten Einheiten der US Army erreichten Waging erst am Morgen des 4. Mai 1945, als Erwin Römer schon nicht mehr lebte.4 Außer seinem Soldatengrab blieben von ihm nicht viel mehr als ein paar dürre Daten, flüchtige Erinnerungen seiner Mitmenschen und das Porträtfoto in Uniform, das bis zuletzt im Wohnzimmer meiner Großmutter stand. Der Vater meiner Mutter hatte mehr Glück, und er hinterließ auch mehr Spuren. Werner Lamp, Jahrgang 1904, diente als Nachschub-Soldat in der Etappe, erst an der Ostfront, später in Afrika. Dort endete der Krieg für ihn schon im Mai 1943 in amerikanischer Gefangenschaft - ohne dass er wohl auch nur einmal an Kämpfen teilgenommen hatte. Anders als bei meinem erstgenannten Großvater existieren von Werner Lamp Berge von Dokumenten. Denn er schrieb fast jeden Tag nach Hause. Die Briefe zeigen: Mein Großvater ist durchaus stolz darauf gewesen, die Uniform der Wehrmacht zu tragen, und er hat sich auch innerlich »als Soldat gefühlt«.5 Seinen kleinen Sohn nennt er in den Briefen gerne seinen »großen Soldat-Kamerad«.6 Seine Tätigkeit in einer kilometerweit hinter der Front liegenden Nachschub-Einrichtung empfindet er als »eine schöne und verantwortungsvolle Arbeit«7, und er betont, er »tue es ja auch gern«.8 Hierzu trägt nicht zuletzt bei, dass er sich »ganz gut mit den Kameraden« versteht.9 Soldatenethos, Pflichtauffassung und Kameradschaft - sie zählten zu den stärksten Triebkräften, die das nationalsozialistische Militär in Gang hielten, und dies werden wir in diesem Buch noch öfter beobachten können. Politischer Linientreue bedurfte es hierzu gar nicht unbedingt. Tatsächlich war hiervon bei meinem Großvater, diesem älteren Wehrmachtssoldaten aus Hamburg-Altona, der Rudolf Steiners Anthroposophie anhing, kaum etwas zu spüren. In seiner eher national denkenden Familie blieb er damit jedoch weitgehend allein. Den größten Gegensatz zu ihm verkörperte das jüngste seiner neun Geschwister: sein Bruder Hermann, der von Hitler und dem Nationalsozialismus vollauf überzeugt war. Ausgerechnet ihn trifft Werner am 28. Oktober 1941 unvermutet in einem Soldatenkino an der Ostfront - bei der enormen Weite dieses Kriegsschauplatzes ein irrwitziger Zufall, über den sich beide »nicht genug wundern« und »darüber freuen« können.10 Um ihre Begegnung festzuhalten, stellen sich die beiden zu einem Erinnerungsfoto auf: Abb. 1: Zufallstreffen an der Ostfront, 28. Oktober 1941 Ein ungleiches Brüderpaar: Hermann trägt die Sonderuniform der elitären Panzertruppe, das Ordensband des Eisernen Kreuzes am Revers, das Verwundetenabzeichen auf der Brust - beides angesehene Auszeichnungen, die jedem zeigten, dass sich ihr Träger im Kampf bewährt hatte. Werners einfache Luftwaffenuniform dagegen ist schmucklos, ohne Orden. Trotz seines militärischen Pflichtbewusstseins - seiner Pose sieht man förmlich an, dass er dem grimmigen Bruder in seinem soldatischen Habitus noch deutlich nachstand. Das Foto der beiden versinnbildlicht, welche Widersprüche die Wehrmacht in sich vereinte. Das waren einige der Wehrmachtssoldaten aus meiner Familie. So individuell ihre Lebenswege im Einzelnen auch waren, in einer Hinsicht waren sie gewiss typisch: in der Diversität ihrer Biografien und ihrer Wege durch den Zweiten Weltkrieg - der Unterschiedlichkeit ihrer Erfahrungen, Schicksale und auch ihrer Art, das Erlebte zu bewältigen. In den meisten deutschen und österreichischen Familien wird sich zweifellos ein ähnlich vielfältiges Panorama feststellen lassen. Dieses Grundmuster wird uns in diesem Buch noch häufig begegnen: Die Wehrmacht war so vielschichtig wie die Gesellschaft, aus der sie sich rekrutierte. Und die Spannbreite der Verwendungen, Erlebnisse und ihrer Deutungen war so groß, dass sich geradezu gegensätzliche Soldatenbiografien ergeben konnten. Entsprechend starke Kontraste lassen sich finden. Und dies begann mitunter schon in ein und derselben Familie - so wie bei den beiden so ungleichen Lamp-Brüdern. Genauso typisch war, wie unterschiedlich die Wehrmachtsveteranen aus meiner Familie mit ihren Kriegserfahrungen umgingen. Die einen hatten sich schon als Soldaten so weit an die Gewalt gewöhnt, dass sie auch nachher mit der Erinnerung daran leben konnten. Die anderen hingegen konnten sich nie damit abfinden. Vielleicht der typischste Zug an der Kriegsgeschichte meiner Familie ist jedoch, wie wenig wir wirklich über sie wissen. Mein Großvater Erwin gehörte der Wehrmacht mit Unterbrechungen fast von Anfang bis Ende des Krieges an - doch außer seinem ersten Truppenteil und seinem letzten Dienstgrad liegt so gut wie alles davon im Dunkeln. Von meinem Großvater Werner blieben zwar Unmengen an Feldpostbriefen erhalten, doch an seine Frau schrieb er nur ganz bestimmte Dinge. Großen Raum nahm schon die Post selbst ein: das fiebrige Schreiben und Lesen, Versenden und Empfangen von Briefen und Päckchen. Dann die drei Kinder in der fernen Heimat, die Sorge um sie und die Frau, angesichts der zunehmenden Luftangriffe auf Hamburg. Schließlich der Dienstalltag in der Wehrmacht, die »Arbeit«, der »Betrieb«, die »Kameraden«, Essen, Wohlergehen, die » Natur«, das » spazieren gehen« in der Freizeit. Von dem, was den Krieg wirklich ausmachte, war dagegen fast nie die Rede - man merkt den Briefen nicht an, dass sie aus dem wohl blutigsten Konflikt der Menschheitsgeschichte stammen. Und genau das kennzeichnet die Feldpost: Die Soldaten schrieben sie nicht in erster Linie, um zu dokumentieren, was sie erlebten und wie sie darüber dachten. Sie schrieben vielmehr, um dem Frontalltag kurzzeitig entfliehen zu können, um im Moment des Schreibens bei ihren Familien sein zu können, um sich emotionale Unterstützung zu verschaffen. Im Gegenzug vermieden sie ihrerseits viele Themen, die ihre Familien beunruhigten. Dieser Tenor kehrt auch in den Briefen Werner Lamps an seine Frau immer wieder: »Du brauchst Dich wirklich nicht zu ängstigen.«11 »Ich will Dir das Herz gewiss nicht schwer machen.«12 Zensur und Selbstzensur bewirkten, dass die Feldpost eine Quelle von begrenztem Aussagewert blieb. Dies registrierten schon die Feldpostprüfstellen der Wehrmacht, die den Briefverkehr der Soldaten überwachten. Selbst in einem der dramatischsten Monate des Ostkrieges, dem Dezember 1941, ergab die Auswertung mehrerer Zehntausend Soldatenbriefe, dass »die meisten Briefe (etwa 93 %) stimmungsmäßig farblos« waren.13 In diese Kategorie fielen alle »Briefe, die nur eine Antwort auf erhaltene Briefe sind, in denen nur familiäre oder rein persönliche Dinge besprochen werden, die nur rein sachlich das Geschehen, die Lebensweise, die Unterkunft schildern, ohne dass in einem Satz wenigstens eine Stellungnahme des Briefschreibers zu diesen Dingen gegeben wird oder ohne dass eine solche aus dem Gesamtbild des Briefes geschlossen werden kann«. Diese Charakterisierung trifft zweifellos auch auf die meisten Feldpostbriefe von meinem Großvater Werner Lamp zu. Wie in der Feldpost hing es maßgeblich vom Adressaten ab, was für ein Bild die Soldaten von ihren Erlebnissen vermittelten. Besonders deutlich zeigte sich dies noch nach dem Krieg in der Familie von Onkel Kurt. Von 1941 bis Kriegsende diente er als Mannschaftssoldat an der Ostfront - doch wie er davon erzählte, wechselte mit den Gesprächspartnern.14 Im größeren Familienkreis, zum Beispiel auf Festen, gab er gerne Anekdoten zum Besten. Fast immer waren das leichte Amüsiergeschichten über kleine Ungehorsamkeiten oder nette Kameraden. Im engsten Familienkreis gegenüber seinen beiden Töchtern deutete er jedoch auch schwerere Erlebnisse an, bis er um Fassung rang und abwiegelte. Gegenüber seinem Sohn wiederum blieb er stets bei der leichten Version - zwischen Vater und Sohn ging das Gespräch über den Krieg niemals so weit, dass sein Sohn ihn auch nur einmal dabei um Fassung ringen sah. Anders als seine Töchter erfuhr sein Sohn bis zuletzt auch nichts von den Belastungen, die sein Vater aus Russland mitgebracht hatte: seinen lebenslangen Albträumen, der zeitweiligen Morphiumsucht und seiner unüberwindbaren Angst vor Wäldern. Selbst gegenüber seinen Töchtern brach Onkel Kurt jedoch das Gespräch stets rechtzeitig ab: Nur vor seiner Frau Gertrud und auch vor mir ließ er seinen Tränen freien Lauf, wenn die Sprache auf Russland kam. So existierten in ein und derselben Familie nebeneinander verschiedene Bilder vom Krieg. Welche dieser Versionen näher daran heranreichte, wie Onkel Kurt den Krieg als Soldat wirklich erlebt hatte, wird niemand mehr jemals ermessen können. Erinnerung findet immer in der Gegenwart statt, sie changiert mit der Zeit und je nach Bedürfnis, und entsprechend unzuverlässig ist sie oft.