Ängstlichkeit und soziale Unsicherheit
Einleitung
Während → Aggressivität und Gewalt sowie → Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen in der öffentlichen wie wissenschaftlichen Diskussion intensiv erörtert werden, stellen Ängstlichkeit und Angststörungen sowie → Depressivität scheinbar eher »versteckte«, deutlich weniger im Rampenlicht stehende Phänomene dar – vielleicht passend zu diesen Erscheinungen selbst. Ein Blick auf die epidemiologische Forschung offenbart eine erhebliche Schieflage, denn Angstproblematiken sind die häufigsten psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen (Ihle & Esser 2002). Zudem sind sie oft Vorläufer persistierender Angstproblematiken und auch späterer anderer Störungen.
Ein Blick in die Literatur zeigt, dass es zwar einige grundlegende Arbeiten zu diesem Thema gibt (Essau 2003; Krohne 2010; In-Albon 2011) – aber kaum eine pädagogische oder sonderpädagogische Auseinandersetzung.
Begrifflichkeit
Zu unterscheiden ist zunächst, ob es um Angst, Ängstlichkeit oder Angststörungen geht.
Angst stellt einen zentralen und grundlegenden menschlichen Affekt dar, der zum Leben gehört und den jede und jeder alltäglich erlebt. Fröhlich (1993, 56) definiert Angst als »allgemeine umfassende Bezeichnung für emotionale Erregungszustände, die auf die Wahrnehmung von Hinweisen, auf mehr oder weniger konkrete bzw. realistische Erwartungen oder allgemeine Vorstellungen physischer Gefährdung oder psychischer Bedrohung zurückgehen. A.-Zustände äußern sich in Gefühlen der Spannung bzw. Betroffenheit und gehen mit ausgeprägten autonomen Veränderungen einher«.
Zentrale Komponenten von Angst sind Aufgeregtheit (emotionality) und Besorgtheit (worry). Angst äußert sich auf verschiedenen Ebenen: physiologisch, im Verhalten, im Ausdruck (Mimik, Gestik, Körperhaltung), in der Sprache sowie im subjektiven Erleben – es handelt sich letztlich um ein Konstrukt, das »hinter« diesen Ausdrucksformen steht.
Ängstlichkeit hingegen ist nicht als ein Zustand zu verstehen, sondern als überdauernder Wesenszug: Eine Person reagiert besonders häufig, besonders stark und in vielen Situationen mit dem Affekt Angst. Dies kann, muss aber nicht mit einem besonderen Hilfebedarf verbunden sein.
Angststörungen sind gekennzeichnet durch das auf bestimmte Situationen beschränkte oder auch situationsunabhängige Auftreten massiver Ängste, welche die Funktionen einer Person erheblich einschränken und unter denen diese leidet. Internationale Klassifikationssysteme wie die → ICD-10 unterscheiden verschiedene Formen von Angststörungen (Essau 2003, 31 ff.). Besonders häufig treten bei Kindern und Jugendlichen Phobien auf, also abnorm starke, objekt- oder situationsbezogene Angstreaktionen. Aber auch Zwangsstörungen, Panikstörungen und Generalisierte Angststörungen, durch starke Ängste in verschiedenen Situationen gekennzeichnet, Störungen mit Trennungsangst sowie Posttraumatische Belastungsstörungen sind recht verbreitet (Essau 2003, 118 ff.).
Die kognitive Lernpsychologie hat das Konzept der »Sozialen Unsicherheit« oder des »sozial unsicheren Verhaltens« geprägt (Petermann & Petermann 2010). Hier handelt es sich um stark habitualisierte soziale Ängste mit Vermeidungstendenzen und Defiziten im Sozialverhalten.
Neben diesen Formen allgemeiner Angststörungen gibt es schulspezifische Problematiken: Schulangst kann aus leistungsbezogenen und aus sozialen Situationen heraus entstehen, jedoch, etwa im Falle von Mobbing und Gewalt, auch aus einer erlebten oder realen psychischen oder physischen Bedrohung, also als Existenzangst (Schwarzer 1993). Davon zu unterscheiden ist Schulphobie, die wissenschaftlich zumeist als besondere Form der Vermeidung von Schule verstanden wird, hinter der weniger Angst vor der Schule steht als vielmehr Ängste vor Trennung von den Eltern oder bestimmte familiäre Schwierigkeiten.
Den Angststörungen verwandt ist das Konzept der Erlernten Hilflosigkeit, welches auf die Forschung von Seligman (1995) zurückgeht. Er beschreibt, wie Tiere und auch Menschen Hilflosigkeitserfahrungen machen und generalisieren können: dass ihr Handeln keine Wirkung entfalten wird. Es entsteht ein Muster des Sich-selbst-Aufgebens mit dreifachem Defizit im Umgang mit situativen Herausforderungen: kognitiv, motivational und emotional. Das Konzept ist für sonderpädagogische Kontexte sehr bedeutsam.
Erklärungskonzepte und Merkmale
Erklärungskonzepte für Ängstlichkeit und Angststörungen kommen aus der Lernpsychologie (Ängste als gelernte Reaktionen), aus der Psychoanalyse (Ängste auf Basis der inneren Dynamik und der intrapsychischen Konflikte einer Person) und aus der Kognitionspsychologie (Ängste auf Basis der Erwartung von kaum bewältigbaren Bedrohungen und auf Basis der Bewertung von Situationen als bedrohlich).
Pädagogisch hilfreich können zentrale Merkmale von Ängstlichkeit sein, die Krohne (1996, 291 ff.) zusammengestellt hat und die auch auf Angststörungen übertragen werden können – Ängstlichkeit ist demnach gekennzeichnet durch
• starke und häufige, automatisiert erscheinende, erlernte Angstreaktionen in ganz unterschiedlichen oder auch spezifischen Situationen;
• verstärkte Erwartungen, dass bestimmte situative Ereignisse unangenehme und negative Folgen haben – wobei es durch solche Erwartungen zur stärkeren Wahrnehmung von Bedrohungen kommt;
• die Erwartung, das eigene Verhalten könne wenig zur Kontrolle der Konsequenzen einer Situation beitragen (»externale Kontroll-Überzeugung«);
• die Selbsteinschätzung, dass es an Fähigkeiten fehle, ein möglicherweise erfolgreiches Kontrollverhalten überhaupt auszuüben oder die in bedrohlichen Situationen ausgelösten Gefühle regulieren zu können – und schließlich häufig, wenn auch durchaus nicht immer
• eine tatsächlich geringere Kompetenz zur Ausführung eines effektiven Bewältigungsverhaltens nach außen hin oder auch im Hinblick auf das Regulieren der eigenen Emotionen.
Diese Merkmalsliste soll durch zwei bedeutsame Aspekte ergänzt werden:
• starke innere Spannungen, die oft aus bisherigen Lebenserfahrungen heraus auf-gebaut wurden, also eine Art Grundpotenzial zu Aufgeregtheit und Besorgtheit, eine »existenzielle Angst« (Seitz & Rausche 2004, 282 ff.);
• das Auftreten von starker Angst gerade in solchen Situationen, in denen individuelle Werte der Person eine besondere Rolle spielen, also das, was ihr wichtig ist (Krohne 1996).
Beurteilung und Förderung
In pädagogischen Situationen wird sich oft das Problem ergeben, Angstproblematiken zu erkennen. Pädagoginnen und Pädagogen können sich hier nur an den Manifestationsmöglichkeiten orientieren, also an Körper- und Verhaltensmerkmalen sowie dem mehr oder weniger direkten Selbstausdruck von Angsterleben. Die Schwierigkeiten des Erkennens spiegeln sich in der nach wie vor defizitären öffentlichen Berücksichtigung dieser Probleme wider. Über das Erkennen hinaus wird es aber auch wichtig sein zu beurteilen, auf welchem Weg die Angst entstanden ist, um mit einer gezielten Förderung ansetzen zu können.
Zur Förderung wurden mittlerweile verschiedene Programme entwickelt; das Spektrum ist allerdings sicher nicht so breit wie für Aggressionsproblematiken. Ein »Klassiker« ist das über dreißig Jahre auf dem Markt befindliche, aber immer wieder aktualisierte »Training mit sozial unsicheren Kindern« (Petermann & Petermann 2010). Jüngeren Datums sind das australische »FRIENDS«-Programm (Barrett, Lowry-Webster & Turner 2000a; b) mit seiner deutschen Version FREUNDE (Essau & Conradt 2003a; b) sowie das Programm »Gesundheit und Optimismus« (GO; Junge, Neumer, Manz & Margraf 2002). Fast alle vorliegenden Programme sind als Trainings konzipiert und stark kognitiv-behavioral ausgerichtet (siehe zu Überblick und Kritik Stein 2012).
Für pädagogisches Alltagshandeln sind Trainings nur beschränkt hilfreich und mit Skepsis zu betrachten. Am Beispiel des Feldes Schule kann eine Förderung grundsätzlich an zwei Punkten ansetzen (Stein 2012, 134 ff.):
• Die Gestaltung des Lernfeldes kann so angelegt werden, dass der Entstehung erheblicher Ängste und Angstproblematiken entgegengewirkt wird: durch Schaffung eines günstigen Klimas und Umganges in der Lerngruppe, durch Transparenz der...